Was zuletzt geschah
Es ist vollbracht! Nach langen Monaten hält Erik endlich sein Abschlusszeugnis in den Händen und das auch noch mit Traumnote. Damit steht seinem Medizinstudium nichts mehr im Weg. Abgesehen von der harten Konkurrenz und der strengen Auswahl an den Universitäten, versteht sich. Deshalb sollte es Marco kaum überraschen, dass Erik sein Netz deutschlandweit auswerfen muss und möchte. Tut es aber doch, denn möglicherweise hätte er das zwischenzeitlich wenigsten kurz erwähnen sollen. Wie so vieles andere auch.
Kapitel 3
Ein unsichtbares Gewicht quetsche Eriks Brust, raubte ihm den Atem. Immer wieder schnappte er nach Luft, doch es genügte nicht. Es genügte nicht. Die Welt verschwamm vor seinen Augen. Nicht länger in der Lage, aufrecht zu stehen, sackte er gegen den Fenstersims.
Übertönt vom panischen Schreien seines Überlebensinstinkts, flüsterte der rationale Teil seines Gehirns, dass er mitnichten in Lebensgefahr schwebte. Ja, sein Herz raste, allerdings nur, um so viel sauerstoffhaltiges Blut wie möglich durch seinen Körper zu pumpen. Aus demselben Grund schnappte er nach Luft – hyperventilierte – bis er fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren. Seine Finger kribbelten und sein Magen wurde flau, weil sein Körper das mit Sauerstoff angereicherte Blut fröhlich in die für eine Flucht entscheidenden Körperteile jagte und dafür andere unterversorgte.
Nichts davon würde ihn töten. Es ging im gut. Es ging ihm gut. Es ging ihm gut!
Mit geschlossenen Augen wiederholte Erik dieses Mantra, fokussierte sich auf seine Atmung. Kontrolliert einatmen. Halten. Langsam ausatmen. Nicht zu viel Sauerstoff aufnehmen. Es ging ihm gut.
Hitze kroch über seine Haut, Schweiß rann über seine Stirn. Er konzentrierte sich auf das Prickeln der Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht, auf den modrigen Geruch seiner Wohnung, der nie verschwinden wollte, egal, wie oft er lüftete und das Klackern der High Heels auf dem Bordstein unter seinem Fenster.
Er bekam Luft, auch, wenn es sich nicht so anfühlte. Sein Herz drohte nicht stehenzubleiben, da konnte es noch so sehr holpern. Er würde nicht sterben, sein Körper reagierte lediglich auf den Ausnahmezustand, den seine Psyche ihm vorgaukelte. Bald würde sich das alles beruhigen. Es ging ihm gut.
Mit der Zeit ebbte die Panikattacke ab, hinterließ kalten Schweiß auf Eriks Haut und Staub in seinem Mund. Als sich seine Beine nicht länger wie Wackelpudding anfühlten, tapste er auf der Suche nach einem Glas Apfelschorle in die Küche. Abwesend rieb er über seine noch immer zu enge Brust.
Die wievielte Panikattacke war das nun innerhalb der letzten sechs Monate? Wenn das so weiterging, würde er nicht umhinkommen, Marco davon zu erzählen. Bei dieser Gelegenheit durfte er dann auch gleich erklären, warum er sie so lange vor ihm verborgen hatte.
Mit einem Glas Schorle in der Hand und einem Seufzen auf den Lippen, setzte sich Erik zurück an den Tisch, auf dem sein aufgeklappter Laptop stand. Höhnisch blinkte ihm das Formular zur Priorisierung seines Wunschstudienorts entgegen. Platz eins für Tübingen, Platz zwei für Berlin, womit er die Charité im Grunde abhaken konnte.
Sollte er in Tübingen keinen Studienplatz über die Abiturbestenquote erhaschen, wurden ihm für Berlin all jene Bewerber vorgezogen, die die Stadt an oberste Stelle ihrer Wunschliste gesetzt hatten. Seine Abschlussnote war gut, aber sie genügte für einen der wenigen Plätze, die danach vielleicht – nur vielleicht – übrigblieben.
Damit bliebe die direkte Auswahl der Hochschule, bei der es noch strenger zuging. Wie auch Tübingen, nutzte Berlin die Rangfolge der Wunschstudienorte als Ausschlusskriterium. Stand die Uni in der Bewerbung nicht auf Platz eins, wurde man gar nicht erst in den Pool potenzieller Kandidaten aufgenommen.
Eriks rieb über seine Brust, während er mit der anderen Hand seinen Nacken massierte. Hartnäckiger Kopfschmerz blitzte hinter seinen Augen, von Minute zu Minute greller. Nun also auch noch ein Migräneanfall?
Er sollte mit Marco sprechen. Sollte ihm von den Panikattacken erzählen, die am Vorabend des Medizinertests im Frühjahr begonnen und ihn über die gesamten Abiturprüfungen hinweg begleitet hatten. Panikattacken, die entgegen jeder Hoffnung und trotz wiederholter Therapiesitzungen, offenbar nicht so schnell aufhören wollten.
Schon wieder ein Problem, das er Marco vor die Füße kotzte. Dabei hätte alles einfacher werden sollen. Die Prüfungen waren gelaufen, seine Chancen auf einen Studienplatz standen objektiv betrachtet gut. Sogar die Chancen auf seinen Wunschstudienplatz in Tübingen.
