Was zuletzt geschah:
Obwohl Marcos und Eriks Trennung bereits Monate zurückliegt, sind noch immer Nachbeben zu spüren. Marco leidet unter der Ungewissheit über Eriks Wohlergehen und seinem wegbrechenden sozialen Umfeld. Und Erik? Erik akzeptiert nach langem Hadern endlich den aufgezwungenen Neuanfang. Mit wackligen Schritten wagt er sich in eine Welt, die erkundet werden will.
Kapitel 31
Ping. Ping. Ping. Ping. Mit nervenzerreibendem Rhythmus stach der Kopfschmerz in Eriks Schläfen. Nach einer weiteren Viertelstunde und zunehmend schwächelnder Konzentration gab er auf und verstaute seine Lernkarten in ihrem Karteikasten. Vermutlich sollte er seinen freien Samstagabend ohnehin nicht komplett mit Büffeln verschwenden, obschon seine Klausuren allmählich bedrohlich nahe rückten.
Fragte sich, was er sonst anstellen wollte. Lesen konnte er vergessen. Sobald sich sein Gehirn einmal entschieden hatte, gegen die Enge seiner Schädeldecke zu rebellieren, beruhigte es sich seiner Erfahrung nach so schnell nicht wieder, und alles, was einen fokussierten Blick benötigte, verschlimmerte die Schmerzen. Damit schied Kino ebenfalls aus.
Ein Spaziergang, vielleicht? Die Sonne hatte sich schon lange hinter den Horizont verabschiedet und Eriks Außenthermometer zeigte winterliche Temperaturen, dennoch tat ihm die frische Luft vermutlich ganz gut. Etwas Bewegung schadete sicher ebenfalls nicht.
Kurzerhand schluckte Erik eine Kopfschmerztablette, schlüpfte in seinen wärmsten Mantel, wickelte einen Schal um seinen Hals, zog ein Stirnband über seinen Kopf und Handschuhe über seine Finger. So eingekuschelt, wagte er sich hinaus in die Kälte.
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Erik hatte das Wetter unterschätzt. Harscher Wind biss in seine ungeschützte Nase und trieb Tränen in seine Augen. Schmerztablette und frische Luft mochten gegen seine Kopfschmerzen helfen, der eisigen Kälte konnten sie jedoch nichts entgegensetzen.
Dem Wetter zum Trotz, herrschte reges Treiben auf den Straßen. Menschengrüppchen schlenderten lachend über die Gehwege, huschten in Bars, Clubs und Restaurants. Erik beobachtete sie aus dem Augenwinkel, hin und hergerissen, ob er es ihnen gleichtun, oder nach Hause gehen sollte. Das einladende Leuchten inzwischen gut bekannter Lichter machte ihm die Entscheidung leicht.
Das Duo war wie gewohnt gut gefüllt, platzte aber noch nicht aus allen Nähten. Erik hing Mantel und Schal an einen Garderobenhaken und stopfte Stirnband und Handschuhe in die Manteltaschen, bevor er sich zur Bar durchschlängelte. Wo er prompt auf Tyler traf.
„Ah, hey“, begrüßte Erik ihn verlegen.
Tyler erwiderte den Gruß mit einem kecken Lächeln, dann wandte er sich dem Barkeeper zu, um einen Flamingo – ein alkoholfreier Cocktail, der für Eriks Geschmack deutlich zu sauer ausfiel – zu ordern. Seinen Drink in der Hand, zwinkerte er Erik zu und verschwand in der Menge. Keine Aufforderung, ihm zu folgen, nicht der Ansatz eines Flirts.
Erik konnte es ihm kaum verdenken. Für Tyler dürfte ihr One-Night-Stand maximal mittelmäßig gewesen sein, vermutlich nicht einmal das. Erik dagegen … Obwohl er der Erfahrung mit gemischten Gefühlen gegenüberstand, bereute er nicht, sie gemacht zu haben.
