Was zuletzt geschah:
Nicht nur Eriks Weihnachten verläuft deutlich anders als ursprünglich geplant, auch Marco ist nur sehr bedingt von Festtagsstimmung ergriffen. Selbst im Tässchen, seinem Rückzugsort, fühlt er sich einsam; das Wissen, maßgeblich dazu beigetragen zu haben, Erik aus Stuttgart fernzuhalten, wiegt zusätzlich schwer auf ihm. Da kann man ihm kaum einen Vorwurf machen, dass er Dragos Einladung, den Abend bei ihm zu verbringen, mit Freuden annimmt. Die Wendung, die der Abend nimmt, hatte er zwar nicht erwartet, beschweren wird er sich allerdings auch nicht. Ebenso wenig wie über Dragos Vorschlag, sich seinen Silvesterplänen anzuschließen.
Kapitel 27
Hinter dichtem Schneegestöber leuchteten Bremslichter wie rotglühende Augen. Marco stoppte, allerdings nicht, bevor sein Wagen auf dem seifigen Untergrund ein gutes Stück weiter schlitterte als ihm behagte. „Sauwetter“, murrte er. „Kommen wir so überhaupt den Berg hoch? Ohne Schneeketten?“
„In den Vorjahren habe ich mir das Auto meines Onkels geliehen, und das ist nicht geländefähiger als deines“, erwiderte Drago vom Beifahrersitz. Eine Sekunde später räumte er ein: „Aber es hat auch nie so geschneit.“
Tja. „Warum geht denn jetzt überhaupt nichts mehr vorwärts?“ Vergeblich versuchte Marco, durch Schneeflocken und über das Dach seines Vordermanns hinweg auszumachen, was den spontanen Stau verursacht hatte. „Hoffentlich gab es keinen Unfall.“
Dass der Wagen vor ihnen einige Minuten später wendete, konnte kein gutes Omen sein. Die finale Antwort erhielten sie gleich darauf in Form eines Polizisten, der an einer Straßensperre auf sie wartete. „Hier geht es heute nicht mehr weiter“, informierte er sie. „Es fällt zu viel Schnee und die Räumdienste kommen nicht hinterher. Ab hier ist die komplette Straße dicht.“
„Gibt es einen anderen Weg den Berg hoch?“, fragte Drago.
„Wir haben oben eine Hütte gebucht“, ergänzte Marco.
Der Polizist schüttelte den Kopf. „Nichts zu machen. Jeder, der jetzt noch nicht oben ist, bleibt im Tal, und wer es hoch geschafft hat, kommt heute nicht mehr runter.“
Marco wandte sich an Drago. „Zu Fuß? Du hast gesagt, der Parkplatz ist eh noch ein ganzes Stück unterhalb der Hütte. Dann gehen wir eben gleich die ganze Strecke.“
Drago starrte aus dem Fenster, die Lippen zusammengepresst. Schließlich atmete er aus, langsam und kontrolliert, als hätte sein nächster Satz genauso gut ein Schrei werden können. „Nein. Vom Parkplatz aus ist man nochmal eine gute Stunde unterwegs und das ist ein wesentlich kürzeres Stück als von hier zum Parkplatz.“
„Wenn Sie die Hütte meinen, die ich vermute, wären das mindestens vier Stunden Fußweg“, sagte der Polizist. „Bei guten Bedingungen. Jetzt ist es dunkel und vermutlich fällt der Schnee die ganze Nacht durch. Viel zu gefährlich.“
Seufzend lehnte sich Marco in seinem Sitz zurück. „Also? Was machen wir?“
„Wenn Sie umdrehen und ein paar Kilometer geradeaus fahren, kommen Sie in eine größere Ortschaft. Der Gasthof dort hat vielleicht noch Zimmer frei und mit etwas Glück sehen die Straßen morgen schon wieder besser aus.“
Was ihnen herzlich wenig half, da sie die Hütte nur für heute Nacht gebucht hatten. Die Vorstellung, bei diesem Wetter den kompletten Weg nach Stuttgart zurücklegen zu müssen, missfiel Marco allerdings ebenfalls. „Grazie. Das versuchen wir.“
Drago schwieg bis zum Gasthof, erhob aber keine Einsprüche, als Marco den Wagen auf dem dortigen Parkplatz abstellte und ausstieg. Im Inneren begrüßte sie der Geruch nach deftigem Essen und das Gewirr zahlreicher Stimmen. „Gut besucht“, kommentierte Marco das Offensichtliche.
Drago erwiderte nichts, also steuerte Marco auf die Wirtin hinter der Theke zu, eine Frau Mitte fünfzig mit von Grau durchzogenen Locken und einladendem Lächeln.
„Willkommen im Alten Wirt. Was kann ich für euch tun?“
„Haben Sie noch Zimmer frei?“, fragte Marco. „Nur für heute Nacht. Die Straße den Berg hoch ist gesperrt und wir kommen nicht zu unserer Hütte.“
Die Wirtin trocknete ihre Hände an einem Spültuch. „Grauenhaftes Wetter, heute. Ihr seid sicher nicht die einzigen, denen das den Urlaub verhagelt. Aber ihr habt Glück im Unglück, ein Doppelzimmer habe ich noch frei.“
„Keine Einzelzimmer?“, fragte Drago.
„Leider nicht. Ist aber ein großes Zimmer mit eigenem Bad.“
Das schien Drago nicht zu beschwichtigen. „Gibt es hier noch andere Hotels oder Gaststätten?“
„Im Ort gibt‘s noch eine Frühstückspension, bei der ihr es versuchen könnt, aber an eurer Stelle würde ich mir keine großen Hoffnungen machen. Es ist Urlaubszeit, da ist eigentlich immer alles ausgebucht. Das Zimmer hier habe ich auch nur frei, weil das Pärchen, das es eigentlich wollte, heute kurzfristig krankheitsbedingt stornieren musste.“
Marco sah Dragos Kiefer arbeiten und erwartete halb, dass er umdrehte und zurück zum Auto marschierte. Stattdessen warf er einen Blick aus dem Fenster – das Schneegestöber hatte sich seit ihrem Gespräch mit dem Polizisten eher verschlimmert als verbessert – und sackte in sich zusammen. „Wir nehmen das Zimmer.“
„Werdet ihr nicht bereuen“, versprach die Wirtin. „Ich mache euch auch einen guten Preis, Frühstück inbegriffen. Abendessen gibt’s noch die nächsten zwei Stunden, danach ist die Küche kalt, aber Getränke und ein paar Kleinigkeiten bekommt ihr natürlich auch später noch. Um Mitternacht spendiere ich sogar ein Glas Sekt. Ihr werdet sehen, Silvester kann man auch hier im Ort toll feiern.“
Da Drago nicht geneigt schien, das strahlende Lächeln der Wirtin zu erwidern, übernahm Marco diesen Part. „Grazie, das rettet uns echt den Abend.“
Nachdem sie die organisatorischen und finanziellen Details geklärt hatten – die Wirtin verlangte weit weniger, als sie in dieser Notlage könnte, dennoch riss die unerwartete Übernachtung eine Lücke in Marcos Finanzen – nahm er den Schlüssel zu ihrem Zimmer entgegen. Erster Stock, zweite Tür rechts.
„Sieht doch ganz gemütlich aus“, stellte Marco nach dem Aufsperren fest, Drago eine schweigende Präsenz dicht hinter ihm. Die Einrichtung glich der des Restaurants im Erdgeschoss. Rustikal mit viel Holz, dazu Karomuster an Vorhängen und Bettlaken. Ein Tisch unterhalb des Fensters bot genug Platz für zwei Personen und das Bett sah ausreichend stabil aus, um sie eine Nacht lang zu ertragen.
