Was zuletzt geschah:
Marco und Erik gehen seit einigen Wochen getrennte Wege. Bei dem Versuch damit irgendwie umzugehen, stolpert Marco prompt in einen One-Night-Stand mit Drago, allerdings beschließen die beiden kurz darauf, dass das nicht zu ihren klügsten Ideen zählt, und sie es lieber (vorerst) bei einer reinen Freundschaft belassen. Gerade, als Marco dachte, dass sein Leben nun wieder etwas unkomplizierter wird, erreicht ihn eine Nachricht von Erik, der ankündigt, Heiligabend im Tässchen verbringen zu wollen.
Kapitel 25
Eriks Tag startete auf die schlechtmöglichste Art. Schlimm genug, sich überhaupt um diese Zeit aus dem Bett quälen zu müssen, dabei vom eigenen Radiowecker gewhamed zu werden, war demütigend. Rabiat presste er den Ausschaltknopf, während George Michael inbrünstig davon sang, sein Herz dieses Jahr jemandem zu schenken, der es auch verdient hatte.
Weihnachten stand vor der Tür und Erik hätte kotzen können. Oder heulen. Oder beides. Das Fest der Liebe fühlte sich wenig feierlich an, wenn man erst kürzlich vom Partner verlassen worden war und für den Familienbesuch auf den Friedhof musste.
Lustlos schälte er sich aus dem Bett. Eine Runde Yoga weckte hoffentlich seine Lebensgeister, denn auf ihn wartete ein prall gefüllter Tag voller Vorlesungen und einer Schicht im Tix. Im Grunde etwas Gutes. Wenige Pausen bedeuteten wenig Zeit zum Nachdenken, zumal er sowohl die Uni als auch seinen Job liebte. Also lag immerhin nicht sein komplettes Leben in Scherben – lediglich der private Teil.
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„Urgh!“ Gesicht voraus sank Erik in die Kissen. Seine Schläfen pulsierten und hinter seinen Augen saß dieser Stachel, der sich zunehmend häufiger in sein Hirn bohrte. Er sollte deshalb wirklich zum Arzt, dazu musste er sich allerdings eine Lücke in seinem Stundenplan schaufeln.
Apropos Lücke. Ihm blieben weniger als zwei Stunden, um irgendeine Form von Abendessen auf seinen Tisch zu bringen und seine Vorlesungen nachzubearbeiten, bevor seine Schicht im Tix startete. Das reduzierte die Zahl der Minuten, die er auf dem Bett im Selbstmitleid versinken durfte, auf null.
Das Klingeln seines Smartphones beendete Eriks Inspektion des Kühlschrankinhalts frühzeitig. Er seufzte leise, als er die Nummer erkannte, brachte es jedoch nicht über sich, den Anruf zu ignorieren. „Hallo, Tante Susanne.“
„Hallo Erik. Ich hoffe, du hörst mich gut? Hat denn das Einrichten deines Festnetzanschlusses noch immer nicht geklappt?“
Vermutlich hätte es, wenn Erik versucht hätte, sich einen Festnetzanschluss zu organisieren. Nur sah er dafür keine Notwendigkeit. Sein Smartphone genügte. Um den Frieden zu wahren, sagte er: „Ich lasse es dich wissen, sobald ich eine Festnetznummer habe.“
„Bitte tu das. Wie geht es dir?“
„Gut“, gab Erik seine Standardantwort und hoffte, diesen Höflichkeitsanruf damit kurz zu halten. „Und dir?“
„Ach, du weißt ja. Frank ist ständig auf Geschäftsreisen, Tobias ist wie immer zu cool für seine Eltern und Sophia verbringt die meisten Nachmittage mit ihren Freundinnen.“ Selten ließ Eriks Tante so deutlich durchblicken, dass ihre Bilderbuchfamilie höchstens oberflächlich betrachtet ihren Anspruch an Perfektion erfüllte. Tatsächlich klang sie ziemlich unglücklich. „Du kommst an Weihnachten vorbei, ja?“