Einerseits fürchtete er sich davor, den Rest seines (Sex-)Lebens so zu verbringen. Bedeutungslose Begegnungen, ohne echte Vertrautheit, die für mindestens einen von ihnen eher enttäuschend verliefen. Andererseits erlaubte ihm diese Distanz, seine Vorlieben zu erkunden. Sich auszuprobieren.
So sehr sich Marco bemüht hatte, auf Eriks Bedürfnisse einzugehen – und das hatte er, daran zweifelte Erik keine Sekunde – seine Präferenzen hatten eine eindeutige Rollenverteilung diktiert, und Erik hegte zunehmend die Vermutung, dass diese konträr zu seinen eigenen standen. Vielleicht lag sein Wunsch, beim Sex die Führung zu übernehmen, gar nicht in seinem Trauma begründet, sondern gehörte einfach zu ihm. Schließlich teilte Marco diese Vorliebe, ganz ohne schlechte Erfahrungen.
Seinen Cocktail in der Hand, zog sich Erik in den ruhigeren Teil des Clubs zurück. So wirklich Stimmung wollte dort allerdings nicht aufkommen und er spürte, dass das mindestens teilweise an ihm lag. Er wechselte ein paar Blicke, erwiderte das eine oder andere Lächeln, machte jedoch einen Rückzieher, wann immer jemand drohte, ihm näher zu kommen.
Gelegentlich erhaschte er einen Blick auf Tyler, der sich deutlich flirtbereiter zeigte, allerdings wenig zielgerichtet. Wie ein Schmetterling flatterte er umher, tanzte mal mit dem einen, mal mit dem anderen. Einen klaren Favoriten gab es dabei offenbar nicht.
Nach zwei weiteren Cocktails und ebenso vielen blockierten Annäherungsversuchen, gab Erik auf. Der Club lag ihm heute einfach nicht. Lieber gab er seiner Couch und einem guten Buch eine Chance, in der Hoffnung, dass seine Kopfschmerzen nicht zurückkehrten.
Wieder dick in seine Wintermontur eingepackt, wappnete sich Erik für die Kälte und wäre trotzdem nach dem ersten Schritt beinahe zurück ins Warme geflüchtet. Er konnte nur hoffen, dass dieser Winter bald endete. Die Aussicht auf weitere Monate miesen Wetters, Wolken und wenigen Sonnenstunden, ließ ihn ernsthaft einen Umzug in die Nähe des Äquators in Betracht ziehen.
Ein Pärchen vor ihm lenkte ihn von den suboptimalen Temperaturen ab. Er sah lediglich ihre Rückseite; der blonde Haarschopf, die zu dünne Jacke, und die Storchenbeine hatten sich jedoch in sein Gedächtnis eingebrannt. Tyler. Erik schloss rasch auf. Nicht, weil er sich beeilte, sondern weil sich die beiden im Schneckentempo vorwärts bewegten. Bald erkannte Erik, weshalb.
Tyler torkelte. Schwer hing er in den Armen seines Partners, seine Schritte wacklig wie die eines Kleinkinds. Er musste sich in der kurzen Zeit, seit Erik ihn das letzte Mal im Club wahrgenommen hatte, ordentlich abgeschossen haben.
Tylers Begleiter beugte sich zu ihm, redete allerdings so leise, dass Erik nur Bruchstücke des Gesagten mithörte. „… zu mir … du wirst … mögen.“
Die feinen Härchen in Eriks Nacken stellten sich auf. Die Art, wie der Kerl mit Tyler sprach, erinnerte ihn an seinen Ex, wenn dieser ihn zu irgendetwas hatte überreden wollen. Besänftigend, aber mit einem Unterton, der keinen Widerspruch duldete. Dass Tyler den Kopf schüttelte, und Ansätze machte, den Typen wegzuschieben, dabei jedoch an seinen unsicheren Beinen und dem um seine Taille geschlungenen Arm scheiterte, trug nicht zu Eriks Beruhigung bei.