Stumm stellte Drago seinen Rucksack auf den Boden, deutlich unzufrieden mit dem Verlauf des Abends. Kein Wunder, er hatte sich sein Silvester sicherlich anders vorgestellt. Was geklappt hätte, hätte er Marco nicht eingeladen, ihn zu begleiten.
„Scusa, dass wir wegen mir nicht auf die Hütte gekommen sind.“
Drago runzelte die Stirn. „Hast du mir bisher verschwiegen, dass du Schneestürme heraufbeschwören kannst?“
„Nah, aber wenn ich heute nicht hätte arbeiten müssen, wärst du wesentlich früher aus Stuttgart weggekommen und würdest es dir vermutlich gerade auf der Hütte gemütlich machen.“
„Ohne dich.“
Die Art, wie Drago das aussprach – als stünde es außer Frage, welche der beiden Optionen er bevorzugte – erleichterte Marco. Offenbar konnte er sich über die Planänderung ärgern, ohne Marco dafür die Schuld zu geben.
„Vermutlich wäre es höflich, unten im Restaurant zu essen …“, sagte Drago hörbar unwillig.
„Vermutlich“, stimmte Marco zu. „Dann hätte ich die hier aber ganz umsonst vorbereitet.“ Grinsend zog er zwei Frischhaltedosen aus seinem Rucksack. „Waren eigentlich für den Fall gedacht, dass wir auf der Fahrt Hunger bekommen, aber dann essen wir sie eben jetzt.“ Die übrigen Lebensmittel, die sie für ihren Hüttenaufenthalt gepackt hatten, würden problemlos eine Nacht im kalten Auto überstehen.
Sein Vorschlag zeigte Wirkung, Drago sah ein halbes Prozent weniger übellaunig aus. Ein weiteres kam hinzu, nachdem er Platz genommen und den Inhalt der Frischhaltedosen inspiziert hatte. Es war lange kein Geheimnis mehr für Marco, dass man Drago mit Kichererbsensalat glücklich machen konnte, also hatte er eben jenen am Vorabend vorbereitet.
Von ihrem Sitzplatz aus lieferte ihnen das Fenster des Hotelzimmers einen grandiosen Ausblick auf die hinter dichten Schneeschwaden funkelnden Lichter des Dorfs. Fehlte nur noch eine Flasche guter Wein und Kerzenlicht, dann wäre das hier eines der romantischten Dates, die Marco je erlebt hatte.
Mit der winzigen Unstimmigkeit, dass er und Drago nicht dateten. Zum Glück. Das letzte, das Marco brauchte, waren weitere emotionale Verstrickungen. Er mochte Drago und vögelte gerne mit ihm, mehr nicht.
Etwas schwirrte ihm allerdings seit geraumer Zeit im Kopf herum. „Weiß wirklich niemand, dass du schwul bist? Nicht einmal Daniel?“
Drago pausierte, die Gabel auf halbem Weg zum Mund. „Mit Ausnahme der Männer, mit denen ich Sex habe, weiß niemand davon. Daniel gehört nicht zu dieser Gruppe.“
„Ist das nicht … anstrengend?“ Selbst nach dem Rauswurf auf seinem Elternhaus hatte Marco sein Comingout nie ernsthaft bereut. Endlich keine Geheimnisse mehr haben zu müssen, hatte alles andere aufgewogen.
Drago antwortete nicht sofort, erweckte jedoch nicht den Eindruck, das Thema beenden zu wollen. Nach einer Weile sagte er: „Mir ist klar, dass Daniel kein Problem damit hätte, aber jede Person, die davon weiß, erhöht das Risiko, dass am Ende die falschen davon erfahren.“
„Wer wäre das?“,
„Meine Familie. Mein Onkel lebt in Stuttgart und wenn er es herausfindet, kann ich nicht darauf vertrauen, dass er meiner Mutter nichts erzählt.“
„Wäre das so schlimm?“ Sollte Marco lieber aufhören zu fragen? Es schien ein heikles Thema für Drago zu sein, aber verflucht, er wollte mehr über ihn und seine Beweggründe erfahren.
Den Appetit hatte er Drago jedenfalls nicht verdorben, denn er genehmigte sich eine vollbeladene Gabel Kichererbsensalat, bevor er weitersprach. „Meine Mutter …“ Er stockte, überlegte und setzte neu an. „Ich höre oft von anderen, dass ihre Eltern wie beste Freunde sind, mit denen sie über alles sprechen können. So eine Beziehung haben meine Mutter und ich nicht. Offensichtlich habe ich meine Geheimnisse vor ihr und ich bin sicher, es gibt Dinge, die sie mir nicht erzählt. Das macht sie nicht weniger wichtig für mich. Sie hat so viel ertragen und auf so vieles verzichtet, um uns eine sichere Zukunft zu bieten. Ich kann sie unmöglich enttäuschen.“
„Und du denkst, das tust du, wenn du ihr die Wahrheit sagst?“
„Ich denke, dass sie sich große Mühe geben würde, mich zu akzeptieren. Aber es wäre schwer. Einen schwulen Sohn zu haben …“ Drago schüttelte den Kopf. „Die Wahrheit ist keine Option.“
Möglicherweise sah er den Zweifel in Marcos Gesicht, denn er fuhr fort: „Ich habe dir schonmal erzählt, dass ich erst spät einen Wachstumsschub hatte. Davor war ich eher klein und zart. Vielleicht, weil ich als Kind noch weniger Lebensmittel mochte als heute.“ Drago nahm sich eine weitere Gabel voll Kichererbsensalat.
Marco fokussierte sich hingegen auf das Wort, mit dem Drago eben sein früheres Ich beschrieben hatte. Zart. Dasselbe Wort hatte er damals für Erik gewählt. Das mochte Zufall sein, doch Marco bezweifelte es.
„Mein Vater wollte immer einen Sohn.“, setzte Drago seine Erzählung fort. „Erst bekam er zwei Töchter, dann mich, und ich hätte ihn unmöglich schwerer enttäuschen können. Zu klein, zu schwach, zu zerbrechlich. Ich habe lieber still Bilder gemalt und meiner Mutter im Haushalt geholfen als draußen mit anderen Kindern zu toben. Mein Vater hat es gehasst. Oft genug musste meine Mutter mich ihm gegenüber in Schutz nehmen. Was sie getan hat.“
Marco spürte das ‚Aber‘ hinter Dragos letztem Satz und wartete, bis er die richtigen Worte gefunden hatte, um fortzufahren.
