Was zuletzt geschah:
Die Katze ist aus dem Sack, Erik weiß über Marco und Drago Bescheid. Ganz freiwillig hat Marco diese Information nicht herausgerückt, aber möglicherweise kann er nun endlich vollends nach vorne blicken.
Kapitel 48
„Ende November also“, sagte Marco.
„Ende November“, bestätigte seine Schwester. „Ich hätte lieber gewartet, bis das Baby aus dem Gröbsten raus ist, aber Giovanni fällt ja jetzt schon die Decke auf den Kopf. Und ehrlich gesagt können wir es uns auch nicht leisten, so lange auf sein Einkommen zu verzichten.“ Sie hob ihre Tasse an die Lippen, seufzte und stellte sie zurück auf die Küchentheke, ohne daraus getrunken zu haben. „Du ahnst gar nicht, wie sehr ich mich darauf freue, endlich wieder einen ordentlichen Kaffee trinken zu dürfen. Ich kann keinen beschissenen Tee mehr sehen.“
„Giulia!“, protestierte Marco lachend. „Früher hast du gedroht, mir den Mund mit Seife auszuwaschen, wenn ich solche Worte in den Mund nehme.“
Sie winkte ab. „Früher habe ich auch keine Bowlingkugel vor mir hergeschoben. Außerdem muss ich es ausnutzen, ohne Bianca unterwegs zu sein. Erst hat sie ewig kein Wort gesprochen und jetzt hört sie gar nicht mehr auf. Plappert alles nach, was sie aufschnappt. Ich muss echt höllisch aufpassen, was ich in ihrer Nähe sage. Meine Principessa ist das beste, was mir je passiert ist, aber ich bin heilfroh, sie gelegentlich an Giovanni abschieben zu können.“
Seit Giovanni seinen Job verloren hatte, verbrachte er seine neugewonnene Freizeit hauptsächlich damit, sich zuhause nützlich zu machen. Er liebte seine Tochter und genoss es sichtlich, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, im Stillen hatte er Marco jedoch vor einigen Wochen gestanden, wie sehr es ihn belastete, Giulia zusätzlich zur Schwangerschaft die Last der Alleinverdienerin aufzuhalsen.
Wobei es Giulia durchaus zu gefallen schien, auch mal Abstand von Kind und Haushalt nehmen zu können. Wenn Marco seine Nichte sehen wollte, musste er schon bei ihr vorbeikommen. Besuchte Giulia hingegen ihn, zog sie es vor, allein hereinzuschneien, oft spontan, direkt nach der Arbeit, auf einen Schluck zu trinken und ein paar ausgetauschte Neuigkeiten.
Dann saßen sie wie heute an seiner Küchentheke, eine Tasse Tee in der Hand – aus Solidarität verzichtete Marco bei dieser Gelegenheit ebenfalls auf Kaffee – und quatschten über alles, was sie gerade beschäftigte. So wie jetzt über Giulias anstehenden Umzug. Na, zumindest hatten sie mit dem Umzug angefangen und sich von dort zu Schimpfwörtern, Biancas Wortgewandtheit und den Freuden einer Schwangerschaft vorgearbeitet.
„Ich kann kaum glauben, dass Bianca schon zwei wird“, sagte Marco.
„Die Zeit verrennt. Außer, man ist schwanger, hat geschwollene Beine, Sodbrennen, und darf weder Kaffee trinken, noch Cola, noch ein Glas Wein am Abend. Dann stolpert die verfluchte Zeit über ihre eigenen Füße.“
Marco öffnete den Mund für eine Erwiderung, die ihm vermutlich einen Tritt gegen sein Schienbein eingebracht hätte, als die Türklingel schrillte. „Jetzt bin ich aber gespannt.“ Abgesehen von Giulia gab es niemanden, der spontan vorbeischaute.
Zehn Sekunden, nachdem er die Tür geöffnet hatte, wusste er allerdings, wer ihn besuchte. Der Klang der Schritte unverkennbar, nur stürmischer als sonst. Gehetzt.
Als Drago am unteren Treppenabsatz erschien, öffnete Marco den Mund, um zu fragen, ob alles in Ordnung war, aber Drago kam ihm zuvor. „Ich habe einen Job!“
Marco entschied, dass es Wichtigeres gab, als Drago nach Einzelheiten zu löchern. Zum Beispiel, ihn in die Arme zu ziehen und zu küssen, bis ihnen beiden die Luft wegblieb.
