Was zuletzt geschah:
Eriks Umzug nähert sich mit großen Schritten. Die letzten Kartons werden gepackt und über Jahre gehütete Erinnerungsstücke sicher verstaut. Dabei kommen Emotionen hoch, die nicht nur mit dem Abschied aus Stuttgart zu tun haben, und Erik bittet Marco, ihn vor seiner Abreise zum Grab seiner Eltern zu begleiten. Eine Bitte, die Marco niemals abschlagen könnte.
Kapitel 12
Das Wetter wollte nicht mitspielen. Es hätte trüb sein sollen, regnerisch; erfüllt mit Wolken, die auf die Erde drückten. Stattdessen kitzelten Sonnenstrahlen Eriks Nacken, die Blätter der dicht an dicht stehenden Linden flatterten in einer sanften Brise und im nahegelegenen Park stiegen Drachen in den Himmel.
Was kümmerte die Welt schon die Tragödie eines einzelnen Menschen?
Selbst die Friedhofsmauern wirkten einladend statt einschüchternd. Weiß getünchte, übereinandergestapelte Steine, geteilt durch ein gusseisernes Tor. Erik ging nicht hindurch. Er wartete.
„Scusa. Bin ich zu spät?“
„Ich war zu früh.“ Widerstrebend ließ sich Erik von Marco in die Arme schließen. Er wollte den in der Umarmung liegenden Trost nicht. „Lass uns reingehen.“
Zwei Schritte hinter dem Tor blieb er erneut stehen. Keine der Erinnerungen an die Beerdigung seiner Eltern passte zu dem, was er sah. Die Wege stimmten nicht überein, waren weitläufig und offen, anstelle des engen Tunnels in seinem Gedächtnis. Erik suchte nach einem Orientierungspunkt.
„Alles okay bei dir?“, fragte Marco besorgt.
„Ich bin mir nicht sicher, wo wir lang müssen.“
„Weißt du die Grabnummer?“
„Nein.“ Er hatte nicht damit gerechnet, sie zu brauchen. Der Tag der Beerdigung spielte sich noch immer lebhaft vor seinem inneren Auge ab, belagerte bis heute seine Träume. Wie konnten diese Bilder so stark von der Realität abweichen?
„Bestimmt weiß deine Tante, wo das Grab ist.“
„Mhm.“ Mit Sicherheit. Und dann überhäufte sie Erik mit einem Schwall Sorge und Mitleid. Nein danke. „Wir finden es schon.“
Marco widersprach nicht und auch das ärgerte Erik. Man durfte ihm ruhig sagen, wenn er sich unvernünftig verhielt.
Schweigend liefen sie die Reihen ab, Marco eine stille Präsenz an Eriks Seite, Erik zu beschäftigt mit der Umgebung und sich selbst, um sie zu schätzen. Die Minuten zogen sich, bis sich an einer Ecke, die aussah wie alle anderen, sein Gedächtnis meldete. Er erinnerte sich an die Eiche, unter deren Schatten er damals Schutz vor der gnadenlos herabbrennenden Sonne gesucht hatte. Oder Schutz vor Regen? War es heiß an diesem Tag gewesen, oder kalt? Trocken oder nass? Wer hatte an seiner Seite gestanden? Seine Tante? Niemand? Erinnerungen, die er lange für real gehalten hatte, drohten zu zerfallen.
„Erik?“
„Hier entlang.“ Müller, Baumgartner, Schuster. Nach unzähligen Grabsteinen stoppte Erik. In heller Gravur auf dunklem Granit standen die Namen seiner Eltern, Alexander Kolb und Marion Hertel-Kolb. Keine schwülstigen Sprüche, keine poetischen Zeilen. Nur ihre Namen, Geburtsdaten und das identische Datum ihres Todestags.
Schwer legte sich eine Hand auf seine Schulter. Wieder so eine tröstende Geste. Erik sollte dankbar sein, für den Halt, den Marco ihm schenkte, doch er fand weder Dankbarkeit noch Trauer in sich. So sehr er danach suchte, er fand gar nichts.
Zum ersten Mal seit über vier Jahren stand er an dem Ort, an dem seine Eltern begraben lagen. Weshalb hatte er ihn so lange gemieden? Hier warteten keine Geister auf ihn. Nur ein einzelner Grabstein.
Sollte er Erleichterung spüren? Er hatte sich seinen Ängsten gestellt und diese Hürde unbeschadet genommen. Ein Stein sollte ihm vom Herzen fallen, ein Flattern hindurchgehen, ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfen. Nichts.
Das Einzige, das Erik spürte, war Marcos Blick. Wachsam, darauf wartend, dass Eriks Dämme brachen und er seinen Emotionen freien Lauf ließ. Was dachte Marco, wenn das nicht passierte? Hielt er Erik für kaltschnäuzig? Das Trauma, das der Tod seiner Eltern verursacht hatte, für einen Vorwand, um mit Samthandschuhen angefasst zu werden?