„Als wir nach unserer Flucht bei meinem Onkel untergekommen sind, habe ich an einem Abend ein Gespräch zwischen ihm und meiner Mutter mitgehört. Ich nehme an, sie dachte, ich würde schon schlafen. Sie …“ Hier unterbrach Drago erneut, doch er schien nicht zu überlegen, wie er seine Gedanken formulieren sollte, sondern die Kraft zu suchen, sie auszusprechen. „Sie hat ihm erzählt, sie würde jeden Tag darum beten, dass ich normal sei.“
„Und du denkst …“
„Ich muss nichts denken. Es war im Kontext eindeutig.“
Es schmerzte Marco, das zu hören. „Meine Familie spricht nicht mehr mit mir, seit ich mich geoutet habe.“
Drago blinzelte. „Das … war mir nicht klar.“
„Äh, ja. Scusa. Vermutlich nicht die Info, die du gerade gebrauchen kannst. Und ich wollte mich damit auch nicht in den Vordergrund drängen.“
„So habe ich das nicht aufgefasst.“
„Dann ... das soll jetzt weder Kritik werden, noch ein Rat. Es ist einfach nur eine andere Perspektive. Ich bin unfassbar traurig, dass das mit meiner Familie so gelaufen ist, aber mich nicht mehr verstecken zu müssen, war es wert.“
„Du würdest es wieder tun?“
„Sì.“
„Es war einer der Gründe, warum ich nach Deutschland wollte“, sagte Drago nach einer kurzen Pause. „Nicht der Hauptgrund, aber die Vorstellung, nicht mehr ganz so vorsichtig sein zu müssen, hat eine Rolle bei meiner Entscheidung gespielt.“
„Du kommst mir ziemlich vorsichtig vor.“
Drago lächelte humorlos. „Tue ich das? Du kennst die Wahrheit, genauso wie jeder andere Mann, mit dem ich Sex hatte.“
Marco verkniff sich die Nachfrage, ob es sich dabei um eine nennenswerte Zahl handelte. Drago sah aus, als hätte er noch mehr zu sagen.
„Nicht lange nach meinem Umzug nach Deutschland habe ich die Gelegenheit genutzt, und mich online mit einem Mann verabredet. Ein paar Jahre älter als ich, gebürtiger Serbe, geschäftlich regelmäßig in Stuttgart. Der Sex war gut, also haben wir uns getroffen, wann immer er in die Stadt kam. Das ging mehrere Jahre.“
„Ging?“, hakte Marco ein. „Was ist passiert?“
„Wir hatten uns für den späten Abend verabredet. Ich wollte zuvor noch zur Geburtstagsfeier meines Onkels und er zu der eines alten Freundes.“
„Sag nicht, dass es auf das hinausläuft, worauf ich denke, dass es hinausläuft.“
Drago quittierte Marcos Kommentar mit demselben humorlosen Lächeln, das er eben schon gezeigt hatte.
„Porco dio“, murmelte Marco.
„Wie ein Reh das Scheinwerferlicht, sagt man, glaube ich. So muss ich ihn angestarrt haben, als mein Onkel uns miteinander bekannt gemacht hat.“
„Wie hat dein, äh, Bekannter reagiert?“
„Er hat mich gerettet, indem er sich vorgestellt hat, als würden wir uns tatsächlich zum ersten Mal begegnen. Als hätte er mir nicht eine Stunde zuvor in aller Ausführlichkeit geschrieben, was er mit mir anstellen wird, sobald wir allein im Hotelzimmer sind. Das hat mir Zeit gegeben, mich zu sammeln.“
„Habt ihr euch danach nochmal getroffen?“, fragte Marco.
„Nein. Es hätte sich angefühlt, als würde ich meinen Onkel hintergehen.“
Irgendwo in Marcos Hirn leuchtete ein Lämpchen auf. „Warte. Ist er der Mann, von dem du neulich erzählt hast? Der …“ In den du dich verliebt hattest. Marco las die Antwort in Dragos Gesicht, noch bevor dieser den Mund öffnete.
„Ja.“
„Wie lang ist das her?“
„Ungefähr neun Monate.“
Also nicht kürzlich, aber vermutlich frisch genug, um immer noch wehzutun. „Scheiße. Das ist … scheiße. Mit sowas rechnet man halt auch einfach nicht.“
„Das ist der Punkt. Ich hätte damit rechnen müssen. Jede einzelne Person, die weiß, dass ich schwul bin, kann dazu führen, dass mein Onkel davon erfährt. Ich gehe viel mehr Risiken ein als ich sollte.“
Marco fragte sich, wie sehr die Angst geoutet zu werden Dragos Leben bestimmte. So viele Geheimnisse, so viel Verzicht. Jahrelange Treffen mit einem Mann, für den Drago nach eigener Aussage Gefühle entwickelt hatte, von einem Moment auf den anderen beendet. Dazu die Gewissheit, niemals eine echte Beziehung eingehen zu können, völlig egal, was das Herz begehrte.
Er brauchte die sich daran anschließende Frage nicht laut zu stellen, denn er sah sie in Dragos Gesicht reflektiert. Ist es das wert?
Marco entschied, einen Themenwechsel einzuläuten, damit die Stimmung nicht kippte. Allerdings funktionierte seine Zunge mal wieder schneller als sein Hirn und schaffte es, gleich zwei sehr persönliche Themen auf die unmöglichste Art miteinander zu verbinden. „Was wollte dein Bekannter denn mit dir anstellen, sobald ihr allein im Hotel seid?“
Drago hob die Brauen. Nach ein paar angespannten Sekunden, in denen Marco innerlich diverse Entschuldigungen vorformulierte, beugte er sich über den Tisch. „Überzeug mich, es dir zu verraten.“
In Dragos Tonfall schwang die eindeutige Aufforderung an Marco, diese Herausforderung zu bewältigen. Weshalb er sich für schlichte Ehrlichkeit entschied. „Ich bin neugierig, worauf du stehst.“
„Ich dachte eigentlich, damit wäre ich sehr deutlich gewesen.“
„Bei dem, was dir nicht gefällt. Was ist mit dem, das dir gefällt? Was willst du ausprobieren, welche Fantasien machen dich heiß? Das ist es, was ich wissen will.“ Leiser raunte er: „Außerdem macht es mich hart, dich darüber reden zu hören.“
Als hätte er alle Zeit der Welt, genehmigte sich Drago den letzten Bissen Salat, tupfte seine Mundwinkel mit der Serviette ab, wickelte anschließend seine Gabel darin ein, verstaute sie ordentlich in der nun leeren Frischhaltedose und faltete die Hände darüber. Erst dann antwortete er, den Blick fest auf Marco gerichtet. „Der Plan beinhaltete Fesseln und einen Knebel. Er wollte mich wehrlos und still, egal, wie sehr ich protestiere.“
„Warum hättest du protestieren sollen?“
„Er hatte ein paar Dinge geplant, die nicht unbedingt zu meinen Favoriten zählen.“
„Und das war okay für dich?“
„Er kannte meine harten Grenzen und hat sich immer daran gehalten. Ich wusste, dass ich ihm in dieser Hinsicht vertrauen kann.“
„Trotzdem hat er Dinge getan, die dir eigentlich nicht gefallen haben. Oder ist genau das der Punkt? Scusa, wenn meine Fragen blöd klingen“, sagte Marco. „Ich versuche nur, ein Verständnis dafür zu entwickeln. Meine eigenen Vorlieben sind dann ja doch eher auf der anderen Seite gelagert.“
Drago nahm sich Zeit, über seine Antwort nachzudenken. „Ich vermute, dir ist inzwischen klar, wie sehr es mich erregt, gehorsam zu sein. Aber es ist ein besonderer Kick für mich, gelegentlich“, er schien nach dem passenden Wort zu suchen, „überwältigt zu werden. Wenn ich meinen Willen nicht bewusst unterordne, sondern er mir explizit genommen wird. Sei es über Fesseln, oder körperliche Dominanz.“
„Und wenn es dir zu viel wird?“
„Dann benutze ich mein Safeword. Oder im Fall eines Knebels ein anderes, davor verabredetes Signal.“
Das klang völlig logisch. Herrgott nochmal, Marco hatte unzählige Male zu dieser und ähnlichen Fantasien masturbiert und die Vorstellung, sie mit einem willigen Partner – nun, einem im Prinzip willigen Partner – auszuleben, verpasste ihm binnen Sekunden eine eisenharte Erektion. Und trotzdem … „Wenn du dein Safeword benutzt, ist es aber schon zu spät. Dann ist doch schon etwas passiert, womit du dich nicht wohlfühlst.“
So sehr er sich bemühte, sie davon abzuhalten, seine Gedanken wanderten permanent zu Erik und den Momenten, in denen dessen negative Erfahrungen ihn beim Sex eingeholt hatten. Ein falsches Wort, eine falsche Berührung, manchmal genügten bestimmte Gerüche, und die Stimmung kippte. Hin und wieder wusste Erik nicht einmal, was genau ihn triggerte. Dass er gute und schlechte Tage hatte; Tage, an denen er mehr zulassen konnte als an anderen, machte die Sache nicht leichter.