„Hm, mal sehen.“ Bisher hatte er es vermieden, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Er verspürte wenig Lust darauf, eines dieser angespannten Abendessen bei seiner Tante zu absolvieren, von denen ihn Berlin endlich erlöst hatte. Ganz davon abgesehen, dass er sich ein Hotelzimmer würde suchen müssen. Bei seiner Tante wollte er definitiv nicht unterkommen – es gab kein Gästezimmer, in Tobias‘ Zimmer schlafen kam absolut nicht in Frage, und selbst wenn Sophia einverstanden wäre, ihn ein paar Nächte zu ertragen, hörte er schon jetzt die Einsprüche seines Onkels, die haarscharf daran vorbeischlitterten, ihn offen als gestört und/oder pädophil zu bezeichnen. Seine Alternative, Marco, hatte sich mit ihrer Trennung ebenfalls zerschlagen. „Ich muss mal sehen, wie es mit der Uni und meinem Job läuft.“
„Du hast einen Job?“
„Mhm.“
„Brauchst du Geld?“, fragte Susanne alarmiert. „Ich müsste mit Frank sprechen, aber wir können dich bestimmt unterstützen.“
„Es geht nicht ums Geld. Es ist gut für mich, ein paar Erfahrungen außerhalb von Schule und Uni zu sammeln, und der Job an der Bar macht mir Spaß.“
„Du arbeitest an einer Bar? Konntest du denn nichts im medizinischen Bereich finden? Du hast da doch schon Praktika gemacht.“
„Die meisten dieser Jobs beißen sich mit der Uni, das ist eher was für die vorlesungsfreie Zeit. Außerdem wollte ich mal in einen komplett neuen Bereich schnuppern. Und wie gesagt, mir gefällt, was ich mache.“ Huch. Exakt diese Worte hatte Marco ihm gegenüber mehrmals gewählt. War Erik damals so unerträglich rübergekommen wie seine Tante jetzt? Kein Wunder, dass er es nicht länger mit ihm ausgehalten hatte. Bevor Eriks Gedanken in eine Richtung abbogen, in die sie ohnehin allzu häufig wanderten, versuchte er sich an einem fröhlicheren Tonfall. „Die Leute im Tix sind echt superlieb und die Arbeit ist viel abwechslungsreicher als man vielleicht erstmal denken würde.“
„Ah. Nun ja. Wenn du meinst, dass das das Richtige für dich ist … Wie geht es denn Marco?“
Selbstverständlich kam Susanne von einem Job, den sie für unter Eriks Würde hielt, direkt auf Marco zu sprechen. Im Grunde hätte es Erik egal sein können, immerhin hatte Marco Schluss gemacht, doch so funktionierten Gefühle nun mal nicht und Erik tat sich schwer, den kalt-giftigen Ball aus Enttäuschung, Schmerz und Zorn, der seit Wochen in seiner Brust rotierte, nicht durch den Hörer auf seine Tante zu speien. „Wir haben uns getrennt.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte kurzzeitig Stille. „Das, ähm … Das tut mir sehr leid.“ Als ob. „Brauchst du was?“
„Was sollte ich denn brauchen?“ Was würde ihm helfen? Allerdings ahnte Erik, worauf diese Frage hinauslief.
„Hast du die Nummer deiner Therapeutin noch?“
Bingo. „Natürlich.“ Zudem die eines Therapeuten in Berlin, den sie Erik empfohlen hatte, sowie die der Telefonseelsorge für Notfälle. Bisher glaubte er nicht, eine davon zu brauchen, dennoch lag die Frage nahe und er sollte seiner Tante keine Vorwürfe dafür machen. Doch auch hier folgten seine Gefühle nicht zwingend logischen Regeln. „Ich muss jetzt auflegen, Tante Susanne. Meine Schicht im Tix fängt bald an.“
„Ah, natürlich. Du hast viel zu tun. Wegen Weihnachten meldest du dich noch?“
„Mhm. Bis dann.“ Erik beendete das Gespräch, bevor seine Tante ihm irgendwelche Zugeständnisse abringen konnte, und setzte seine Suche nach Nahrungsmitteln fort. Die Hand schon zum Kühlschrank ausgestreckt, klingelte sein Handy erneut. „Echt jetzt?“
Wieder war er versucht, den Anrufer zu ignorieren, wieder besann er sich eines Besseren. Sich in sein Schneckenhaus zu verkriechen hatte ihn die letzten Male nicht glücklich gemacht und würde ihm heute ebenso wenig helfen. Abgesehen davon, dass seine Freunde sich natürlich Sorgen machten, wenn er plötzlich von der Bildfläche verschwand. Das wollte er ihnen nicht antun.