Tyler antwortete dem Typen mit verwaschenem Nuscheln, sodass nur ein einzelnes Wort Eriks Ohren klar verständlich erreichte: Home.
Erik traf die Entscheidung, lieber einmal zu oft einzugreifen als einmal zu wenig. „Tyler?“, fragte er. „Ist alles okay?“
Tyler und sein Begleiter wandten sich um, wobei ersterer dabei beinahe das Gleichgewicht verlor.
„Ich kümmere mich um ihn“, sagte sein Begleiter. Er machte sich nicht die Mühe, seiner Stimme diese süße Weichheit zu verleihen, mit der er eben noch gesprochen hatte.
Erik ignorierte den Typen und versuchte stattdessen, Tylers Blick aufzufangen, war sich aber nicht sicher, ob dieser ihn überhaupt erkannte. Seine Augen schafften es kaum, sich auf einen bestimmten Punkt zu fokussieren.
Bemüht, sich seine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen, fragte Erik: „Soll ich dich nach Hause bringen? Do you want to go home?“
„Home …“ Unvermittelt löste sich Tyler von seinem Begleiter und stolperte in Eriks Arme. „… home …“ Er roch nach kaltem Zigarettenrauch und fruchtigem Deo. Keine Spur von Alkohol.
Behutsam hielt Erik Tyler fest. Keinesfalls würde er ihn zurück in die Fänge des Typen lassen, der Erik anstarrte, als hätte er ihm seiner Beute beraubt.
„Mach dir keine Umstände, ich übernehme das“, sagte der Typ. „Ist doch nicht nötig, dass wir beide durch die Kälte laufen.“
Ah, da war sie, die zuckersüße Überzeugungskunst. Mit fünfzehn hatte sie bei Erik gewirkt, inzwischen war er zum Glück klüger. „Ist wirklich kalt“, erwiderte er. „Warum teilen wir uns nicht ein Taxi? Du kennst ja seine Adresse, oder?“ Nicht, dass Erik das tat, aber er fraß einen Besen, wenn der Kerl mehr über Tyler wusste als er.
So leicht ließ sich der Typ allerdings nicht abwimmeln. „Ein Taxi? Sieh ihn dir doch an, bestimmt kotzt er alles voll.“
„Wir sind in Berlin, ich bin sicher, er ist nicht der erste betrunkene Fahrgast. Die werden schon ein paar Tüten parat haben.“
Bingo. Eriks Gegenüber suchte offensichtlich eine Erwiderung, die er nicht fand. Sein Kiefer arbeitete, ebenso wie seine Hände, die sich zu Fäusten ballten und wieder öffneten. Für einen Moment fürchtete Erik, gleich eine gezimmert zu kriegen.
So weit kam es glücklicherweise nicht. Nach einigen Sekunden setzte der Kerl ein falsches Lächeln auf. „Du scheinst hier ja alles im Griff zu haben. Ich denke, ich kann ihn guten Gewissens dir überlassen.“
Erik erwiderte das falsche Lächeln mit einem keinen Deut echteren und wartete, bis der Typ den Rückzug antrat. Vermutlich wäre er vor Erleichterung zusammengesunken, wenn das nicht bedeutet hätte, Tyler mitzureißen. Was ihn vor das nächste Problem stellte. „Tyler? Wo wohnst du? Where do you live?“
Tyler erwies sich als wenig hilfreich. Wieder und wieder lallte er, dass er nach Hause wollte, doch eine Adresse bekam Erik nicht aus ihm heraus. Nach einigen fruchtlosen Minuten gab er auf. Weder konnte er Tyler ewig stützen noch sollte er ihn zu lange der Kälte aussetzen.
„Ich bringe dich erstmal zu mir, ja?“ Erik wiederholte diese Aussage den gesamten Weg über, mal auf Deutsch, mal auf Englisch, unsicher, wie viel davon bei Tyler ankam. Sie erreichten seinen Wohnblock ohne größere Schwierigkeiten, doch einen zunehmend unkooperativen Mann die Treppen hochzuhieven, erwies sich als echter Kampf, völlig egal, wie zierlich derjenige gebaut sein mochte.
