Was zuletzt geschah:
Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünscht. Während Marco in einer prunkvollen Altbauwohnung sitzt, verzweifelt um die Anerkennung von Eriks Familie ringend, begreift er allmählich, dass einiges an Wahrheit in diesem alten Spruch steckt. Als wäre das alles nicht schlimm genug, entfacht das katastrophale Abendessen auch noch einen heftigen Streit zwischen ihm und Erik, den sie zwar klären können, aber Marco fürchtet, dieser Frieden steht auf wackligen Füßen.
Kapitel 6
Mit Magengrummeln drückte Erik die Klingel zur Wohnung seiner Tante. Die Sekunden dehnten sich, bis das Knacken der Gegensprechanlage erklang.
„Reichhardt.“
„Hallo, Tante Susanne. Erik hier. Ich hole Sophia ab, wir wollten in die Bibliothek.“
„Ah, ja. Ja, natürlich. Komm hoch.“
Die Tür gab unter Eriks Händen nach und ließ ihn ins kühle Treppenhaus des Altbaus. Oben angekommen, begrüßte ihn der vertraute Anblick seiner Tante; falsches Lächeln inklusive. „Schön, dass du dir Zeit für Sophia nimmst.“
„Ist doch selbstverständlich.“ Erik spickte an ihr vorbei in die Wohnung, in der Hoffnung, seine Cousine zu erspähen. Stattdessen traf sich sein Blick mit Tobias‘, kurz bevor dieser die Tür zu seinem Zimmer zuknallte und ihm damit jede Gelegenheit nahm, sich für den vergangenen Sonntag zu entschuldigen. Na schön, dann eben nicht.
Eriks Tante stand weiterhin im Eingangsbereich, die Finger zu einem Knoten verschlungen, ihr falsches Lächeln auf den Lippen. „Wie geht es dir?“, erkundigte sie sich.
„Ah, gut. Danke. Und euch?“
„Blendend. Gibt es schon Neuigkeiten zu deinem Studienplatz?“
„Noch nicht, aber ich denke, es wird nicht mehr sehr lange dauern.“
„Es wäre sicher schön, wenn du bald Gewissheit hast.“
„Das wäre es definitiv.“ Bildete sich Erik das ein, oder verlief ihr Gespräch heute besonders zäh? Nicht, dass ihre Kommunikation miteinander jemals einfach gewesen wäre, aber üblicherweise brachten sie wenigstens fließenden Smalltalk zustande. Üblicherweise stellte er ihr zum Sonntagsessen allerdings keine festen Freunde vor, oder ihren Sohn vor versammelter Mannschaft bloß.
Im Nachhinein bereute es Erik, Tobias so angegangen zu sein. Zwar dachte er nach wie vor, dass sich sein Cousin nicht alles erlauben konnte, ohne Widerspruch zu ernten, andererseits verstand er Marcos Kritik, dabei absichtlich den Finger in die eitrigste Wunde gelegt zu haben. Wenn es ihm und Tobias schon nicht gelang, zu einem einigermaßen zivilisierten Verhältnis zu finden, wollte Erik in Zukunft zumindest derjenige sein, der die meiste Größe zeigte.
Was nichts an seinem grundsätzlichen Unmut darüber änderte, wie seine Familie mit Marco umgesprungen war – oder an der Wut auf sich selbst, unbewusst so viele ihrer Glaubenssätze übernommen zu haben. „Wegen letztem Sonntag–“
„Hi!“
Selten freute sich Erik so darüber, mitten im Satz unterbrochen zu werden. Er winkte seiner Cousine. „Hey, Sophia.“
„Sieh nächstes Mal bitte zu, dass du pünktlich fertig bist“, schalt deren Mutter. „Erik wartet schon.“
„Tut mir leid. Ich konnte meine Haarspange nicht finden.“
„Deine Unordnung ist keine Entschuldigung.“
„Ist schon gut“, versicherte Erik, bevor die Situation eskalierte. Bereits jetzt schimmerten Tränen in Sophias Augen. „Waren doch nur ein paar Minuten. Haarspange gefunden?“
Sophia nickte.