Das Schlimme war nicht der Abbruch, der darauf folgte; das Schlimme war Eriks Gesichtsausdruck. Jedes Mal, wenn ihn der Ballast einholte, gegen den er täglich so hart kämpfte, glaubte Marco, etwas in ihm zerbrechen zu sehen. Das Wissen, mehr als einmal der Verursacher gewesen zu sein, wog schwer in ihm. Da hatten auch Eriks regelmäßige Beteuerungen, dass Marco keine Schuld traf, nicht geholfen.
Nur langsam, und mit dem Abstand ihrer Trennung, begriff Marco, wie tief seine Angst, versehentlich Grenzen zu überschreiten, inzwischen saß und wie sehr er damit ihren Sex beeinflusst, ihre gegenseitige Experimentierfreude ausgebremst hatte. Die Erkenntnis allein half aber nicht, sich davon zu lösen. „Ich glaube, das kann ich nicht. Meinen Partner so zu unterwerfen und erst zu merken, dass er wirklich nicht möchte, wenn es schon zu spät ist. Damit könnte ich nicht umgehen.“
Drago sagte lange nichts, doch Marco sah Gedankenströme hinter seinen blassen Augen gleiten. Dieses Schweigen zog sich, bis er die richtigen Worte gefunden hatte. „Das wird kein Versuch, dich umzustimmen. Alles, was ich prinzipiell zulasse, ist ein Angebot von mir an dich. Es ist deine Entscheidung, ob du es annimmst. Aber. Mir ist wichtig, dass dir klar ist, dass das Vertrauen zwischen uns in beide Richtungen geht. Ich vertraue darauf, dass du meine Grenzen wahrst und mein Stopp akzeptierst. Dafür kannst du mir vertrauen, dass ich mein Safeword weder missbrauche noch unnötig zurückhalte.“ Drago runzelte die Stirn. Es wirkte, als wiederholte er das eben Gesagte in Gedanken. „Worauf ich hinauswill, ist, dass ein Abbruch kein Weltuntergang sein sollte. Für keinen von uns beiden.“
Langsam nickte Marco, allerdings nicht völlig überzeugt. „Trotzdem kann es potenziell richtig blöd laufen.“
„Die Gefahr besteht immer“, räumte Drago ein. „Für mich ist entscheidender, wie du damit umgehst, falls das passiert. Dann muss ich mich darauf verlassen können, dass du da bist, wenn ich dich brauche.“
„Ich bin ganz ehrlich, ich habe tierisch Angst davor, dass es mal so weit kommt, aber wenn, dann werde ich dich sicher nicht im Stich lassen.“
„Würde ich dich anders einschätzen, hätte ich keinen Sex mit dir“, antwortete Drago trocken, am Ende stahl sich jedoch ein Lächeln auf sein Gesicht.
Marco schob seinen Fuß unter dem Tisch nach vorne, bis er Dragos Bein streifte. „Fesseln und Knebel kann ich dir heute nicht bieten, aber ich hätte da die eine oder andere alternative Idee.“
Drago brauchte nicht zu antworten, seine Lippen, die sich einen Spalt öffneten und die pinke Zunge, die dahinter aufblitzte, machten deutlich, was er über Marcos Vorschlag dachte.
„Geh duschen“, wies Marco ihn an. „Ich sehe derweil zu, ob ich hier einen brauchbaren Espresso auftreiben kann.“ Sofern er bis Mitternacht durchhalten wollte, brauchte er dringend mehr Koffein im Blut. „Ich erwarte, dass du fertig bist und auf mich wartest, wenn ich zurückkomme.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verließ er das Zimmer, harrte allerdings auf der anderen Seite der Tür aus, um seine Erektion abflauen zu lassen, bevor er sich ins Restaurant begab.
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Herb rann der Espresso Marcos Kehle hinab, wärmte ihn von innen. Himmlisch. Er stellte die leere Tasse zurück auf den Tresen und schob sie zur Wirtin, die sich mit einem anderen Gast unterhielt. Im Begriff aufzustehen – Drago hatte mehr als genug Zeit für seine Dusche gehabt – stoppte ihn etwas feucht-kaltes, das über seine Hand strich. Als er nach unten blickte, begrüßten ihn neugierige Augen über einer dunklen Hundeschnauze. „Oh, ciao. Wer bist du denn?“
„Das ist Timon“, antwortete die Frau neben Marco, die sich eben noch mit der Wirtin unterhalten hatte. Sommersprossen bedeckten ihr Gesicht wie ein Sternschnuppenschauer den Himmel. „Der eigentlich mal gelernt hat, dass wir keine Fremden ablecken. Tut mir echt leid.“
„Kein Ding, ich mag Hunde. Darf ich ihn streicheln?“
„Er freut sich immer über Aufmerksamkeit.“
„Irgendwann hätte ich auch gerne einen, aber dafür bräuchte ich mehr Platz, Zeit und Geld.“ Aktuell wartete Marcos Traum von einem Häuschen im Grünen in weiter Ferne. Er kraulte Timon hinter seinen weichen Öhrchen. „Bist du ein Braver.“
„Normalerweise schon“, sagte seine Besitzerin. „Heute ist er nervös, wegen der Silvesterknaller. Letztes Jahr wäre er uns beinahe durchgedreht, deshalb wollten wir heuer eigentlich auf eine etwas abseits gelegene Berghütte. War ein Tipp von Freunden, dort soll man das Feuerwerk nicht so sehr hören. Blöderweise ist der Pass gesperrt.“
„Oh, ich glaube, dann hatten wir dasselbe Ziel. Wir sind auch eher unfreiwillig hier gestrandet.“
„Dann habt ihr uns wohl das letzte freie Zimmer gemopst“, tadelte Timons Besitzerin. Bevor Marco eine Erwiderung darauf fand, hob sie die Hände. „Nur ein Scherz. Mein Mann hat mich eben angerufen, wir kommen bei der Pension am Ortsrand unter. Die haben eigentlich auch nichts mehr frei, aber weil es mehr oder weniger ein Notfall ist, haben sie wohl noch irgendwo ein Eckchen für uns gefunden.“
„Ein Glück. Sonst hätte ich jetzt ein schlechtes Gewissen.“
„Nicht nötig.“ Sanft zog die Frau Timon zu sich. „Wir laufen dann mal los. Ich will von der Straße runter sein, bevor das Feuerwerk startet. Schönen Abend und frohes Neues!“
Auch Marco kehrte dem gut gefüllten Restaurant den Rücken und stieg die Treppen zu ihrem Zimmer hoch. Kaum durch die Tür, zog er sie eilig hinter sich zu, bevor ein anderer Gast mehr zu sehen bekam als er sollte.