Schwer atmend und der Temperatur zum Trotz komplett durchgeschwitzt, verfrachtete Erik Tyler nach einer gefühlten Ewigkeit auf die Couch, wo dieser regungslos liegenblieb.
Und jetzt?
Möglicherweise hatte Tyler wirklich zu viel getrunken und Erik roch es aus irgendeinem Grund nicht. Möglicherweise spielte einfach nur sein Kreislauf verrückt. Möglicherweise gab es eine andere, halbwegs harmlose Begründung für seine Verfassung, aber Erik kam immer wieder darauf zurück, dass ihm jemand – und er hatte einen starken Verdacht, wer – etwas in den letzten Drink gemixt hatte.
Sollte Erik den Notarzt rufen? Die Polizei? Vergeudete er wertvolle Zeit, in der sich Tylers Zustand verschlechterte und sein Körper mögliche Beweismittel abbaute? Würde Tyler es ihm übelnehmen, wenn er über seinen Kopf hinweg entschied, offizielle Stellen zu involvieren? Oder, wenn er es nicht tat?
„Shit. Shit, shit, shit, shit.“ Erik rieb sich übers Gesicht. Okay, durchatmen. Er rüttelte an Tylers Schulter. „Tyler? Tyler!“
Unwillig brummend versuchte dieser, Eriks Hand wegzuschieben und sich zu einem Ball zusammenzurollen. Als Erik nicht lockerließ, öffnete er ein Auge, blinzelte ihm schläfrig entgegen und nuschelte etwas, das nach „Fuck off“ und „Sleep“ klang. Gut, das bedeutete, Tyler war prinzipiell wach und ansprechbar.
Als nächstes prüfte Erik Atmung und Puls. Beides schien normal, nur Tylers Haut fühlte sich eiskalt unter seinen Händen an, was nach ihrem Weg hierher kaum überraschte. Zur Sicherheit versuchte Erik dennoch, ihn wenigstens ansatzweise in die stabile Seitenlage zu bugsieren, um seine Atemwege freizuhalten. Erneut murrte Tyler, ohne nennenswert Gegenwehr zu leisten.
Nach kurzem Zögern befreite Erik ihn von seinen Schuhen. Er überlegte, ihm auch den denkbar unbequem aussehenden Gürtel auszuziehen, entschied sich jedoch dagegen. Das fühlte sich zu übergriffig an.
Jetzt noch warm einpacken. Erik sprintete ins Schlafzimmer, um seine kuschelige Bettdecke zu holen und breitete sie über Tyler aus. Dabei achtete er darauf, sie nicht zu hoch zu ziehen, damit Mund und Nase unbedeckt blieben. Zum Abschluss platzierte er für alle Fälle seinen Mülleimer in greifbarer Nähe.
Den letzten Rest Adrenalin aufgezehrt, sank Erik neben die Couch. Nun hieß es abwarten und beobachten. Sein Handy in Reichweite, prüfte er in regelmäßigen Abständen Tylers Atmung und Puls, darauf vorbereitet, bei der kleinsten Auffälligkeit den Notarzt zu alarmieren. Der Himmel färbte sich bereits zartrosa, als ihm schließlich die Augen zufielen.
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Erik schreckte hoch. Ausnahmsweise verzichtete sein Gehirn auf die sonst übliche schlaftrunkene Orientierungslosigkeit; er wusste sofort, dass er auf dem Boden neben seiner Couch hockte, die Wange bis eben gegen das Polster gelehnt, und weshalb er das tat. Tyler.
Tatsächlich musste ihn dessen Bewegung geweckt haben. Tyler saß aufrecht auf der Couch; die Bettdecke auf dem Schoß zerknüllt, sah er sich um.