Weshalb er auch großzügig über die Tatsache hinwegsah, dass Marco sofort Charlotte und Aisha auf ihn angesetzt hatte, ohne ihm die Chance zu geben, den beiden in seinem eigenen Tempo von der Trennung zu erzählen. Im ersten Moment hatte er sich ziemlich darüber geärgert, dann jedoch beschlossen, diese Entscheidung als fürsorgliche Geste zu interpretieren; ein Indiz dafür, dass er Marco trotz ihrer Trennung nicht völlig am Arsch vorbeiging.
Erik nahm den Anruf entgegen. „Hey, Charlotte.“
„Ich glaub’s ja nicht“, erwiderte seine ehemalige Mitbewohnerin. „Schon beim ersten Versuch! Was ist los mit dir?“
„Ah, ich dachte, ich versuche einmal einen etwas weniger egozentrischen Ansatz, um mit meinen Problemen umzugehen, damit ihr euch nicht immer Sorgen um mich machen müsst.“
„Ach, süß. Du bist so erwachsen, dass du endgültig wie ein alter Knacker klingst.“
„Ich kann auch wieder auflegen“, drohte Erik.
„Hindert dich niemand dran, ist aber dein Verlust. Kein neuester Klatsch und Tratsch für dich.“
„Na schön, na schön. Ich gebe mich geschlagen.“ Erik lehnte sich gegen seinen Küchentisch, der ausreichend Platz für zwei Personen bot und seinen Zweck damit derzeit deutlich übererfüllte. „Was gibt’s Neues?“
„Nichts, eigentlich. Alles tierisch öde hier. Du hast es schon richtig gemacht, nach Berlin abzuhauen.“
„Hat mich auch nur meine Beziehung gekostet“, erwiderte Erik trocken.
„Was ja wohl absolut nicht deine Schuld ist. Ehrlich, Marco verdient die Krätze am Arsch und zu kurze Arme zum Kratzen.“ Charlotte wählte noch einige weitere farbenfrohe Schilderungen, die Erik geflissentlich überhörte. Am Ende ihrer Tirade angelangt, fragte sie: „Wie geht’s dir?“
„Ganz gut?“
„Ist das eine Frage oder deine Antwort?“
„Meine Antwort. Es geht mir gut.“
„Sag’s nochmal, vielleicht glaubt’s dann zumindest meine tote Oma.“
„Es geht mir ...“ Erik brachte das abschließende ‚gut‘ nicht über die Lippen. „Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie es mir geht.“
Die akute Krise hatte er wohl überstanden; er trug sein Skilltäschchen zwar für den Notfall weiterhin bei sich, hatte seit seiner ersten Schicht im Tix jedoch zum Glück keinen Gebrauch mehr davon machen müssen.
Auf den Schmerz unmittelbar nach ihrer Trennung war inzwischen eine schwer zu beschreibende Leere gefolgt. Eine Art Sinnlosigkeit, die jeden seiner Schritte begleitete. Egal, womit er seinen Tag füllte – Studium, Job, Yoga, Schwimmen, Lesen – stets tat er es in dem Wissen, verlassen worden zu sein. Nicht gut genug, nicht liebenswert genug gewesen zu sein.
Das sollte ihn traurig stimmen und das tat es auch. Gleichzeitig spürte er immer häufiger Erleichterung. Wenn er das Wochenende zum Lernen brauchte, dann brauchte er das Wochenende zum Lernen. Niemand würde ihn dafür kritisieren. Ebenso wenig wie für den Kleiderberg im Schlafzimmer, die verstreuten Bücher, den – nicht vorhandenen – Inhalt seines Kühlschranks. Nur sich selbst gegenüber Rechenschaft schuldig zu sein, hatte etwas Befreiendes an sich.