Nur, dass er nicht nach Tübingen wollte. Egal, wie oft er sich das Gegenteil einredete, sein Herz sehnte sich nach Berlin, sehnte sich nach den Fußstapfen seiner Mutter. Versuchsweise passte Erik die Priorisierung an, setzte Berlin auf Platz eins.
Weder ließ das Beklemmungsgefühl in seiner Brust nach, noch der hartnäckige Kopfschmerz hinter seinen Augen, und doch fühlte er sich besser. Wenigstens versteckte er sich nicht länger vor seinen eigenen Wünschen. Erik klappte seinen Laptop zu, ohne die Änderung seiner Prioritäten zurückzunehmen.
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Wenige Tage später kuschelte sich Erik wohlig seufzend in Marcos Arme, die letzten Nachwehen seines Höhepunkts in den Muskeln. Marcos Atem blies warm gegen sein Ohr. „Das war gut.“
„Sì. War es.“
Täuschte sich Erik, oder hörte er da ein Zögern in Marcos Stimme? Er schob den Gedanken beiseite, unwillig, einen schönen Moment von Zweifeln ruinieren zu lassen. „Hat sich Giulia bei dir gemeldet, ob wir mal wieder bei ihr vorbeikommen können?“
„Einigen wir uns darauf, meine Schwester nicht zu erwähnen, solange wir nackt und klebrig im Bett liegen?“
„Pff.“ Erik streckte sich, um nach der Bettdecke am Fußende zu angeln und zog sie sich und Marco bis über den Kopf.
„Prima, jetzt klebt auch noch mein Bettzeug“, murrte Marco.
„Du wolltest morgen doch sowieso waschen.“ Erik quietschte empört, als er zur Antwort einen kräftigen Klaps auf die rechte Pobacke kassierte. „Aua!“ Gleich darauf besänftigten ihn zarte Küsse auf seine Schläfe. „Also? Besuchen wir Giulia bald?“
„Habe ich verpasst, dass wir uns zwischenzeitlich angezogen haben?“
„Hast du nicht. Aber Bettdecken sind magisch. Hier darf man sich alles erzählen.“
Marco schnaubte. „Ist das so?“
„Mhm. Man sollte sich nur beeilen, bevor man wegen Sauerstoffmangel ohnmächtig wird.“ Blinzelnd betrachtete Erik Marcos verschwommene Umrisse vor ihm. Die Sonne brannte ins Zimmer, doch nur vereinzelte Strahlen fanden die Lücken in ihrer improvisierten Höhle. Die perfekte Gelegenheit, Marco endlich von seinen Panikattacken zu erzählen.
Der Moment kam und ging. Erik verlor kein Wort.
Ein paar Sekunden später schlug Marco schnaufend die Decke zurück. „Das ist ja schlimmer als jede Sauna.“ Eine Schweißperle rann von seiner Stirn zu seinen Augenbrauen und er wischte sie weg. „Giulia hat den kommenden Sonntag vorgeschlagen.“
„Ah, da bin ich bei meiner Tante.“
„Verstehe.“
Falsches Thema. Noch dazu eines, über das sie ebenfalls lieber früher als später sprechen sollten. Leider fürchtete Erik, dass jeder Versuch von vorneherein zum Scheitern verurteilt war. Egal, wie oft er im Selbstgespräch nach den passenden Worten suchte, um Marco zu erklären, weshalb er ihn so lange wie möglich von seiner verbleibenden Familie fernhalten wollte, bisher hatte er sie nicht gefunden.
Es liegt nicht an dir, es liegt an ihnen, klang blöderweise ziemlich abgedroschen. Dabei entsprach es schlicht der Wahrheit. Erik wusste schon jetzt, dass seine Familie etwas an Marco auszusetzen hätte. Seine Bildung, seinen Job, sein Auftreten. Bei Menschen, die Statussymbole über Persönlichkeit stellten, konnte Marco nur verlieren.
Oder, Eriks Familie ging einen anderen Weg und fing wieder an, subtil seine Beziehungsfähigkeit in Frage zu stellen, selbstverständlich nur aus Sorge. Ein Thema, das erst Ruhe gefunden hatte, seit er jede Erwähnung von Marco sorgfältig vermied und alle in diese Richtung laufende Gesprächsversuche konsequent abblockte. Dennoch konnte das nicht ewig so weitergehen, irgendwann musste er Marco seiner Familie vorstellen oder riskieren, dass selbst Marcos überdurchschnittlich strapazierbarer Geduldsfaden eines Tages riss.
„Dann Samstag.“
Zu Eriks immenser Erleichterung schien Marco entschieden zu haben, lieber keine Diskussion vom Zaun zu brechen. „Danke.“
„Nicht dafür.“ Wieder zarte Küsse und sanfte Hände für Erik. Marcos Geduld mit ihm schien unerschöpflich.
Tief sog Erik den Duft nach Kräutern und Holzspänen ein, den Marco verströmte, ließ die Wärme seiner sonnengebräunten Haut auf sich übergehen. Er kannte jeden Millimeter des kräftigen Körpers, bei dem er so oft Schutz und Liebe suchte, jedes Farbenspiel der kastanienbraunen Augen. Was hatte er sich nur dabei gedacht, Berlin als Wunschstudienort zu wählen? Erik schwor sich, das rückgängig zu machen, sobald er nach Hause kam.