„Prima.“ Er streckte die Hand nach ihr aus. „Na dann, wollen wir?“
„Seid bitte spätestens um acht wieder hier“, mahnte seine Tante.
„Machen wir.“ Erik hätte schwören können, Sophia atmete hörbar auf, sobald die Haustür hinter ihnen ins Schloss fiel. Nicht einmal das heiße Sommerwetter fühlte sich so drückend an wie die Stimmung in dieser Wohnung. „Ist bei euch zuhause alles in Ordnung?“
Sie erreichten die Kreuzung zur Hauptstraße, bevor Sophia antwortete. „Mama und Papa hatten Streit mit Tobias. Und miteinander, glaube ich.“
Erik biss sich auf die Zunge. Seine Neugierde schrie nach mehr Informationen, doch sein Anstand weigerte sich, Sophia über ein Thema auszuhorchen, das sie merklich belastete. „Haben sie auch mit dir geschimpft?“, fragte er stattdessen.
„Nein.“ Ihre Hand, die in Eriks lag, griff fester zu. „Papa will Tobias auf ein Internat schicken. Weil er so schlecht in der Schule ist und nie macht, was man ihm sagt.“
„Weiß Tobias schon von seinem Glück?“
Sophia nickte. „Sie haben sich fürchterlich angeschrien, dann ist er weg und die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Ich … Ich dachte, es wäre vielleicht wie bei dir damals. Du bist auch die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen und bald darauf warst du dann fast gar nicht mehr bei uns.“
Eriks Herz schmerzte. Für Sophia, ein wenig für sich selbst und im hintersten Eck sogar für Tobias. Befände sich dessen Familie in derselben Situation, wenn Erik nach dem Tod seiner Eltern nicht zu ihnen gezogen wäre? Wenn er diesen Verlust besser verkraftet hätte? Niemals in die Fänge seines Ex geraten wäre?
Die Nacht, auf die Sophia anspielte, stand ihm lebhaft vor Augen. Erst der Streit mit Tobias, bei dem dieser Erik all die Abscheu entgegengespien hatte, die er für ihn empfand. Anschließend Eriks Flucht zu seinem Ex, wo er nicht den erhofften Rückzugsort vorgefunden hatte, sondern eine nackte Frau und die Gewissheit, seit Monaten hintergangen worden zu sein. Der Hohn in der Stimme seines Ex, als dieser ihre ‚Beziehung‘ beendete, hallte noch immer in seinem Kopf.
„Wir müssen hier links.“
„Hm?“ Aus seinen Erinnerungen gerissen, sah sich Erik um. „Ah, du hast natürlich recht. Entschuldige.“
Sie kamen einen halben Block weit, bevor Sophia fragte: „Glaubst du, Tobias muss ins Internat?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Erik ehrlich. „Wenn er nicht will, werden Frank und Susanne nicht viel tun können. Er wird in ein paar Monaten volljährig, und ich glaube kaum, dass ein Internat ihn überhaupt aufnehmen würde, obwohl klar ist, dass er gar kein Interesse daran hat.“ Erik zögerte, fragte letztlich aber doch. „Möchtest du denn, dass er aufs Internat kommt?“
Sophia knabberte an ihrer Unterlippe. „Eigentlich will ich nicht, dass er weggeht, auch wenn er manchmal ganz schön gemein zu mir ist, aber vielleicht würden Mama und Papa dann weniger oft streiten.“
Innerlich verfluchte Erik den Rest seiner Familie dafür, einem Kind solche Belastungen zuzumuten. Äußerlich bemühte er sich, Warmherzigkeit auszustrahlen. „Du weißt, dass du immer mit mir reden kannst, ja? Oder bei mir vorbeikommen, wenn du mal lieber nicht zuhause sein willst.“
„Aber du ziehst weg, oder? Fürs Studium?“
„Ah, ich weiß noch nicht. Vielleicht. Je nachdem, wo ich angenommen werde.“ Falls er angenommen wurde. „Wenn ich einen Platz in Tübingen bekomme, kann ich theoretisch hier wohnen bleiben und pendeln.“
„Ziehst du dann mit Marco zusammen?“
„Darüber haben wir noch nicht gesprochen.“
„Warum nicht?“
„Bisher kam das Thema einfach nicht auf.“ Genaugenommen hatte Erik es nicht aufkommen lassen, weil er Marcos Antwort fürchtete. Die Vorstellung, mit seinem Freund zusammenzuleben, gefiel ihm. Sogar sehr. Abends auf dem Sofa kuscheln, jede Nacht Arm in Arm einschlafen. Gemeinsam essen und leben und den Alltag bestreiten. Er konnte nur nicht einschätzen, ob Marco genauso empfand.