Erik versuchte, diese komplexen Gefühle für Charlotte in Worte zu fassen, scheiterte allerdings. Nach dem dritten Versuch schlug sie ihm eine simple Lösung vor. „Wir quatschen mal richtig, wenn du an Weihnachten in Stuttgart bist.“
„Ah …“
„Sag jetzt nicht, dass du nicht kommst!“
„Ich–“
„Ich sagte, du sollst das nicht sagen!“, unterbrach sie ihn. „Natürlich kommst du! Wir haben uns über ein halbes Jahr nicht mehr gesehen!“
„Es sind nicht einmal drei Monate.“
„Du schiebst gefälligst deinen flachen Arsch hierher, sonst fahre ich hoch und hol dich selbst!“
„Mein Arsch ist nicht flach!“, protestierte Erik, der einen nicht unwesentlichen Teil seines wöchentlichen Sportpensums auf eben jenes Körperteil fokussierte. „Ist ja gut. Vorausgesetzt ich finde noch ein Hotel, das ein Zimmer übrig hat, komme ich an Weihnachten nach Stuttgart.“
„Braver Junge! Aisha wird sich freuen. Sie vermisst dich, weißt du.“
„Ich vermisse sie auch.“ So wie Manni, Hugo, Giulia, Giovanni und Bianca. Doch selbst, wenn er nach Stuttgart fuhr, konnte er kaum bei der Familie seines Ex-Freundes aufkreuzen. Weder der leiblichen noch der selbstgewählten. Egal, wie oft Hugo ihm seit der Trennung versichert hatte, jederzeit im Tässchen oder bei einem gemeinsamen Abendessen willkommen zu sein.
Andererseits … Marco hatte angeboten, Freunde zu bleiben. Möglicherweise musste Erik ihm nicht auf Biegen und Brechen aus dem Weg gehen?
„Noch dran?“
„Ah, ja. Entschuldige. Nur in Gedanken. Was hattest du eben gesagt?“
„Dass du uns fehlst. Und, dass ich eine kenne, die in einem Hotel irgendwo in der Stadt ihre Ausbildung macht. Die hat vielleicht nen Tipp.“
„Das wäre lieb. Wie geht es eigentlich Philipp?“ Noch ein paar Monate, und die Beziehung der beiden hielt länger als seine und Marcos. Erik freute sich für seine Freundin, und tat sein Bestes, dem gelegentlich aufkeimenden Neid kein Futter zu geben. Insbesondere, da Charlotte zur Antwort ein langgezogenes Seufzen ausstieß.
„Läuft gerade ziemlich mies bei ihm zuhause“, erzählte sie. „Seine Alte war ja schon immer eher schwierig, aber bisher hat sie sich wenigstens einigermaßen bemüht. Kaum hat sie einen neuen Stecher mit mehr Meinung als Hirn … Der soll jetzt auch noch einziehen und Philipp fühlt sich einfach nicht mehr wohl. Oder sicher.“
„Shit.“
„Kannst du laut sagen. Bei uns in der WG kann er schlecht unterkommen, also brauchen wir eine andere Lösung.“
„Habt ihr schon eine im Blick?“
„Zusammenziehen“, antwortete Charlotte. „Jedenfalls, wenn wir rausfinden, wie wir uns das leisten sollen.“
„Sagt mir Bescheid, wenn ich euch da irgendwie unterstützen kann“, bot Erik an. Dank seines Jobs füllten sich seine ohnehin recht gut gepolsterten Kassen noch weiter, und er konnte sich kaum etwas Sinnvolleres dafür vorstellen, als seinen Freunden unter die Arme zu greifen.
„Du weißt, dass das nicht so gemeint war. Ich erzähl dir das nicht, weil ich auf Almosen hoffe.“
„Schon klar. Das Angebot steht trotzdem.“ Nachdem er das Charlotte drei weitere Male versichert hatte, wechselten sie zu angenehmeren und oberflächlicheren Themen. Als sie auflegte, hatte sich Eriks Laune merklich gebessert, allerdings blieben ihm lediglich knapp zehn Minuten, bis er aufbrechen musste.
Diese nutzte er, um eine SMS an Marco zu formulieren.