Drago kniete vor dem Bett, nackt, den Kopf nach unten geneigt, den Blick gesenkt, das Haar noch feucht von der Dusche. Seine Hände hielt er am Hinterkopf verschränkt, eine Haltung, die seinen muskulösen Oberkörper betonte. Marco wollte stehenbleiben und ihn mit offenem Mund anstarren, doch was machte das für einen Eindruck? Also umrundete er Drago, ohne ihn näher zu beachten, und gönnte sich ebenfalls eine heiße Dusche.
Das dampfende Wasser wusch die Anstrengungen des Tages von ihm. Da sie sofort nach Beginn seines Feierabends aufgebrochen waren, hatte die Zeit lediglich für eine knappe Katzenwäsche gereicht, weshalb Marco nach einer wenig entzückenden Mischung aus Arbeit, Schweiß und Sägespänen roch. Es stellte ihn vor ein Rätsel, wie Drago es ohne Jammern stundenlang neben ihm im Auto ausgehalten hatte.
Marco beeilte sich nicht übermäßig mit seiner Dusche. Drago durfte ruhig ein wenig ausharren und sich ausmalen, was auf ihn zukam. Zumal seine eigene Fantasie ebenfalls ihre Arbeit aufnahm.
Als er schließlich aus dem Bad kam, wartete Drago in derselben Haltung, in der Marco ihn zurückgelassen hatte, mit dem winzigen Unterschied, dass seine Muskeln merklich zitterten. Wenig verwunderlich. Diese Position über einen längeren Zeitraum aufrechtzuhalten – und Marco zweifelte keine Sekunde daran, dass Drago exakt das getan hatte – musste tierisch anstrengend sein. Dafür hatte er sich eine Belohnung verdient. Vielleicht.
Marco erlöste Drago lange genug aus seiner unbequemen Haltung, um ihn aufs Bett zu befördern. Dort machte er sich seinen Körper zu eigen, bis sie in einem verschwitzten, atemlosen Bündel zusammensackten. Auch ohne Knebel glaubte Marco, Dragos Mund ganz gut beschäftigt zu haben.
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„Noch wach?“, fragte Marco amüsiert.
Drago brummte in sein Kissen, weich und nachgiebig unter Händen, die sich anschickten, die letzten Knoten aus seinen Schultern zu massieren. Silbrige Linien überzogen seine Haut an Oberarmen, Rücken, Hüfte und Oberschenkeln. Dehnungsstreifen; vermutlich ein Souvenir aus der Zeit seines plötzlichen Wachstumsschubs.
„Es ist fast zwölf“, ließ Marco ihn wissen, nachdem deutlich wurde, dass keine weitere Antwort kam. „Hast du Lust, draußen Feuerwerk zu gucken?“
Nach einem Moment Stille murrte Drago. „Geh ohne mich.“
Nicht die Reaktion, auf die Marco gehofft hatte, aber er sah wenig Sinn darin, Drago umzustimmen. Die kurze Anspannung zwischen dessen Schulterblättern, die seiner Antwort vorausgeeilt war, war Marco nicht entgangen. Nur mit Mühe widerstand er der Versuchung, sie wegzuküssen. Stattdessen richtete er sich auf. „Dann sehen wir uns später. Oder morgen früh, falls ich es schaffe, dich nicht zu wecken, wenn ich zurückkomme.“
Undeutliches Brummen, danach Stille.
Musste Marco wohl allein ins neue Jahr feiern. Verrückt, wie anders sein Silvester verlief, als er noch vor wenigen Wochen erwartet hatte, aber daran ließ sich nichts mehr ändern. Hätte er das ursprüngliche Silvester gewollt, hätte er sich nicht von Erik trennen dürfen.
Bevor er einen eigentlich schönen Abend mit Frust ruinierte, kletterte Marco vom Bett, schlüpfte in seine Klamotten und stahl sich ins Restaurant, wo reges Treiben herrschte. Zunächst gönnte er sich eines der bereitgestellten Sektgläser, dann ließ er sich von der Menge nach draußen in die Kälte lotsen.
Schneeflocken tanzten durch die Luft, bedeckten Häuser, Baumwipfel und Straßen mit weißem Plüsch. Gäste und Anwohner stießen miteinander an, bis es sich schwierig gestaltete, inmitten der ausgelassenen Stimmung grummelig zu bleiben. Eine Stimme hinter Marco startete einen Countdown, in den nach und nach alle Schaulustigen einstimmten, ihn inbegriffen.
„Drei! Zwei! Eins!“
Um Marco herum explodierten Jubelrufe und Neujahrswünsche, über ihm explodierte das Feuerwerk. Laut, grell und bunt, vor der beschaulichen Dorfkulisse so völlig anders als in Stuttgart halb betrunken vor einem Club stehend, und trotzdem irgendwie gleich. Marco wollte diesen Moment nicht allein verbringen. Er wollte ihn mit jemandem teilen.
Lachend und gratulierend schlängelte er sich durch das Gedränge zurück ins Restaurant, die Treppen hoch und zu ihrem Zimmer. Selbst wenn Drago schlief, saß Marco lieber still mit ihm zusammen auf dem Bett, als einsam unter vielen auf der Straße zu stehen.
Nur die schummrige Straßenbeleuchtung vor dem Fenster erhellte den Raum, Drago musste das Licht der Nachttischlampe gelöscht haben. Allerdings schlief er nicht, lag nicht einmal auf der Matratze. Beinahe hätte Marco ihn übersehen, vornübergebeugt zwischen Wand und Bett kauernd, sein Atem hektisch und flach, die Hände gegen seine Ohren gepresst.
„Drago?“ Keine Reaktion. „Drago!“
Ruckartig hob dieser den Kopf, die Augen so weit aufgerissen, dass Marco selbst im Halbdunkel das Weiße darin sah. „Es geht mir gut“, presste er zwischen schnellen Atemzügen hervor. „Geh weg.“
Versteinert stand Marco vor der Tür. Alles in ihm weigerte sich, Drago in dieser Situation zurückzulassen. Was zur Hölle war überhaupt los? Sollte Marco Hilfe holen? Aber dann hätte Drago ihn nicht weggeschickt. Oder doch?
Marco wünschte sich, das verfluchte Feuerwerk wäre endlich vorbei; er hörte sich kaum denken. Plötzlich verstand er den kleinen Hund Timon sehr gut. Bei diesem Krach konnte man leicht Panik bekommen.
Oh.
Eine Erinnerung rastete an der richtigen Stelle ein und Marco kapierte, was gerade mit Drago passierte. Oder glaubte zumindest, es zu kapieren.
„Marco! Geh!“
Marco setzte sich in Bewegung, aber nicht Richtung Tür, sondern zu seinem Rucksack, aus dem er seinen treuen mp3-Player herausholte. Eingeschaltet drückte er ihn Drago mitsamt Kopfhörer in die Hand. „Hier.“
Dragos Finger schlossen sich darum, allerdings eher aus Reflex, als dass er zu verstehen schien, worauf Marco hinauswollte. Sein gequälter Atem klang grauenhaft.
Im Gegensatz zu ihm, atmete Marco tief durch. Drago hatte also versucht, dem Feuerwerk zu entkommen. Deshalb verbrachte er Silvester allein in einer abgelegenen Berghütte, anstatt in Stuttgart oder bei seiner Familie. Und nur wegen Marco hatte er es dieses Jahr nicht geschafft.