Sie würden sich eine neue Wohnung suchen müssen, weder Eriks noch Marcos eignete sich dauerhaft für zwei Personen. Erik störte das nicht, doch Marco hatte sein kleines Dachgeschoss mit Talent und langen Arbeitsstunden in ein echtes Juwel verwandelt. Ob er das einfach so aufgab? Und das ausgerechnet für Erik, der überall seinen Kram rumliegen ließ und Marco für die unsinnigsten Kleinigkeiten anpflaumte?
„Ich fand ihn nett.“
Verblüfft blickte Erik zu Sophia. Sie posaunte selten so frei ihre Meinung heraus, nicht einmal bei ihm. Umso mehr freute er sich darüber. „Marco ist wirklich sehr lieb.“ Erik warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ich glaube, er macht gerade Feierabend. Wollen wir ihn anrufen und fragen, ob er uns zur Bibliothek begleitet?“
„Okay.“
„Es ist in Ordnung, wenn du lieber mit mir allein hinwillst.“
„Nein, ist okay. Ihr gehört zusammen, oder nicht?“
Lächelnd fischte Erik sein Smartphone aus der Hosentasche und wählte Marcos Nummer. Das Freizeichen erklang, aber es dauerte, bis am anderen Ende jemand abhob.
„Pronto.“
„Hey, ich bin’s.“
„Ist alles okay bei dir?“
Erik lachte verlegen. Was musste Marco für ein Bild von ihm haben, wenn er hinter einem harmlosen Anruf gleich eine Krise vermutete? „Es ist alles gut. Ich bin gerade mit Sophia auf dem Weg zur Bibliothek und wir haben uns gefragt, ob du uns nicht begleiten willst.“
„Wirklich?“
„Magst du?“
„Klaro!“ Marco klang wie ein Kind, das man fragte, ob es ein Eis wollte. Oder wie Erik, wenn man ihn fragte, ob er ein Eis wollte. „Ich sollte davor duschen. Bin gerade erst von der Arbeit heimgekommen.“
„Kein Problem, hetz dich nicht. Wir gehen schonmal vor. Weißt du, wo du hinmusst? Ist die große Stadtbibliothek in der Nähe meiner Tante.“
„Äh … Frisch mein Gedächtnis auf.“
Erik gab Marco die Adresse durch und legte eine detaillierte Wegbeschreibung als Bonus obendrauf. Auch nachdem er aufgelegt hatte, wollte dieses hartnäckige Lächeln seine Lippen nicht verlassen.
~~~~~~~~~~
„Buh!“
Erik machte einen Satz nach vorne, als ihm unnachgiebige Finger in die Seite piekten. Um ein Haar wäre ihm das Buch, das er eben durchgeblättert hatte, aus der Hand gerutscht. Zornig funkelte er den Übeltäter an, schaffte es aber nicht, das Minenspiel lange aufrecht zu erhalten. Binnen Sekunden gewann ein Lächeln die Oberhand. „Du bist ja schon da.“
Marco grinste. „Hatte halt einen guten Grund, mich zu beeilen.“ Er sah sich um. „Wo steckt denn Sophia?“
„Drüben, bei der Jugendabteilung.“ Erik deutete zwischen den Regalreihen hindurch. „Magst du ‚Hallo‘ sagen?“
„Klaro!“
Marcos Enthusiasmus ließ Eriks Herz höherschlagen, versetzte ihm gleichzeitig jedoch einen Stich. Er hätte ihn seiner Familie deutlich früher vorstellen sollen – wenigstens Sophia. „Ich muss nur kurz das Buch hier zurückstellen.“
„Nicht dein Geschmack?“
„Ah, nicht wirklich. Zu viel Mord und Totschlag.“ Gemeinsam liefen sie den Gang entlang, vorbei an Krimis, Thrillern und Horrorgeschichten. „Ich glaube, mir ist eher nach etwas Fröhlichem.“
„Ich weiß ja nicht“, sagte Marco langsam. „Mord und Totschlag klingt eigentlich ganz unterhaltsam.“
„Dann kannst du es ja für dich ausleihen.“
„Nah. Ich habe ja nicht einmal einen Büchereiausweis.“
Perplex stoppte Erik. „Du hast keinen Büchereiausweis?“
„Nah.“
„Aber … Aber … Wieso nicht?“
„Bisher habe ich halt keinen gebraucht“, verteidigte sich Marco. „Du weißt doch selbst, dass ich keine große Leseratte bin. Im Gegensatz zu dir.“
Obwohl ein neckisches Lächeln seinen letzten Satz begleitete, fürchtete Erik, ungewollt einen wunden Punkt getroffen zu haben. Benahm er sich schon wieder wie ein Snob? Er entschied, das Thema vorerst ruhen zu lassen.