Nein, das passte nicht zu Marco. Dennoch lasteten die Erwartungen schwer auf Erik. „Ah, könntest du mich allein lassen? Nur für ein paar Minuten?“
Marco öffnete den Mund, überlegte es sich anders und überspielte sein Zögern mit einem warmen Lächeln. „Ich warte am Eingang auf dich, okay?“
„Danke.“
Noch einmal drückte Marco Erik an sich, dann folgte er dem Pfad, den sie gekommen waren. Erik blieb allein zurück.
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum ich unbedingt herkommen wollte.“ Auf dem leeren Friedhof schien sogar sein Flüstern zu hallen und er kam sich sofort dämlich vor. „Ich glaube nicht an Gott, das Paradies, oder überhaupt an ein Leben nach dem Tod. Ihr habt auch nicht daran geglaubt. Warum stehe ich also hier und unterhalte mich mit einem Stein?“ Kopfschüttelnd amüsierte sich Erik über das lächerliche Bild, das er abgeben musste. Ein junger Mann, der auf einem Friedhof Selbstgespräche führte. „Zeit, zu gehen. Ich würde gerne sagen, dass es gut getan hat, hier gewesen zu sein, aber das wäre gelogen.“
Anstatt sich auf den Weg zu machen, tigerte er vor dem Grab auf und ab. „Was hatte ich auch erwartet? Katharsis? Ein einziger Besuch hier sollte mehr bringen als vier Jahre Therapie?“ Er schnaubte abfällig. „Ich finde, ich habe mein Leben ganz gut auf die Reihe bekommen. Nicht perfekt, offensichtlich, aber im Großen und Ganzen … Ich meine, ich bin Jahrgangsbester an meiner Schule und habe einen Studienplatz an der Charité. Ich kann kochen und putzen und meinen Alltag organisieren. Und das Wichtigste: Einer der wundervollsten Menschen, die ich kenne, hat entschieden, eine Beziehung mit mir zu wollen. Das alles habe ich ohne euch geschafft. Mehr als das. Ich habe all das geschafft, obwohl ihr mich verlassen habt!“
Das Wetter zeigte doch noch Erbarmen und passte sich endlich der Situation an. Dicke Regentropfen benetzten Eriks Wangen. Nur, dass nicht einmal weiße Schafswölkchen den Himmel bedeckten.
Wütend wischte sich Erik über die Augen. „Ich wünschte, ich könnte euch klarmachen, wie sehr ich euch dafür hasse, dass ihr damals ohne mich weggefahren seid. Dass ich nicht mit im Auto gesessen bin. Dass ich allein bin. Aber ihr seid tot und vor mir steht nur ein verfluchter Stein!“ Seine Stimme brach. Umgeben von Sonnenschein, weinte Erik um seine Familie.
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Marco versuchte, den sonnigen Tag zu genießen, doch das schlechte Gewissen hielt ihn davon ab. Weniger als hundert Meter von ihm entfernt trauerte Erik am Grab seiner Eltern; kaum der richtige Moment, sich über das Wetter zu freuen, so traumhaft es auch sein mochte.
Zumal Marcos Gedanken immer wieder bei seinen eigenen Eltern landeten. Das Leben konnte so kurz sein. Man wusste nie, wann man einen geliebten Menschen zum vielleicht letzten Mal gesehen hatte. Wie lächerlich es aus dieser Perspektive erschien, die gemeinsame Zeit künstlich zu verknappen.
Marco ignorierte das Zittern seiner Hände, als er die Nummer seiner Eltern in sein Handy tippte. Das Freizeichen dröhnte in seinen Ohren.
„Pronto?“
„Mamma. Sono io.“ Ich bin’s. Mit angehaltenem Atem zählte Marco die verstreichenden Sekunden. Eine. Zwei. Drei. Das Freizeichen erklang erneut. Seine Mutter hatte aufgelegt, ohne ein einziges Wort an ihn zu richten. Marco drückte die Wahlwiederholung. Der Anruf wurde schon beim ersten Klingen angenommen. „Mam–“
„Non chiamare mai più qui.“ Ruf hier nie wieder an. Die Verbindung brach ab, ein weiterer Versuch endete in der Mitteilung, die Nummer sei derzeit nicht erreichbar.
Kies spritzte auf, als Marco sein Handy auf den Boden pfefferte. Das Display zersprang, die Abdeckung löste sich und der Akku landete einen guten Meter vom Rest des Geräts entfernt. Beschämt verbarg Marco sein Gesicht hinter den Händen, suchte Schutz vor den Blicken der Friedhofsbesucher und dem wie Gift durch seine Adern kriechenden Zorn.