Behutsam setzte sich Marco zu ihm. „Alles wird gut.“ Er legte jede Unze Überzeugung, die er aufbringen konnte, in seine Stimme, völlig egal, ob er sie tatsächlich verspürte. „Das geht vorbei. Ich weiß, es fühlt sich gerade nicht so an, aber es geht vorbei. Versprochen. Du bist hier in Sicherheit.“
Drago starrte Marco aus geweiteten Augen an, ohne erkennen zu lassen, ob er ihn überhaupt wahrnahm, doch als Marco ihm gestikulierend bedeutete, die Kopfhörer einzusetzen, ahmte er die Bewegung nach. Danach zuckte er wenigstens nicht mehr bei jedem einzelnen Knall zusammen.
Vermutlich war nun die Zeit gekommen, sich zurückzuziehen, obwohl Marcos innere Stimme ihn anschrie, an Dragos Seite zu bleiben. Doch als er Anstalten machte, aufzustehen, packte Drago ihn, die Finger wie ein Schraubstock um sein Handgelenk.
„In Ordnung“, sagte Marco, obwohl Drago ihn nicht länger hörte. „Ich bin hier. Und wir atmen jetzt zusammen.“ Er holte demonstrativ Luft, hob seine freie Hand flach ausgestreckt und hielt sie auf Augenhöhe, während er langsam bis drei zählte. Dann atmete er aus. Gleichzeitig senkte er seine Hand.
Ein paar Tage nach Eriks erster Panikattacke in Marcos Anwesenheit, hatten sie ein langes Gespräch darüber geführt, was in diesen Momenten mit Erik passierte und wie Marco ihn unterstützen konnte. Weshalb die richtige Atmung so einen großen Unterschied machte, und warum sich Marco nicht entmutigen lassen durfte, wenn es Erik nicht gleich gelang, seine Hilfe anzunehmen.
Marco bemühte sich, dieses Wissen nicht aus den Augen zu verlieren, während er im gleichmäßigen Rhythmus atmete, seine Hand hob und senkte, ohne nennenswerte Fortschritte zu erzielen.
Verstand Drago überhaupt, was Marco von ihm wollte? Half es ihm? Brauchte er andere Unterstützung als Erik damals? Verschlimmerte Marco die Situation am Ende nur?
Nicht verunsichern lassen. Unerschütterlich sein, wie ein Fels in der Brandung. Egal wie beschissen sich das für Marco gerade anfühlte, Drago ging es beschissener. Druck half genauso wenig wie Unsicherheit.
Also machte Marco weiter. Atmete. Redete Drago gut zu. Tat sein Bestes, die eigene Angst nicht auf seinem Gesicht zu zeigen.
Irgendwann startete Drago sichtbare Bemühungen, Marcos Atemübung nachzuahmen. Anfänglich wenig erfolgreich – kaum hatte er begonnen, schnappte er erneut panisch nach Luft und es dauerte, bis er die Kraft für einen weiteren Versuch fand – doch Stück für Stück erlangte er die Kontrolle zurück.
Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, lehnte er den Kopf gegen seine angezogenen Knie, ausgelaugt, aber mit normaler Atmung. „Marco …“
„Ja?“ Hörte Drago ihn überhaupt? Er trug noch immer Marcos Kopfhörer.
„Bitte geh.“
Die Finger um sein Handgelenk verschwanden und dieses Mal leistete Marco Dragos Bitte Folge. Draußen brauchte er einige Minuten, bevor er seinen Beinen zutraute, ihn sicher nach unten zu tragen.
~~~~~~~~~~
Behutsam klopfte Marco gegen die Zimmertür. Er hatte die vergangene halbe Stunde im Restaurant verbracht, um Drago und sich Zeit zu geben, ihre Nerven zu beruhigen. Nun, da das Feuerwerk endgültig beendet schien, wollte er nach ihm sehen, bereitete sich jedoch darauf vor, erneut weggeschickt zu werden.
Es dauerte, bis er eine Antwort erhielt. „Komm rein.“
Drago knipste die Nachttischlampe an, als Marco das Hotelzimmer betrat. Er saß auf dem Bett, nur mit einer Jogginghose bekleidet, die Haarspitzen feucht von Schweiß, oder vielleicht, weil er sich das Gesicht gewaschen hatte. In den Händen hielt er Marcos mp3-Player, das Kopfhörerkabel um seine knotigen Finger gewickelt.
„Wie fühlst du dich?“, fragte Marco.
„Besser.“ Drago sah ihn nicht an.
„Gut. Das ist … gut.“
„Du bist so ruhig geblieben. Als wüsstest du genau, was zu tun ist.“
„Wusste ich nicht“, gab Marco zu. „Erik hatte manchmal Panikattacken.“ Stimmte die Vergangenheitsform? Oder litt Erik noch immer darunter? Nicht zu wissen, wie es ihm ging, versetzte Marco einen heftigen Stich. Täglich tippte er Nachrichten, in denen er sich für Weihnachten entschuldigte, doch ihm fehlte der Mut, sie abzuschicken. „Ich habe einfach nur getan, was ihm in der Situation geholfen hat.“ Er bot Drago das von ihm mitgebrachte Glas an. „Apfelsaftschorle. Dachte, du willst vielleicht was mit Geschmack.“
Schweigend nahm Drago das Glas entgegen, nippte daran.
„Das Feuerwerk?“
Drago nickte. „Mein Kopf weiß, dass es harmlos ist, aber mein Körper nicht. Meistens habe ich es im Griff. Heute nicht.“ Er stellte das Glas auf den Nachttisch. „Ich hätte mich besser darauf vorbereiten müssen, aber ich war zu entspannt und bin eingeschlafen. Der erste Knall hat mich geweckt. Das war zu viel.“
„Deshalb die Berghütte.“ Und deshalb hatte Drago vorhin auf ein Einzelzimmer gehofft. Er wollte Marco nicht in seiner Nähe, falls ihn eine Panikattacke überrollte.
„Wie gesagt, meistens habe ich es im Griff, aber ich bevorzuge es, gar nicht erst in die Situation zu kommen.“ Drago starrte auf seine Hände.
Zögerlich trat Marco einen Schritt näher. „Hör mal, es tut mir leid, dass ich nicht gleich gegangen bin, als du mich zum ersten Mal darum gebeten hast. Ich … habe keine gute Ausrede dafür. Nur, dass ich wohl dachte, ich wüsste besser, was du brauchst, als du selbst das tust.“
„Du lagst nicht falsch.“ Drago wandte den Kopf zum Fenster, schien entschlossen, nicht in Marcos Richtung zu blicken. „Ich wollte nicht, dass du mich so siehst. Aber die Musik hat geholfen, und deine Ruhe ebenfalls.“
Gott sei Dank. „Gibt es irgendwas, das ich tun kann? Jetzt gerade, oder falls sowas in Zukunft nochmal passiert?“
„Es wird nicht nochmal passieren. Diese Anfälle sind inzwischen selten.“
Hielt Drago sie ebenso geheim wie seine Sexualität? Es würde Marco nicht überraschen. „Hast du darüber mal mit jemandem gesprochen, der sich mit sowas auskennt?“, fragte er. „Einem Therapeuten oder so, meine ich.“
„Nein.“
Das war der Ton, den Drago anschlug, wenn er genug von einem Thema hatte. So ganz konnte Marco es jedoch nicht fallen lassen. Er streifte sich die Schuhe von den Füßen und ließ sich neben ihm aufs Bett sinken. „Darf ich dir noch eine andere Frage stellen?“
Drago zögerte, bevor er antwortete. „Ja.“
„Kommt das vom Krieg? Ihr seid damals geflüchtet, oder?“
Lange sagte Drago nichts. Dann: „Der Krieg hat damit nichts zu tun.“ Erneut verfiel er in Schweigen, bis Marco glaubte, das Thema wäre endgültig beendet. Er täuschte sich. „Der Auslöser ist mein Vater. Wir sind damals hauptsächlich vor ihm geflüchtet.“
„Oh.“ Marcos Redegewandtheit übertraf sich einmal mehr selbst, doch seine Gedanken wanderten sofort zum Offensichtlichen. „Er hat euch misshandelt.“ Das brauchte er nicht als Frage formulieren.