„Mein Architekturbüro übernimmt mich“, erklärte Drago ein wenig atemlos, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten.
„Jetzt doch? Ich dachte, sie hätten die Stelle anderweitig ausgeschrieben.“
„Das dachte ich auch. Heute habe ich sie darauf angesprochen und gefragt, ob ich mich darauf bewerben darf.“
„Und?“, fragte Marco.
„Nein“, antwortete Drago. „Die Stelle war nie für mich gedacht. Das Projekt, an dem ich zuletzt mitgearbeitet habe–“
Marco erinnerte sich. Drago hatte wochenlang Überstunden geschoben, die er strenggenommen nicht hätte machen dürfen und die deshalb natürlich auch unbezahlt blieben.
„–lief so gut, dass wir expandieren. Ich habe die Ausschreibung für eine zusätzliche Stelle mitbekommen. Es war immer geplant, mich zu übernehmen. Unter der Voraussetzung, dass ich mein Studium bestehe und eine Arbeitserlaubnis bekomme, kann ich danach nahtlos eine Vollzeitstelle antreten.“ Er hielt den Umschlag hoch, den er schon die ganze Zeit umklammerte. „Sie haben mir sogar schon den Arbeitsvertrag mitgegeben.“ Sein Lächeln weitete sich. „Zusätzlich habe ich für zwei andere Bewerbungen eine Einladung zum Vorstellungsgespräch erhalten. Eine Stelle wäre sogar in Stuttgart. Ich habe noch nicht entschieden, ob ich hingehe, aber es ist eine Erleichterung, zu wissen, dass ich andere grundsätzlich mit meiner Leistung überzeugen kann.“
„Das ist fantastisch!“ Erneut zog Marco Drago für einen Kuss zu sich, lang und intensiv und deutlich unbeschwerter als in den Wochen zuvor.
„Gestern habe ich bei dem Anwalt angerufen, dessen Nummer du mir gegeben hast“, fuhr Drago fort, nachdem Marco seinen Mund wieder freigegeben hatte. „Wir haben einen Termin für nächste Woche vereinbart, bei dem wir auch das Finanzielle klären. Er hat versprochen, dass wir dafür eine Lösung finden. Ich weiß nicht, wie du das angestellt hast, aber … dank dir habe ich eine echte Chance.“
„Nah, das ist kaum mein Verdienst.“ Keine falsche Bescheidenheit, sondern die reine Wahrheit. Den Job hatte Drago seinen eigenen Leistungen zu verdanken und der Kontakt zum Anwalt stammte von Erik. Was Marco vermutlich möglichst bald zugeben sollte, bevor es am Ende beim Termin aufkam und Drago auf dem völlig falschen Fuß erwischte. Allerdings nicht jetzt. Jetzt wollte sich Marco einfach nur zusammen mit ihm freuen, indem er die Hände hinter seinem Nacken verschränkte, ihre Lippen miteinander versiegelte und die Wärme des Körpers genoss, der sich gegen seinen presste.
Neben ihnen räusperte sich jemand. Porco dio, Marco hatte Giulia komplett vergessen!
Diese betrachtete die beiden amüsiert. „Soll ich abhauen?“
Ruckartig richtete sich Drago auf, brach den Kontakt zwischen ihm und Marco.
„Äh“, sagte Marco eloquent.
„Ich bin Giulia“, half diese nach, bevor Marco seine Zunge wiederfand. „Marcos Schwester.“
„Drago.“ Er erwiderte ihr Lächeln mit einem knappen Nicken, nicht direkt unhöflich, aber doch merklich reserviert. „Es tut mir leid, dass ich reingeplatzt bin. Ich wollte nicht stören.“ An Marco gewandt sagte er: „Ich gehe dann.“
Marco verkniff sich den Versuch, ihn zum Bleiben zu überreden, egal wie gerne er die wundervollen Nachrichten mit ihm und Giulia gefeiert hätte. Die Situation behagte Drago offensichtlich nicht, er wirkte angespannt und schien einen Fluchtweg zu brauchen. So sollte kein erstes Treffen zwischen ihm und Marcos Familie – zumindest dem Teil, der seine Partner grundsätzlich kennenlernen wollte – ablaufen. Anstatt zu protestieren, begleitete Marco Drago also auf den Hausflur und zog hinter sich die Tür zu, allerdings ohne das Schloss einschnappen zu lassen. „Soll ich dich nachher anrufen?“, bot er an. „So in ein, zwei Stunden?“
„Ich würde lieber vorbeikommen.“
Marco grinste. Es gefiel ihm, dass Drago seine Bedürfnisse so offen kommunizierte, und es gefiel ihm noch mehr, wenn sie mit seinen übereinstimmten. „Das kannst du gerne tun. Ich gebe dir Bescheid, sobald Giulia weg ist.“ Er zupfte an Dragos Kragen, um ihm zu signalisieren, dass er sich runterbeugen sollte. Sich für einen Kuss auf die Zehenspitzen zu stellen, kratzte zu sehr an seinem Ego. „Bis später.“
Zurück in seiner Wohnung, begrüßte ihn der neugierige Blick seiner Schwester. „So. Erzähl.“
„Das war Drago“, erwiderte Marco.