Sie umrundeten ein weiteres Bücherregal. Dahinter, auf einem bequemen Sitzsack gekuschelt und zwei Stapel Bücher neben sich, erspähten sie Sophia.
„Na?“, fragte Erik. „Fündig geworden?“
Erschrocken blickte Sophia von ihrem Buch auf. Offenbar blendete sie herannahende Fremde beim Lesen ebenso aus wie er selbst. Sie deutete auf den größeren der beiden Stapel. „Die da.“ Sie schielte zu Marco.
„Ciao, Sophia.“
Sophia strich die Seiten ihres aufgeschlagenen Buchs glatt, zu schüchtern, um Marco in die Augen zu sehen. „Hallo.“
Das warme Lächeln auf dessen Gesicht erinnerte Erik an eine ihrer ersten Begegnungen; lange, bevor seine Gefühle zu Liebe oder auch nur Verliebtheit gewachsen waren. Damals hatten sie sich zum gemeinsamen Joggen verabredet, Erik von tiefem Misstrauen zerfressen und bereit, auf dem Absatz umzukehren, sollte Marco einen einzigen fragwürdigen Pieps von sich geben. Stattdessen hatte dieser ihn mit der bedingungslosen Herzlichkeit angelächelt, die noch fast zwei Jahre später sein Gehirn in Watte und seine Knie in Wackelpudding verwandelte.
Marco ließ sich auf den Sitzsack neben Sophia plumpsen. „Was hast du dir denn ausgesucht?“
Anfangs stockend, doch von Satz zu Satz selbstsicherer, ging Sophia ihren Bücherstapel durch und ergänzte jeden Titel mit einem knappen Bericht, worum sich die Geschichte laut Klappentext drehte und weshalb sie die Idee interessant fand. Erik erinnerte sich nicht, sie schon einmal so lange am Stück sprechen gehört zu haben.
Marco wiederum hörte geduldig zu, stellte ein bis zwei Fragen und passte dabei perfekt ab, wie weit er nachhaken durfte, bevor Sophia sein Interesse als unangenehm empfand. Mehr noch, er schien echten Spaß an dieser Unterhaltung zu haben. Er deutete auf das letzte Buch in ihrer Hand. „Ist das ein Comic? Sowas liest du auch?“
„Das ist eine Graphic Novel.“
„Wo ist der Unterschied?“
Sophia starrte auf das bunte Cover. Dann kicherte sie. „Keine Ahnung.“
Ebenfalls lachend streckte Marco die Hand aus. „Darf ich mal sehen?“
Bereitwillig reichte Sophia ihm die von ihr ausgesuchte Graphic Novel und er blätterte durch die Seiten. Blätterte zurück zum Anfang. Begann zu lesen. Eine gute Minute verstrich, ohne dass er ein weiteres Wort verlor.
Erik und Sophia wechselten einen Blick, beide bemüht, ihr Lachen im Zaum zu halten. „Willst du mir deine anderen Bücher schonmal geben?“, flüsterte Erik ihr zu.