‚Hey, zur Info: Ich werde an Heiligabend im Tässchen vorbeischauen‘ – Nein, das klang irgendwie dreist. Beinahe wie eine Herausforderung.
‚Hey. Wäre es schlimm für dich, wenn ich an Heiligabend im Tässchen vorbeikomme?‘ – Warum seinen Besuch gleich von vorneherein zu einem möglichen Problem erklären?
‚Hey :) Ich bin über Weihnachten in Stuttgart und würde an Heiligabend gerne im Tässchen vorbeischauen. Manni, Hugo und der Rest fehlen mir. (Den ganzen Tag bei meiner Tante rumsitzen ertrage ich außerdem nicht.) Du hast nichts dagegen, oder?‘ – Besser.
Erik verschickte die Nachricht und schob sein Handy in die Hosentasche, bevor er Panik vor der Antwort entwickeln konnte.
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„Wäre es schlimm für dich, nicht zu kommen? Es ist einfach noch zu früh.“
Erik starrte auf sein Display. Er hätte es wissen sollen. Wirklich, was hatte er sich dabei gedacht, überhaupt zu fragen? Natürlich war das Gerede darüber Freunde zu bleiben lediglich eine Floskel von Marco, um ihn nicht schlimmer als unbedingt nötig zu verletzen. Absolut erbärmlich, dass Erik das nicht sofort begriffen hatte.
Um nicht völlig das Gesicht zu verlieren, tippte er: „Kein Problem :) Dann wünsche ich dir schonmal schöne Feiertage!“ Danach verbannte er sein Handy erneut in seine Hosentasche und schwor sich, es für den Rest seiner Schicht nicht mehr anzufassen.
„Schlechte Neuigkeiten?“, fragte ihn Nathalie, als sie neben ihm Stellung an der Bar bezog. Inzwischen hatte Erik die meisten Barkeeper im Tix kennen und mögen gelernt, doch mit niemanden arbeitete er lieber zusammen. „Du siehst niedergeschlagen aus.“
„Ah, nur erschöpft.“ Es fiel ihm nicht schwer, die Lüge mit einem Lächeln zu maskieren, darin hatte er jahrelange Übung. Nur Marco hatte regelmäßig durch seine Scharade hindurchgesehen – diesen Namen wollte Erik für heute aber so weit wie möglich aus seinem Kopf verbannen. „Es ist alles gut.“
„Ist es nicht.“ Frau Černá – Doris, seit sie Erik an seinem ersten richtigen Arbeitstag das Du angeboten hatte – stand neben der Bar, eine Hand in die Hüfte gestemmt, in der anderen ein Klemmbrett, das sie mit düsterem Blick musterte. „Wir sind eh schon unterbesetzt und ihr alle drückt euch um die Frage, wer über die Feiertage die Bar übernimmt. Also? Freiwillige vor.“
„Ich übernehme gerne“, sagte Erik.
„Jung, neu und motiviert. So lobe ich mir das. Weihnachten, oder Neujahr?“
„Beides.“ Bevor Doris den Zweifel, der auf ihrem Gesicht lag, verbalisieren konnte, erklärte er: „Ich fahre definitiv nicht nach Stuttgart, das ist jetzt geklärt. Also kann ich arbeiten, wenn das heißt, dass jemand anderes aus dem Team dafür frei bekommt.“
Einige ungesagte Sätze wechselten zwischen ihnen hin und her, bis sich Doris mit seiner Entscheidung zufriedengab. „Du weißt, wie man sich einschleimt. Nathalie, wie sieht’s bei dir aus?“
Während die beiden diskutierten, bereitete Erik die Bar für den anstehenden Abend vor. Hoffentlich wurde das Tix von trinkfreudigen Gästen überrannt. Heute, an Weihnachten, Silvester und jedem anderen Tag, an dem er Schicht hatte. Hauptsache, er fand keine Zeit zum Nachdenken.
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Beinahe wäre der Radiowecker an der Wand zerschellt. Dafür hätte sich Erik allerdings anstrengen müssen, was um diese Uhrzeit nicht infrage kam. Also brachte er die obligatorische Weihnachtsmusik – Last Christmas, schon wieder! – auf weniger brutale Art zum Schweigen, deaktivierte seinen Wecker und wälzte sich zurück unter die Decke, um eine weitere Mütze Schlaf abzugreifen.