„Ja, danke. Die Schwangerschaft beeinflusst nicht mein Hörvermögen. Seid ihr …“ Sie wedelte vage mit der Hand.
„In der Phase, die man ‚kompliziert‘ nennt.“
Giulia kräuselte die Nase. „Sah von hier aus nicht besonders kompliziert aus.“
„Ein paar offene Punkte gibt es schon.“
Aufmerksam hörte Giulia zu, als Marco ihr die Situation erklärte. Jedenfalls den Teil mit der Aufenthaltserlaubnis. Seine Unfähigkeit, sich seine Gefühle einzugestehen und – noch wichtiger – sie Drago gegenüber auszusprechen, ließ er unter den Tisch fallen.
Am Ende seiner Erzählung lehnte sich Giulia seufzend gegen die Küchentheke. „Das ist ja richtig doof. Aber du hast ihm einen Anwalt besorgt? Du? Woher hast du denn auf einmal solche Kontakte?“
„Über Erik“, gab Marco zu. „Ich weiß, ich weiß. Ist schräg, seinen Ex dazu zu benutzen, dem Neuen zu helfen.“
„Hast du das denn getan?“, fragte Giulia. „Erik benutzt? Oder hat er es von sich aus angeboten, einfach weil er möchte, dass es dir gut geht? Oder auch nur, weil er es unfair findet, dass jemand, der jahrelang hier gelebt und studiert hat, wieder weg muss, obwohl er gerne bleiben würde?“
„Das klingt schon ziemlich nach Erik“, räumte Marco ein.
Giulia lächelte. „Natürlich tut es das. Der Junge hat ein warmes Herz, andernfalls wärst du doch niemals mit ihm zusammengekommen. Wenn du jemanden magst, dann weiß ich immer, dass das ein toller Mensch sein muss. Ich bin sicher, das gilt auch für Drago.“ Sie stand auf. „So, jetzt lasse ich dich allein, damit du deinen Freund anrufen und zu dir holen kannst.“
Tja, eine angelehnte Tür schützte eben nur bedingt vor neugierigen Ohren.
„Kommt doch demnächst mal zum Essen vorbei“, schlug Giulia vor, während sie ungelenk in ihre Schuhe schlüpfte. Marco widerstand der Versuchung, ihr zu helfen. Ihr Babybauch mochte ihr das Schnürsenkelbinden erschweren, ihm eine mitgeben, wenn er allzu mitleidig mit ihr umging, schaffte sie mit Sicherheit dennoch. „Ich will Drago richtig kennenlernen.“
„Ich frage ihn“, erwiderte Marco, ganz und gar nicht überzeugt, wie dessen Antwort ausfallen würde. Gerade eben hatte er sich offensichtlich mehr als unwohl gefühlt und Marco konnte nicht einschätzen, ob ihn Giulias Anwesenheit schlicht überrumpelt hatte, oder ihm der Gedanke, Marcos Familie zu treffen, generell nicht behagte. Nun, das würde er bald herausfinden.
Giulia verabschiedete sich mit einer festen Umarmung und einem Kuss auf die Wange. Keine zwei Minuten später rief Marco bei Drago an.
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In der ersten Stunde sprachen die beiden kaum miteinander, hauptsächlich, weil ihre Lippen mit anderen Dingen beschäftigt waren. Am Ende brach Dragos Stimme unter keuchendem Stöhnen. So sehr Marco dessen Bemühungen schätzte, zu vorgerückter Stunde nicht übermäßig laut zu sein, liebte er es umso mehr, ihn ganz bewusst an den Punkt zu bringen, an dem ihm das nicht länger gelang. Die Nachbarn würden es verkraften.