„Meine Mutter hat sich bemüht, uns von den schlimmsten Ausbrüchen abzuschirmen, aber das bedeutet nicht, dass wir gar nichts mit- oder abbekommen haben.“ Dragos Finger fanden zu der gezackten Narbe an seinem Haaransatz. „Mit den Jahren wurde er immer extremer. Ich erinnere mich nicht mehr, wann er meine Mutter das erste Mal mit seiner Dienstwaffe – er war Polizist – bedroht hat, nur, dass es danach immer wieder passiert ist.“ An dieser Stelle brach Drago ab und es dauerte, bis er erneut das Wort ergriff. „Unerwartetes Knallen versetzt mich in dieselbe Panik, die ich damals gespürt habe, auch dann, wenn ich eigentlich weiß, dass es kein Schuss sein kann.“ Er nutzte dieselbe präzise Sprache wie immer, jede Silbe kristallklar, jedes Wort wie ein Teil eines Uhrwerks, das exakt an jene Stelle gehörte. Doch je länger Marco Drago kannte, umso leichter fiel es ihm, die subtilen Nuancen aus seiner scheinbar gleichförmigen Tonlage herauszuhören. Er war nicht ruhig, er zwang sich lediglich, danach zu klingen.
Blöderweise hatte Marco nicht die geringste Ahnung, was er auf Dragos Geschichte erwidern sollte. Stille breitete sich zwischen ihnen aus; nicht die angenehme Sorte, die sie oft teilten, sondern eine, die nach einer Reaktion verlangte. Also stellte er die einzige Frage, die ihm relevant erschien. „Ist deine Mutter okay?“
Drago öffnete den Mund, runzelte die Stirn, wie er es tat, wenn er nachdachte oder ihm die passenden Worte fehlten, und schwieg. Nach einer Weile sagte er: „Wir sprechen nicht darüber.“
„Nie?“
„Sie hat nie den Ansatz dazu gemacht und ich werde sie nicht drängen. Ich bin selbst nicht scharf auf das Thema. Nach dem, was vorhin passiert ist, schulde ich dir aber eine Erklärung.“
Anstatt zu diskutieren, nahm Marco lieber das ihm entgegengebrachte Vertrauen an und ging respektvoll mit dem Wissen um, dass er gerade einen weiteren Teil von Drago kennenlernte, den dieser vor anderen verbarg. „Seid ihr wenigstens von eurem Vater weggekommen?“
„Es sieht danach aus.“ Unablässig wickelte Drago die Kopfhörerkabel des mp3-Players um seine Finger. Nie zuvor hatte er in Marcos Anwesenheit eine so nervöse Geste gezeigt. „Nach der Flucht wurde uns in Deutschland Asyl gewährt und wir sind bei meinem Onkel in Stuttgart untergekommen. Er ist der Bruder meiner Mutter, nicht der meines Vaters, falls das nicht ohnehin klar sein sollte. Unser Asyl galt aber nur für die Dauer des Kriegs, danach mussten wir wieder zurück. Mithilfe meines Onkels und einigen Freunden meiner Mutter, haben wir eine Wohnung in Belgrad gefunden, weit weg von unserem alten Dorf im Kosovo. Die Stadt war nach den Bombardierungen in Aufruhr, eine gute Gelegenheit, um im Chaos unterzutauchen.“
Vom Umzug von seinem Geburtsdorf nach Belgrad hatte Drago Marco schon einmal erzählt. Nur über die Gründe hatte er sich damals ausgeschwiegen.
„Sicher gefühlt haben wir uns trotzdem nicht. Kurz nach unserer Flucht klingelte bei meinem Onkel täglich das Telefon. Mein Vater hat versucht herauszubekommen, ob wir bei ihm sind, oder er weiß, wo wir uns aufhalten. Auch alle anderen Bekannten und Verwandten meiner Mutter hat er abtelefoniert. Es war“, Drago pausierte, „beängstigend. Personen zu finden, die nicht gefunden werden wollen, ist der Job eines Polizisten, und wir wussten, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis er Erfolg hat. In Deutschland ging es noch, dort hätte er es schwerer gehabt an uns ranzukommen, aber zurück in Serbien … In den ersten Monaten haben wir uns kaum getraut, die Wohnung zu verlassen, aus Furcht, erkannt zu werden.“
Marco schluckte. Was für eine grauenhafte Vorstellung, das ganze Leben in Angst zu verbringen. Ging er zu weit, wenn er weitere Fragen stellte? Er spürte die Überwindung, die das Thema Drago kostete, andererseits hatte dieser ihm mehrfach deutlich gemacht, dass er sich schon meldete, sollte Marco eine Grenze überschreiten. Also sprach er aus, was ihm auf der Zunge brannte. „Hat er euch jemals gefunden?“
„Wir haben nie wieder von ihm gehört.“
„Gar nichts? Keine Anrufe, nichts?“
„Nichts“, bestätigte Drago. „Ich mache mir keine Hoffnungen, dass er tot ist, aber er scheint zumindest das Interesse an uns verloren zu haben. Vielleicht hält er sich auch bewusst bedeckt. Es gibt viele Anschuldigungen über die Verbrechen, die die serbische Polizei im Kosovo begangen hat, und ich würde meinem Vater jedes einzelne davon zutrauen.“
Marco öffnete den Mund für eine Erwiderung, obwohl er nicht wusste, wie die aussehen sollte, doch Drago kam ihm zuvor: „Es gab eine Phase, in der ich mir gewünscht habe, dass mein Vater vor unserer Tür steht. Mir war bewusst, dass das für keinen von uns beiden gut ausgehen würde, aber dann wäre es wenigstens vorbei gewesen.“
„Ich bin froh, dass es nicht dazu gekommen ist“, sagte Marco.