„Ah, guten Morgen“, sagte Erik behutsam. „Wie fühlst du dich?“
Langsam richtete Tyler seine Aufmerksamkeit auf ihn, die Lippen zusammengepresst, den Blick von Misstrauen erfüllt. Beinahe zu spät begriff Erik, wie sich die Situation aus seiner Sicht darstellen musste. Auf einer fremden Couch aufzuwachen, in einer fremden Wohnung, neben dem Typen, dem er am Abend zuvor einen deutlichen Korb gegeben hatte, ließ sich nur schwer positiv auslegen.
„Zwischen uns ist nichts passiert“, versicherte Erik eilig. Hilflos setzte er nach: „Erinnerst du dich an irgendwas?“
Ohne seinen Blick von Erik zu lösen, tastete Tyler seinen Körper ab. Seine Finger strichen über sein zerknittertes T-Shirt, seinen verschlossenen Gürtel und die Jeans, die exakt dort saß, wo sie sitzen sollte. Nach seinem Check stand er auf, wobbelte, und stützte sich mit einer Hand an der Sofalehne ab, während er Erik mit der anderen deutlich machte, dass er keine Hilfe von ihm wollte. Es brauchte einige tiefe Atemzüge, bis er die Energie fand, ins Badezimmer zu wanken. Kurz darauf erklang das leise Klicken des Verschlussmechanismus.
Erik wartete mit gespitzten Ohren, falls Tyler das Gleichgewicht verlor und stürzte. Anfänglich blieb es still, dann hörte er die Klospülung und das Plätschern des Wasserhahns. Als Tyler ins Wohnzimmer zurückkehrte, wirkte sein Gang sicherer und seine Gesichtszüge weniger angespannt. Mitten im Raum zögerte er, bevor er sich erneut auf die Couch setzte.
„Erinnerst du dich, was gestern passiert ist?“, wiederholte Erik seine noch unbeantwortete Frage.
„Verschwommen.“ Tyler stützte den Kopf in die Hände. „Ich wollte nach Hause. Warum bin ich nicht zuhause?“
Erik hatte die Minuten, die Tyler im Bad verbracht hatte, genutzt, um sich auf exakt diese Frage vorzubereiten. Nun fasste er die Geschehnisse des vergangenen Abends so knapp und präzise wie möglich zusammen. „Es tut mir leid, dass ich dich einfach hierhergeschleppt habe. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.“
Langsam nahm Tyler die Hände vom Gesicht und lehnte sich auf der Couch zurück. Den Blick zur Decke gerichtet sagte er: „Ich erinnere mich an den Kerl. Ein bisschen, zumindest. Wir haben getanzt und er hat mir einen Cocktail von der Bar mitgebracht. Danach … habe ich nur kurze Ausschnitte, die ich nicht zusammenbekomme.“ Seine Nase kräuselte sich in Abscheu und Erik bekam eine bunte Arie von Schimpfwörtern zu hören, die in der konstanten Wiederholung von Fucks kulminierte. „Wie konnte ich so unfassbar dumm sein?“
Erik wappnete sich für seinen nächsten Satz. „Ich, ah, bin mir nicht sicher, wie ich es am besten anspreche, aber … Falls du darüber nachdenkst, Anzeige zu erstatten, sollten wir dich am besten ins nächste Krankenhaus bringen. Soweit ich weiß, sind K.O.-Tropfen nicht besonders lange nachweisbar.“
Tyler drehte den Kopf weit genug, um Erik zu mustern.