Nun teilten sie sich das deutlich zu kleine Bett, Marco gegen die Wand gelehnt, Dragos Kopf in seinem Schoß. Mit gezieltem Druck fuhr Marco über Dragos Nacken, seine breiten Schultern und die trainierten Oberarme; massierte seine Muskeln, bis sie sich weich und entspannt anfühlten. Was sich recht schwierig gestaltete.
Während Drago sonst häufig unter Marcos Händen einschlief, wälzte er sich heute rastlos von einer Seite auf die andere. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen und Marco hatte einen Verdacht, was es sein könnte. „Sorry, dass ich dich vorhin nicht wegen meiner Schwester gewarnt habe. Als du gesagt hast, dass du einen Job hast, habe ich einfach alles andere vergessen.“
Erneut drehte sich Drago, jetzt allerdings, um Marco anzusehen. „Ich hätte anrufen sollen, anstatt bei dir reinzuplatzen.“
„Nah, ich habe kein Problem mit spontanem Besuch. Vor allem nicht von dir.“
„Mein Verhalten ist mir trotzdem unangenehm“, sagte Drago langsam. „Ich war überrascht und überfordert und ich denke, dass ich unfreundlich gewirkt habe. Das ist nicht der erste Eindruck, den ich hinterlassen wollte. Ich würde deine Schwester gerne kennenlernen, wenn ich besser darauf vorbereitet bin.“
Marcos Herz führte wieder diesen kleinen Tanz auf, bei dem es zwei Takte übersprang und danach umso motivierter quer durch seine Brust hüpfte. Ein Rhythmus, den Drago ihm beigebracht hatte. „Giulia hat schon vorgeschlagen, wir sollen mal zum Essen bei ihr vorbeischauen.“
Dragos Mundwinkel zuckten, ein klares Zeichen, dass ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss, den er nicht laut aussprach.
„Muss kein Essen sein“, sagte Marco. „Kaffee tut’s auch. Oder ich koche, und wir treffen uns hier bei mir.“
„Wir könnten bei schönem Wetter im Park grillen“, schlug Drago nach kurzem Zögern vor. „Daniel und ich machen das im Sommer gelegentlich.“
Überrascht und glücklich darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit – nein, Mühe – Drago Pläne schmiedete, um Marcos Familie kennenzulernen, küsste er ihn. „Das klingt gut.“ Von Dragos positiver Reaktion ermutigt, wagte er es, gleich das nächste Thema anzusprechen, das ihm unter den Nägeln brannte. „Ich würde dir auch gerne Manni und Hugo vorstellen. Du weißt schon, die beiden Besitzer vom Bunten Tässchen.“
„Die dich damals bei sich aufgenommen haben. Ich weiß. Du erzählst oft von ihnen.“
„Tue ich das?“ Verlegen rieb sich Marco über den Nacken. „Naja, die beiden sind wichtig für mich. Jedenfalls … wäre es okay, wenn wir mal bei ihnen vorbeischauen?“
„Ja.“ Mehr hatte Drago nicht zu sagen, aber das brauchte er auch nicht. Seit ihrem gemeinsam gefassten Entschluss, dieser Beziehung eine Chance zu geben, hatte er kein einziges Mal den Eindruck erweckt, nicht voll hinter seiner Entscheidung zu stehen.
Daniel hatte die Neuigkeit erwartungsgemäß gelassen aufgenommen – manchmal fragte sich Marco, wie sehr sie ihn wirklich überrascht hatte – und auch Dragos übrige Freunde schienen gut damit umzugehen. Dass sich ihre Beziehung teilweise weiterhin im Verborgenen bewegte, lag eher an Marco.
Er wusste selbst nicht genau, weshalb er so zögerte, Drago seinen Liebsten vorzustellen. Seine Ausrede, zunächst mit Erik reden zu wollen, damit dieser nicht unerwartet durch jemand anderen davon erfuhr, war inzwischen jedenfalls passé. Allerdings auch nur, weil Erik die Wahrheit aus ihm herausgekitzelt hatte. Andernfalls hätte Marco bei ihrem Telefonat vermutlich gekniffen und kein Wort über das Thema verloren.