Sophia nickte und packte ihre Fundstücke in die Baumwolltasche, die er bereithielt. „Kann ich mich noch etwas umschauen? Drei mehr darf ich noch ausleihen.“
„Natürlich. Geh ruhig.“ Erik wartete, bis sie sich ein paar Meter entfernt und zwei weitere Bücher aus den Regalen gezogen hatte, bevor er sanft gegen Marcos Fuß stupste. „Wir können ihn für dich ausleihen, wenn du magst.“
Marco zuckte zusammen. „Was?“
„Den Comic. Wir können ihn für dich ausleihen.“
Verlegen klappte Marco besagten Comic zu. „Ich dachte, das wäre eine Graphic Novel.“
„Entschuldige. Wir können die Graphic Novel für dich ausleihen.“
„Nah. Ich nehme Sophia doch nicht ihren Lesestoff weg.“
Erik schmunzelte. „Ich bin sicher, sie hat genug andere Bücher, um die Zeit zu überbrücken, bis du damit durch bist.“ Er hob die bereits gut gefüllte (und deshalb schwere) Baumwolltasche an. „Wie sieht’s aus?“
Nach ungefähr drei Sekunden höflichen Zögerns, ließ Marco die Graphic Novel hineingleiten. „Wer weiß, vielleicht hole ich mir ja doch noch einen Ausweis.“
„Du wirst es sicher nicht bereuen. Aber davor“, Erik bot Marco seine Hand, um ihm aufzuhelfen, „würde ich dir gerne etwas zeigen.“
„So? Was denn?“
Zur Antwort legte Erik einen Finger an seine Lippen und zog Marco mit sich in den hinteren Bereich der Bibliothek.
„Was ist hier?“, fragte Marco. Er studierte einige der Buchrücken im Regal neben ihnen. „Sachbücher über … Landwirtschaft? Neues Hobby von dir?“
„Nein. Das hier ist das eine Eck, das man von Empfang aus nicht sehen kann und in das sich auch sonst eher selten jemand verirrt. Deshalb können wir das hier tun.“ Erik beugte sich vor und küsste Marco. Langsam, sanft. Genussvoll. Ein zartes Seufzen entkam ihm, als Marco ihn in seine Arme zog und mit den Fingern durch sein Haar kämmte.
„Ich fange an, Gefallen an Büchereien zu finden“, brummte Marco gegen Eriks Lippen.
„Ähm … Erik?“
Hastig brachte dieser einen halben Meter Abstand zwischen sich und Marco. Er konnte gerade noch verhindern, reflexhaft über seinen Mund zu wischen, bevor er sich Sophia zuwandte. Seine Ohren glühten vor Hitze. „Entschuldige. Brauchst du Hilfe?“
„Ich, ähm, ich wollte nur sagen, dass ich fertig bin.“ Sie hielt drei weitere Bücher hoch.
„Ah, in Ordnung. Ich denke, ich finde heute auch nichts mehr. Wollen wir dann gehen?“
„Ist es denn schon acht?“, fragte Sophia.
Nach einem Blick auf seine Armbanduhr schüttelte Erik den Kopf. „Erst kurz vor sechs.“
„Dann müssen wir doch noch nicht gehen.“
„Müssen wir nicht. Ich dachte nur, wenn wir hier alles haben …“
„Wie wär’s, wenn ich euch noch auf ein Eis einlade?“
Kaum hatte Marco seinen Vorschlag ausgesprochen, leuchtete Sophias Gesicht auf. Hoffnungsvoll sah sie zu Erik.