„Natürlich würde ich auch eine Aussage machen, wenn das nötig sein sollte. Und dich sonst so gut unterstützen, wie ich nur kann.“ Als sich das Schweigen zog und er vollständig daran scheiterte, Tylers Mimik zu deuten, ergänzte Erik: „Das gilt auch dann, falls du dich gegen eine Anzeige entscheidest.“
„Was denkst du?“, fragte Tyler nach einer weiteren stillen Minute. „Sollte ich Anzeige erstatten?“
Erik dachte an die Zeit, in der er vor derselben Frage gestanden hatte. „Das kannst nur du entscheiden. Du bist der einzige, er einschätzen kann, ob es dir hilft, mit der Situation umzugehen, oder eher nicht.“
„Aber was würdest du an meiner Stelle tun?“
„Nichts“, gab Erik zu, denn er hatte sich damals gegen eine Anzeige entschieden, aus Furcht, eine langwierige juristische Maschinerie loszutreten, die ihn zwang, seine privatesten Empfindungen und Erlebnisse nach außen zu kehren, dafür, dass man seinem Ex am Ende bestenfalls milde auf die Finger klopfte, oder er schlimmstenfalls als Lügner dastand, weil die Beweise nicht für eine Verurteilung reichten. „Das heißt nicht, dass das die für dich passende Entscheidung sein muss.“ Die Angst, sein Ex könnte anderen dasselbe antun wie ihm damals, verfolgte ihn bis heute.
Tyler nagte an seinem Daumen. „Keine Polizei“, entschied er schließlich.
„Was ist mit dem Krankenhaus?“, hakte Erik nach. „Willst du dorthin, für den Fall, dass noch etwas nachweisbar ist? Oder auch einfach nur, um dich durchchecken zu lassen?“
Tyler schüttelte den Kopf.
„In Ordnung.“ Erik verzichtete auf Überzeugungsversuche. Er wusste nicht, ob er damit richtig handelte, aber er konnte nicht anders. Dafür standen ihm seine eigenen Gefühle zu nah.
Der Tod seiner Eltern hatte ihm die Kontrolle entzogen; die Selbstverständlichkeit, sie an seiner Seite zu wissen und immer einen sicheren Hafen zu haben. Dann kam sein Ex, nahm ihm die Kontrolle über seinen Körper und seine Empfindungen, bis er nicht mehr wusste, wo seine eigenen Bedürfnisse endeten und die seines Ex begannen. Die Erkenntnis, auf einen geschickten Manipulator hereingefallen zu sein, der ihn bewusst wegen seines Alters und seiner emotionalen Bedürftigkeit ausgewählt hatte, nahm ihm an Ende noch den Glauben in seine eigenen Fähigkeiten.
Man hätte Erik in dieser Zeit kaum mehr schaden können, als über seinen Kopf hinweg zu entscheiden, wie mit dieser Situation umgegangen werden musste. Seinen Ex anzuzeigen, Erik zu zwingen, eine Aussage zu machen, sich den kritischen Blicken von Polizei und Staatsanwaltschaft zu stellen, die mitunter persönlichsten Momente seines Lebens offen breitzutreten. Schon wieder ein Kontrollverlust.
Tief in ihm saß die Gewissheit, dass er spätestens daran endgültig zerbrochen wäre, und dennoch fragte er sich manchmal, ob er das hätte in Kauf nehmen müssen, wenn es die geringste Chance gab, andere vor seinem Ex zu schützen. Bis heute hatte er keine Antwort gefunden, doch bei Tyler fiel es ihm leichter. Was auch immer er entschied, Erik akzeptierte es.
Blieb noch ein offener Punkt zu klären. „Bist du einverstanden, wenn ich das Duo informiere? Ohne Namen, nur, damit sie in Zukunft verstärkt ein Auge darauf haben.“
„Okay.“
„Gibt es sonst noch was, das ich für dich tun kann?“ Erik wünschte sich jemanden an seiner Seite, der mehr Ahnung hatte, wie man mit so einer Situation umging. Er wollte Tyler helfen, ihn aufmuntern. Gleichzeitig hatte er Angst, überbesorgt zu wirken, und ihm das Gefühl zu vermitteln, etwas Traumatisches erfahren zu haben, obwohl er das möglicherweise allein gar nicht so empfunden hätte. Wie bei einem Kind, das nach einem Sturz erst anfing zu weinen, wenn die aufgeregten Eltern wiederholt fragten, ob auch wirklich alles in Ordnung sei.