Drago tat ihm nicht den Gefallen, dem zuzustimmen. „Als mir kurz vor meinem Umzug hierher klar geworden ist, dass ich in einem Notfall Stunden brauchen werde, um meine Familie zu erreichen, wäre ich beinahe nicht gefahren.“
„Aber … Selbst wenn du in Serbien geblieben wärst, könntest du nicht immer da sein. Du müsstest trotzdem zur Uni, oder zur Arbeit, und würdest sicher auch ein Privatleben abseits von deiner Familie wollen. Freunde treffen.“ Mit Männern schlafen, von denen niemand wissen darf. Marco sprach den letzten Satz nicht aus. Unnötig, das Messer in einer ohnehin blutenden Wunde umzudrehen. „Klaro wärst du dann trotzdem viel näher dran als jetzt, aber in einem echten Notfall …“
„Macht es keinen Unterschied, ob ich eine halbe Stunde zu spät bin, oder einen ganzen Tag. Ich weiß. Deshalb habe ich mich letztendlich doch entschieden, hierher zu kommen. Einfach hat es die Entscheidung nicht gemacht.“
„Natürlich nicht.“
Wieder breitete sich Stille zwischen ihnen aus und Drago starrte auf seine Hände, als bemerkte er zum ersten Mal den mp3-Player darin. Nach einigen Sekunden rollte er das Kabel ordentlich auf und gab das Bündel an Marco weiter. „Danke nochmal.“
„Ich weiß, du hast gesagt, dass sich das nicht wiederholen wird, aber falls … Was ich heute getan habe, war das, was Erik in dieser Situation geholfen hat. Das heißt nicht, dass es das Richtige für dich ist. Also … Was würde dir helfen?“
Drago blieb eine ganze Weile still. „Ich … bin mir nicht sicher“, sagte er schließlich. „Ich möchte nicht, dass mich jemand in diesem Zustand sieht, aber deine Nähe und Ruhe haben geholfen. Das Atmen auch, obwohl es frustrierend war.“
„Wenn es einfach wäre, würden ja wohl kaum so viele Menschen unter Panikattacken leiden.“
Drago wirkte überrascht; als realisierte er das gerade zum ersten Mal. „Sollte ich wirklich nochmal eine Panikattacke“, er schien zu testen, wie sich dieses Wort in seinem Mund anfühlte, „haben, dann … Bring mich an einen ruhigen Ort, aber lass mich nicht allein.“
Marco nickte, die Brust warm von dem Vertrauen, das Drago ihm entgegenbrachte.
Nachdem offenbar weder er noch Drago im Augenblick mehr dazu zu sagen hatten, beugte sich Marco über den Bettrand und angelte nach seinem Rucksack, um den mp3-Player zu verstauen. Als er sich wieder aufrichtete, spürte er Dragos Blick auf sich, wie eine ungestellte Frage, die im Raum schwebte. „Hm?“
„Eros Ramazotti“, sagte Drago langsam. „Du hörst unironisch Eros Ramazotti.“
„Pah, wer ohne Musiksünden in seiner Playlist ist, werfe den ersten Stein. Willst du mir vielleicht mal zeigen, was du so hörst?“
Drago öffnete den Mund, hielt inne und schloss ihn wieder. Immerhin besaß er den Anstand, zu erröten.
„Dachte ich’s mir doch.“
Ein Gähnen erlöste Drago von einer Erwiderung. „Ich würde gerne das Licht ausmachen.“
„Klaro, tu das. War ein langer Tag.“
Drago wartete, bis sich Marco aus seinen Klamotten geschält und auf dem Bett ausgestreckt hatte, bevor er den Raum in Dunkelheit tauchte. Draußen vor dem Fenster erklang vereinzeltes Gelächter, drinnen raschelte das Laken unter Marcos Versuchen, eine bequeme Schlafposition zu finden.
„Du vermisst ihn.“
Verwirrt drehte sich Marco zu Drago, von dem er lediglich schemenhafte Umrisse erkannte. „Wen?“
„Erik.“
„Wie kommst du darauf?“
„Deine Stimme klingt anders, wenn du von ihm sprichst.“
„Und daraus schließt du, dass ich ihn vermisse?“
„Daraus schließe ich, dass etwas in dir vorgeht, wenn du von ihm sprichst. Dass du ihn vermisst, ist meine Interpretation.“
„Mit der du falsch liegst“, sagte Marco unwirscher als geplant. „Ich vermisse ihn nicht. Es stimmt, ich denke oft an ihn, aber das liegt daran, dass ich mir Sorgen mache. Er ist allein in Berlin und …“, ich habe ihn von seiner Heimatstadt abgeschnitten. „Ich mache mir eben Sorgen.“ Dragos Schweigen und die Dunkelheit umhüllten Marco, drängten auf ihn ein, bis er es nicht länger aushielt, sie und sich selbst zu belügen. „Er fehlt mir. Porco dio, Drago, er fehlt mir so sehr. Ich dachte, mit der Zeit wird es einfacher, aber das ist nicht so. Es wird schlimmer. Alles erinnert mich an ihn, jede Ecke in Stuttgart, an der wir mal zusammen waren. Meine Wohnung. Das Tässchen. Ich hätte dich und Daniel schon lange mal zum Essen zu mir eingeladen, aber ich hänge lieber bei euch rum, weil das neutraler Boden ist. Oder zumindest neutraler als überall sonst. Manchmal fühlt es sich an, als gäbe es keinen Ort in der Stadt, an den keine Erinnerung an ihn geknüpft ist.“ Marco rieb sich über die Augen, in der Hoffnung, das unangenehme Prickeln dahinter loszuwerden. „Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“
„Siehst du keine Chance für einen zweiten Versuch?“, fragte Drago. „Offensichtlich hast du noch Gefühle für ihn.“
„Es wäre der dritte Versuch, und er würde an denselben Problemen scheitern wie die ersten beiden.“ Als Marco keine Antwort erhielt, sprach er aus, was ihm seit Wochen durch den Kopf schwirrte: „Du musst mich für ziemlich feige halten. Oder illoyal.“
„Warum sollte ich?“
„Weil ich einfach so meine Beziehung aufgegeben habe. Für dich ist eine Beziehung nichts, das man mal so eben löst, richtig? Also kann ich mir denken, was du davon hältst, dass ich nicht härter um die meine gekämpft habe.“
Das Bett knarzte, als sich Drago zur Seite drehte. Marco musste ihn nicht sehen, um seinen Blick auf sich zu spüren. „Ich habe mich damals wohl missverständlich ausgedrückt. Mir ist absolut bewusst, dass nicht jede Beziehung funktioniert. Meine Mutter hätte uns allen viel Leid erspart, wenn sie sich Jahre früher von meinem Vater getrennt hätte. Es gibt gute Gründe, weshalb sie es nicht getan hat, trotzdem ändert das nichts daran, dass die Trennung der einzig richtige Weg war. Also nein, ich maße mir nicht an, aus dem Ende deiner Beziehung irgendeine Bewertung über deinen Charakter abzuleiten.“
„Deine Mutter ist doch ein völlig anderer Fall. Natürlich musste sie ihren gewalttätigen Mann verlassen.“
„Meine jüngere Schwester hat sich kürzlich von ihrem Freund getrennt, weil sie Kinder möchte und er nicht. Daniel hat sich von seiner Ex getrennt, weil sie zu wenig gemeinsam hatten. Eine Kommilitonin, weil sie betrogen wurde. Es gibt unzählige Gründe, weshalb Beziehungen auseinandergehen. Ich kann für mich selbst beschließen, niemals leichtfertig eine Beziehung einzugehen und wenn, dann dafür zu kämpfen, dass sie für den Rest meines Lebens hält, und trotzdem anerkennen, dass das manchmal nicht funktioniert, egal, wie sehr man es sich wünscht.“
Ein Knoten, tief verkeilt zwischen Marcos Schulterblättern, löste sich. „Ist das so?“
„Das ist so. Übrigens neige ich nicht dazu, Zeit mit Menschen zu verbringen, die ich für feige und illoyal halte. In der Regel habe ich auch keinen Sex mit ihnen.“
Mit einem Mal kam sich Marco unheimlich blöd vor. Offensichtlich würde Drago nicht aus falscher Höflichkeit mit ihm rumhängen. Definitiv würde er nicht das Bett mit ihm teilen.
„Wäre ich neugieriger“, sagte Drago, „würde ich fragen, ob du deine eigenen Gefühle dir gegenüber auf mich projizierst.“ Er drehte sich zurück auf den Rücken. „Aber ich bin nicht neugierig und du musst nicht antworten.“
Grazie. Änderte nichts daran, dass Marco lange über Dragos Worte nachdachte.