„Eis klingt nach einer fantastischen Idee“, erwiderte dieser. Nachdem Sophia ihnen den Rücken zugewandt hatte, um zur Ausleihe zu laufen, neigte er sich zu Marco und flüsterte: „Danke.“
„Dafür doch nicht“, flüsterte Marco zurück. „Freut sich Sophia einfach nur, mal wieder Zeit mit dir zu verbringen, oder gibt’s einen anderen Grund, warum die Kleine nicht nach Hause will?“
„Meine Tante und mein Onkel streiten wohl ziemlich viel. Tobias mischt auch kräftig mit.“
„Du hast ein Auge drauf?“
„Natürlich, aber meine Möglichkeiten sind begrenzt.“ Erik seufzte. „Vermutlich sollte ich mehr mit ihr unternehmen, damit sie gelegentlich rauskommt. Lust, diesen Ausflug bei Gelegenheit zu wiederholen?“
„Einem unglücklichen Mädchen helfen und dabei Zeit mit meinem Freund verbringen? Musst du da ernsthaft fragen?“
~~~~~~~~~~
Fünf Minuten vor acht. Erleichtert über die Punktlandung, begleitete Erik Sophia die Treppen nach oben, wo ihre Mutter bereits an der Wohnungstür wartete. „Ihr wart ja lange unterwegs.“
Sanft drückte Erik Sophias Hand. Seine andere lag warm in Marcos. „Acht Uhr war ausgemacht.“
„Selbstverständlich. Das war kein Vorwurf.“ Tante Susanne klang allerdings, als machte sie ihm Vorwürfe und ihr falsches Lächeln half wenig, den Eindruck abzumildern. „Ich hatte nur nicht erwartet, dass ihr wirklich so lange unterwegs sein würdet. Wie war es denn in der“, ihr Blick huschte zu Marco, „Bibliothek?“
„Es war schön“, antwortete Erik, nachdem Sophia lediglich stumm auf ihre Schuhe starrte. „Sophia hat einen ganzen Stapel an Büchern gefunden.“ Er nahm Marco die vollere der beiden Baumwolltaschen ab, die dieser unbedingt hatte tragen wollen, und gab sie an Sophia weiter. „Für mich sind auch zwei rausgesprungen und ich denke, die Chancen stehen gut, dass Marco uns das nächste Mal wieder begleitet.“
Dieser schmunzelte. „Sehr gerne.“
„So?“, fragte Susanne. „Dann lesen Sie viel?“
„Nah, aber wer weiß, vielleicht können die beiden mich ja umstimmen.“
„Nun. Möglicherweise. Dann bedanke ich mich, dass ihr auf meine Sophia aufgepasst habt.“
„Es ist doch kein Aufpassen, wenn ich meine Lieblingscousine sehe.“ Erik ließ Sophias Hand los und lächelte ihr zu. „Wie wäre es, wenn ich nächste Woche wieder vorbeikomme und wir etwas zusammen unternehmen?“
Große Augen blickten ihm entgegen. „Ginge das?“
„Na klar.“
„Okay.“
Zum Abschied schloss Erik Sophia in die Arme und flüsterte: „Du kannst mich immer anrufen.“
Sie nickte gegen seine Schulter. „Tschüss.“
„Tschüss.“ Noch einmal drückte er sie an sich, dann ließ er los. Ein paar Sekunden später schlug die Wohnungstür zu und gemeinsam mit Marco stieg er die Treppen nach unten. Im Erdgeschoss angekommen seufzte er. „Ich wünschte, ich könnte mehr für Sophia tun.“
„Ich weiß.“ Marco war auf der untersten Treppenstufe stehengeblieben, was den Größenunterschied zwischen ihnen (fast) ausglich. Zärtlich strich er eine Strähne aus Eriks Stirn und küsste die freigewordene Stelle. „Dir ist hoffentlich klar, dass es nicht deine Schuld ist, wenn es gerade beschissen bei deiner Tante läuft.“
Erik schwieg.