Was also hielt ihn davon ab, ihre Beziehung offiziell zu machen? Und, angelehnt daran, weshalb kam ihm das Wort ‚Liebe‘ weiterhin nicht über die Lippen, ganz egal, wie wild sein Herz in Dragos Nähe hämmerte, wie oft sich Bilder ihrer gemeinsamen Zukunft in seine Tagträume schlichen?
Marco spürte, dass er sich der Antwort auf seine Frage näherte. Bisher waren es eben Träume und wenn Drago nicht in Deutschland leben konnte, oder ihre Beziehung aus völlig anderen Gründen in die Brüche ging, so wie seine und Eriks, dann würde es bei Träumen bleiben. Umso schmerzhafteren, je näher er sie an die Realität kommen ließ. Während Drago also all jene Risiken akzeptierte, die ihre ungewisse Zukunft mit sich brachte, und damit völlig gegen seine ureigensten Bedürfnisse handelte, drückte sich Marco davor.
Kein Wunder, dass sich Drago rastlos wälzte. Marco hatte ihn im Stich gelassen. Er schuldete ihm und sich selbst die Ehrlichkeit und den Mut, laut auszusprechen, was sein Herz ihm seit Wochen zuflüsterte. „Ich liebe dich.“
Drago erstarrte mitten in der Bewegung. Wie in Zeitlupe drehte er sich zu Marco, musterte ihn aus blassen Augen. „Sagst du das, weil du denkst, ich erwarte es?“
„Allein, dass du mich das fragst, zeigt mir, dass ich bisher nicht der Freund war, der ich hätte sein sollen.“ Marco beugte sich für einen Kuss nach unten, kollidierte dabei jedoch um ein Haar mit Drago, der sich abrupt aufsetzte. Ohne ein Wort zu verlieren, verschwand er ins Badezimmer.
Cazzo! Wie hatte Marco es dieses Mal verkackt? Er zwang sich, durchzuatmen. Es gab absolut keinen Grund, sich jetzt schon den Kopf zu zerbrechen. Sofern er wirklich etwas verbockt hatte, würde Drago ihm das gleich auf seine gewohnt unaufgeregte Art mitteilen. Es lag ihm nicht, Dinge, die ihn störten, lange schwelen zu lassen.
Augenscheinlich tief in Gedanken kehrte Drago wenige Minuten später zurück. Er sank auf die Matratze, den Rücken zu Marco, den Blick nach vorne gewandt, die Arme auf den Knien abgestützt.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte Marco, nachdem sich sein Schweigen unerwartet lange zog.
„Nein.“ Drago war wieder dazu übergegangen, seine Hände zu malträtieren, so wie damals auf dem Berggipfel. „Nichts Falsches.“ Er schielte über seine Schulter. „Du meinst es ernst? Dass du mich liebst?“
„Sì. Sonst hätte ich es nicht gesagt.“
Der Anflug eines Lächelns erschien auf Dragos Lippen, schaffte es jedoch nicht, über den Schmerz in seinen Augen hinwegzutäuschen. „Damit machst du es mir nicht leichter.“
Instinktiv rutschte Marco näher zu ihm, schlang die Arme um seinen Bauch, wie um ihn an Ort und Stelle zu halten. „Sag mir, was los ist.“
„Mit dem Jobangebot stehen meine Chancen, in Deutschland zu bleiben, besser. Besser, nicht sicher. Es sind weiterhin keine hundert Prozent. Falls es nicht klappt, falls ich gehen muss, habe ich die Wahl, ob ich für den Rest meines Lebens einen Teil von mir verstecke und das hier“, Drago legte seine Hand auf Marcos, „für immer verliere, oder mich der Enttäuschung meiner Familie stelle.“
Eine Entscheidung, die Marco sehr gut kannte. Trotz ihrer bitteren Konsequenzen würde er sie jederzeit wieder fällen. Das bedeutete nicht, dass Drago das ebenfalls tat.