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„Du bist ja noch hier.“
Marco blickte von den Überresten seines Handys auf. „Wo sollte ich sonst sein?“
Erik zuckte mit den Schultern. „Zuhause. Es ist spät geworden.“
„So schnell wirst du mich nicht los.“ Besorgt musterte Marco Erik. Seine Augen waren gerötet und seine Wangenknochen stachen unter kalkweißer Haut hervor. „Bist du okay?“
„Was ist mit deinem Handy passiert?“
So viel zu Marcos Versuch, die Überreste unauffällig in seine Hosentasche zu stopfen. „Ist mir runtergefallen.“ Er rechnete mit Sarkasmus, oder zumindest einer kritisch hochgezogenen Augenbraue, stattdessen nahm Erik die Ausrede einfach hin. Möglicherweise hatte er sie nicht einmal als solche durchschaut. „Brauchst du eine Pause?“
„Ich will nach Hause.“
Marco schluckte einen Klumpen Enttäuschung herunter. Sein Wunsch, Erik zu trösten, durfte nicht dessen reale Bedürfnisse überschatten. Wenn er im Moment allein sein wollte, musste Marco das akzeptieren. „Soll ich dich noch bis zur Tür begleiten?“
„Ah, entschuldige, ich–“
Vorsorglich kramte Marco sein verständnisvollstes Lächeln hervor und wappnete sich gegen die Zurückweisung.
„–meinte zu dir nach Hause. Wäre das in Ordnung?“
Marco wagte es, einen Schritt auf Erik zuzugehen. Prompt sank dessen Kopf schwer gegen seine Schulter. „Du kannst auch länger als eine Nacht bleiben, weißt du? Bei dir stapeln sich überall Umzugskartons. Ist doch doof, in einer leergeräumten Wohnung zu sitzen, wenn du die letzten Tage bis zu deinem Umzug auch einfach bei mir wohnen könntest.“
„Ich denke, das würde mir gefallen.“ Als Erik den Kopf hob, huschte der Ansatz eines Lächelns über seine Lippen. „Und danke, dass du auf mich gewartet hast.“
„Immer.“
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Marco warf ein Geschirrtuch über seine Schreibtischlampe, bevor er sie anschaltete. Hinter ihm schnarchte Erik leise ins Kissen und er fürchtete, ihn trotz des schweren Vorhangs vor dem Bett durch das Licht zu wecken. Wie Erik schlafen konnte, nachdem sich Marco stundenlang neben ihm gewälzt hatte, blieb ihm ohnehin ein Rätsel.
In der Stille der Wohnung hallte die Stimme seiner Mutter in Marcos Kopf. Die Kälte, mit der sie ihm gesagt hatte, er solle nie wieder anrufen. Ihre Weigerung, seine bloße Existenz anzuerkennen.
Marco hatte es satt. Er wollte es seiner Familie nicht länger leicht machen, ihn zu vergessen. Mit vor Wut zitternden Händen nahm er sich einen Stift und ein Blatt Papier und begann zu schreiben. Die Worte sprudelten aus ihm heraus, so wuchtig, dass er sie kaum in die korrekte Reihenfolge bringen konnte. Bald zierte seine Schrift ein zweites Blatt und erst, als er das Ende eines dritten erreicht hatte, ebbte der Wortfluss ab.
Nach einer Atempause zerknüllte Marco den Brief und begann von vorne. Es hatte sich gut angefühlt, den Zorn und die Enttäuschung, die er in sich trug, aufs Papier zu bringen, aber es war nicht das, was seine Eltern von ihm lesen sollten. Stattdessen entschied er, ihnen von seinem Leben zu erzählen. Vom Abschluss seiner Lehre, den sie verpasst hatten. Von seinem Job, seiner Wohnung, dem Boxtraining, seinen Freunden und den Schnitzereien, die er anfertigte.
Den letzten Absatz widmete er Erik. Seinem cleveren, ehrgeizigen Freund, der einen herausragenden Schulabschluss hingelegt hatte, um nun in Berlin Medizin zu studieren. Das waren die Dinge, von denen Marco wollte, dass seine Eltern sie wussten.
Mit einem abschließenden Schwung seines Stifts unterzeichnete er den Brief und legte ihn zur Seite. Ob er ihn abschickte, konnte er morgen entscheiden. Im Augenblick besaß er nicht einmal einen Briefumschlag, geschweige denn Briefmarken.
Fühlte er sich besser? Kaum. Müde? Naja.
Trotzdem schlich Marco auf leisen Sohlen zurück zum Bett. Erik lag auf der Seite, das Gesicht abgewandt, sein Körper nahezu reglos. Ausgelaugt vom Friedhofsbesuch.
Nach ihrer Rückkehr hatte er sein Bestes gegeben, einen schönen Abend mit Marco zu verbringen, doch immer wieder hatte sich ein Schleier über seine Augen gelegt und seine Antworten waren einsilbig ausgefallen, sofern er überhaupt reagierte. Obwohl sonst eine ausgeprägte Nachteule, hatte er Marcos Vorschlag, früh schlafen zu gehen, sofort angenommen.
Behutsam kroch Marco ins Bett. Er kämpfte gegen das Verlangen ein wenig Krach zu machen, gerade ausreichend, um Erik … nicht zu wecken, nur weit genug aus dem Land der Träume zu holen, damit er sich umdrehte und an ihn schmiegte. Aber Marco blieb leise und Erik bewegte sich nicht. Vielleicht besser so, es wäre ohnehin nicht die Art Wärme gewesen, nach der sich Marco im Augenblick sehnte. Und selbst wenn, verschwand Erik in wenigen Tagen nach Berlin und ließ ihn in Stuttgart zurück.