Erfolglos.
Der Schlaf, den er für gewöhnlich mit Leichtigkeit fand, entkam ihm heute. Stattdessen kreisten Eriks Gedanken um das Datum. Vierundzwanzigster Dezember. Weihnachten. Das Fest der Liebe, Familie und Freunde. Sofern man nicht allein in einer fremden Stadt saß, ohne Eltern, ohne Partner, dafür mit Freunden, deren Leben so eng mit dem seines Ex verwoben waren, dass er Angst hatte, sie durch die Trennung ebenfalls verloren zu haben.
Missmutig erklärte er seinen Plan, die erste Hälfte des Tages zu verschlafen, um die Wartezeit bis zu seiner Schicht im Tix auf ein Minimum zu reduzieren, für gescheitert. Warum musste er auch vergessen, seinen Wecker auszuschalten? Im Gegensatz zu seinen Kommilitonen fand er wenig Gefallen an den Weihnachtsferien. Keine Vorlesungen bedeuteten mehr Zeit für sich selbst, und mehr Zeit für sich selbst bedeutete zu viel Zeit zum Grübeln.
Wie üblich startete Erik mit einer Runde Yoga in den Tag. Ein dynamischer und fordernder Flow sich wiederholender Asanas; schnell und zu anstrengend, um unliebsamen Gedanken nachzuhängen. Shavasana, die Abschlussentspannung, übersprang er allerdings lieber.
Sein schlechtes Gewissen beruhigte er, indem er schwor, sich dafür endlich bei dem Yogastudio anzumelden, mit dem er bereits seit seinem Umzug liebäugelte. Ein weiterer Termin, der ihm half, die Stunden rumzubringen, war genau das, was er brauchte. Möglicherweise schloss er durch den Kurs sogar die eine oder andere neue Bekanntschaft.
Resigniert seufzend sank Erik zurück auf seine Yogamatte. Er konnte nicht ewig weglaufen. Wofür hatte er jahrelange Therapie hinter sich gebracht, wenn er bei der ersten ernsthafteren Krise alles Gelernte in den Wind schlug und wieder in ungesunde Verhaltensweisen fiel? Irgendwann würde er sich seinen Gefühlen stellen müssen und anfangen, die Trennung zu verarbeiten.
Nach dieser inneren Überzeugungsarbeit streckte er sich auf der Yogamatte aus, die Beine hüftbreit geöffnet, die Arme an den Seiten, Handflächen nach oben, und schloss die Augen. Zu Beginn gelang es ihm sogar, sich auf seine Atmung zu konzentrieren und die Anspannung aus seinen Muskeln zu vertreiben, bis sein gesamter Körper angenehm schwer in die Matte sank.
Erwartungsgemäß hielt diese Ruhe nicht lange an. Eriks Gedanken begannen zu kreisen, flatterten von einer Erinnerung zur nächsten. Marco und er im gemeinsamen Urlaub, italienische Sonne und Salzwasser auf der Haut. Kräftige Arme, die ihn umschlossen, ihm Halt und Wärme schenkten, wenn sich sein Körper wie so oft eiskalt anfühlte.
Das Tässchen, hell erleuchtet und feierlich; eine Zuflucht für jene, die nicht wussten, wo sie Heiligabend verbringen sollten. Der prachtvolle Weihnachtsbaum, den Erik als Kind geschmückt hatte, unterstützt von seinen Eltern, deren Gesichter von Tag zu Tag mehr verblassten.
All das gehörte der Vergangenheit an. Erneut war der Boden unter seinen Füßen weggebrochen und sein soziales Netz in Rauch aufgegangen. Niemand, der ihn in die Arme schloss, ihn festhielt und liebte, sogar an Tagen, an denen er das selbst nicht schaffte.
Erik rollte sich zusammen, kämpfte gegen den Schmerz, der ihm die Luft zum Atmen nahm. Auf gewisse Weise setzte er seinen Plan, nicht aufzustehen, bis er ins Tix aufbrechen musste, doch noch um.