„Wenn ich nicht gehe“, setzte Drago an, brauchte allerdings einen Moment, um den Gedanken fortzuführen. „Wenn ich hierbleibe, sehe ich meine Familie mit Glück einmal im Jahr. Ich habe mit meiner Nichte seit ihrer Geburt unter einem Dach gelebt, fast jeden Tag auf sie aufgepasst. Ich habe sie gefüttert, mit ihr gespielt, bin Kilometer in unserer Wohnung auf und ab gelaufen, um sie zu beruhigen, wenn sie geweint hat. Jetzt sehe ich sie nicht einmal an ihren Geburtstagen.“
Oh, porco dio. Ständig beging Marco denselben Fehler. Dragos nüchterne Art täuschte zu oft darüber hinweg, wie tief seine Gefühle reichten, wie intensiv er sie durchlebte. Natürlich vermisste Drago seine Familie. Wann immer er über sie sprach, hörte man die bedingungslose Liebe, die er für sie empfand. Selbst seine Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, hatte er unter anderem in der Hoffnung getroffen, hier genug zu verdienen, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen.
„Es ist wie früher“, sagte Drago in die entstandene Stille. „Erst, als ich meine Zusage für die Uni hier hatte, ist mir bewusstgeworden, was das bedeutet.“
Marco erinnerte sich an die Geschichte. Damals hätte Drago beinahe einen Rückzieher gemacht. Instinktiv verstärkte er seinen Griff um dessen Taille.
„Seit fünf Jahren sehe ich meine Familie für ein paar wenige Tage über Weihnachten“, fuhr Drago fort, „und falls ich meine Aufenthaltserlaubnis bekomme, wird sich das so schnell nicht ändern. Bisher hatte ich die Option, nach Serbien zurückzugehen, wenn ich das nicht mehr aushalte, aber …“ Er drückte Marcos Hand. „Egal, was passiert, egal, wie ich mich entscheide, irgendetwas werde ich verlieren.“
Marco wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, außer Drago noch näher an sich zu ziehen. Zu gerne hätte er ihm versprochen, dass alles gut werden würde. Dass ihre Beziehung hielt, selbst wenn Drago zurück nach Serbien musste. Oder wollte. Dass Marco ihm folgen würde – Schreiner brauchte man sicher auch dort – und sich alles andere schon ergab.
Doch Marco schwieg. Er wollte keine falschen Versprechen geben. Nicht, solange Drago plante, ihre Beziehung vor seiner Familie geheim zu halten. Nicht, solange Marco nicht sicher sein konnte, wirklich bereit zu sein, alles zurückzulassen und in ein für ihn fremdes Land zu ziehen.
„Ich bin egoistisch genug, um dich für immer bei mir haben zu wollen“, murmelte er stattdessen gegen Dragos Schulter, „aber ich verstehe auch, wie kacke es für dich sein muss, von deiner Familie getrennt zu sein.“ Er ließ offen, welche Konsequenz aus diesem Verständnis folgte.
„Ich weiß, dass du das verstehst“, sagte Drago. „Du vermisst deine Familie auch.“
Von diesen Worten ermutigt, erlaubte sich Marco, laut auszusprechen, was er seit Monaten dachte. „Ich hasse es, dass Giulia von hier wegzieht. Ich weiß, warum sie es tut, ich weiß, dass sie keine andere Wahl hat und ich bin froh, dass sie sich mittlerweile sogar darauf freut. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass sie und Giovanni in Italien glücklich werden. Aber ich hasse es. Ich hasse es, weil ich sie hier bei mir haben will. Und ich kann mir kaum vorstellen, wie viel schlimmer es für dich sein muss.“
Drago antwortete, indem er tiefer in Marcos Umarmung sank, das Haar federweich an dessen Wange. „Anfangs wäre es mir lieber gewesen, du hättest mich klar abgewiesen, anstatt eine Beziehung einzugehen, in die du nicht dieselben Gefühle einbringst wie ich. Offensichtlich hatte ich nicht die Disziplin, selbst Konsequenzen zu ziehen, sondern habe mich damit abgefunden, zu nehmen, was du zu geben bereit warst.“ Bevor Marco einhaken konnte, fuhr Drago fort. „Letztlich habe ich mich damit abgefunden, weil es immerhin bedeutet hat, dass ich das hier lösen und zurück nach Serbien gehen kann, wann immer ich will, ohne viele Scherben zu hinterlassen. Und jetzt …“ Frustriert schüttelte er den Kopf.
„Jetzt habe ich wieder alles kompliziert gemacht“, erwiderte Marco. „Weil ich dich liebe und bei mir haben will.“
Drago drehte sich zu ihm, ein Ausdruck in den Augen, den Marco beim besten Willen nicht deuten konnte. „Du machst auch vieles einfacher.“ Dann küsste er Marco, den Mund voller Worte, die ungesagt blieben.