Unvermittelt kam Erik Marcos Lösungsansatz für diverse Probleme in den Sinn. Oft genug hatte er sich darüber lustig gemacht, doch um ehrlich zu sein, verfehlte er erstaunlich selten seine Wirkung. „Ah, willst du vielleicht frühstücken?“
Tyler blinzelte. Dann schlich sich der Ansatz eines müden Lächelns auf seine Lippen. „Gibt’s Tee?“
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Zwei Tassen Earl Grey und ein eilig vom Café gegenüber organisiertes Schinken-Käse-Croissant wirkten Wunder für Tylers Laune. Farbe kehrte in seine Wangen zurück; er aß, er lachte – und er erzählte.
Erik erfuhr, dass Tyler ursprünglich aus einem kleinen Ort zwischen York und Leeds stammte, eine Weile in Manchester gelebt hatte, und vor drei Jahren seinem damaligen Freund nach Deutschland gefolgt war. Die Beziehung hatte keine sechs Monate gehalten, aber ihm gefiel Berlin, und er hatte entschieden zu bleiben. (Die Enthüllung, dass Tyler demnächst dreiundzwanzig wurde, brachte Erik allerdings kurzzeitig aus der Fassung.)
„Wo hast du Deutsch gelernt, bevor du hergezogen bist?“, fragte Erik zwischen zwei Bissen seines Käsekuchenmuffins.
Tyler lachte. „Gar nicht. Erst hier. Tagsüber gearbeitet, abends Sprachkurs.“
„Ich weiß nicht, ob ich den Mut hätte, in ein Land zu ziehen, dessen Sprache ich nicht spreche.“
„So weit habe ich damals nicht gedacht. Es war alles ein großes Abenteuer. Aber man lernt schnell, wenn man den ganzen Tag von einer Sprache umgeben ist, und die meisten hier sprechen zumindest ein bisschen Englisch. Genug, um über die Runden zu kommen, auch bei der Arbeit.“
„Darf ich fragen, was du machst?“
Tyler hob die Brauen und warf Erik einen vielsagenden Blick zu, als müsste dieser die Antwort längst erraten haben. Schließlich erbarmte er sich. „Piercer.“
„Ah.“ Sofort wanderten Eriks Gedanken zu kühlem Metall unter seinen Fingerspitzen, zum verführerischen Funkeln in Ohren, Brauen, Lippen, Brustwarzen, und tiefer. „Hast du, ah … Nein, vergiss die Frage.“
„Meine Piercings selbst gestochen?“ Tyler schmunzelte über Eriks verlegene Zustimmung. „Nur die Ohrläppchen, lange bevor ich wusste, wie man es richtig macht.“ Er ließ Erik nicht aus den Augen. „Neugierig?“
Abwehrend hob Erik die Hände. „Ich habe es nicht so mit Nadeln.“ Seit er einmal Gesicht voraus in ihre Arme gekippt war, hatte die Arzthelferin seines Vertrauens ihn bei Blutentnahmen und Impfungen grundsätzlich auf der Liege platznehmen und erst mehrere Minuten später aufstehen lassen.
Tyler schnappte sich einen der vielen quer in der Wohnung verstreuten Stifte und kritzelte auf seine Serviette. Anschließend schob er sie zu Erik. „Das ist das Studio, in dem ich arbeite. Falls du es dir anders überlegst, kommst du vorbei und ich steche dir eines gratis. Als kleinen Dank für gestern.“ Er stand auf. „Und jetzt verpisse ich mich in mein Bett. Mir dröhnt der Schädel.“
„Soll ich dir ein Taxi rufen?“
Tylers Lächeln wurde von einem Gähnen unterbrochen. Als er die Kiefer wieder zusammenbekam, sagte er: „Du bist süß.“
„Ich weiß nie, ob du das als Kompliment meinst, oder dich über mich lustig machst.“
Dafür erntete Erik nur ein weiteres Lächeln, an dessen Deutung er scheiterte.