„Es ist dir doch klar, oder?“
„Mir ist klar, dass es nichts ist, das ich kürzlich getan habe, aber … manchmal frage ich mich, ob es heute besser für meine Familie laufen würde, wenn ich damals nicht–“
„Stopp.“ Marcos Brauen zogen sich zu einem V zusammen. „Sowas will ich nicht von dir hören. Sowas solltest du noch nicht einmal denken.“
„Das sagt sich so leicht. Denkst du etwa nie darüber nach, dass mit deiner Familie alles hätte besser laufen können, wenn du dich nur anders verhalten hättest?“ Erik bereute seine Worte sofort, doch es war zu spät. Er sah den Schmerz in Marcos Gesicht, tiefsitzend und lange verdrängt. Bis eben. „Tut mir leid, ich wollte nicht–“
„Nah“, unterbrach Marco ihn. „Du hast ja recht. Klaro denke ich darüber nach. Bedeutet aber nicht, dass das sinnvoll ist. Es ist gelaufen, wie es gelaufen ist und ganz ehrlich? Inzwischen halte ich es für das Beste so. Sie hatten drei Jahre Zeit zu akzeptieren, dass ich schwul bin und haben es bis jetzt nicht geschafft. Was hätte es da schon gebracht, mit meinem Coming Out zu warten. Als würden sie es in zwei Jahren auf einmal besser verkraften.“
„Ich wollte nie andeuten, du hättest damals etwas falsch gemacht.“
„Weiß ich doch. Ist dir denn klar, dass du damals nichts falsch gemacht hast?“
„Objektiv betrachtet habe ich das nun einmal getan.“
„Quatsch. Objektiv betrachtet warst du ein Teenager, der bei einem tragischen Unfall unerwartet beide Eltern verloren hat und bei dem Versuch, irgendwie mit dem Verlust umzugehen, in eine missbräuchliche Beziehung geraten ist. Nichts davon war deine Schuld, und dass deine Tante und dein Onkel ihre Ehe oder die Erziehung ihrer Kinder nicht auf die Reihe bekommen, hat absolut nichts mit dir zu tun.“
Erik tat sich schwer damit, Marcos Worte als Wahrheit anzuerkennen. Kaum verwunderlich – was jahrelange Therapie nicht erreichte, schaffte selbst der liebevollste Partner nicht mit ein paar wenigen Sätzen. Trotzdem empfand er tiefe Dankbarkeit dafür, dass Marco es versuchte. Matt lehnte er sich gegen ihn. Seinen Fels in der Brandung.
„Okay?“, fragte Marco nach einer Weile.
„Okay.“
„Bene.“
Erik richtete sich wieder auf. „Danke für heute.“
„Nah, nicht dafür. Ich fand’s toll, Zeit mit euch beiden zu verbringen.“ Marco küsste Erik. Ohne ihre Lippen ganz voneinander zu trennen, murmelte er: „Ich weiß, wir hatten ausgemacht heute getrennt zu schlafen, aber willst du nicht trotzdem mit zu mir kommen?“
„Wollen schon“, gab Erik zu. „Aber du musst morgen superfrüh zur Arbeit und, ah, das hier“, er zupfte an seinem Hemd, „ist das letzte saubere Oberteil, das ich besitze. Ich sollte also dringend heim und einen Schwung Wäsche in die Maschine werfen.“
Marco schnaubte. „Wenn man bedenkt, wie voll dein Kleiderschrank ist, ist es eine ziemliche Leistung, das Ding tatsächlich leer zu bekommen.“
„Haha.“
„Aber morgen Abend sehen wir uns, sì? Ich habe eine kleine Überraschung für dich.“
„Hast du? Was für eine?“
„Als würde ich dir das verraten. Was wäre das denn bitte für eine Überraschung?“
„Keine besonders gute“, räumte Erik ein. Er nahm Marcos Hand. „Wir sollten langsam zur Bahn, bevor sich ein Nachbar beschwert, warum wir den Hausgang dieses ehrwürdigen Gebäudes mit ihrer Anwesenheit verpesten.“
~~~~~~~~~
Erik kickte die Wohnungstür mit der Ferse ins Schloss und verstaute den leeren Wäschekorb in seiner Abstellkammer. Bevor er es vergaß, stellte er die Erinnerungsfunktion seines Smartphones auf eineinhalb Stunden. Einmal gammlige Klamotten aus der Waschmaschine gezogen zu haben genügte als Lektion für den Rest seines Lebens.
Sein nächster Stopp führte ihn zu seinem Laptop, dessen rhythmisches Blinken bedeutete, dass er (erneut) vergessen hatte, ihn am Vortag auszuschalten. Immerhin musste er so nicht lange warten, um den aktuellen Stand seiner Uni-Bewerbungen zu checken. Mit der Routine unzähliger vorangegangener Aufrufe klickte er sich durch die Menüs – und erstarrte.
Bewerbung angenommen.
Erik hatte einen Studienplatz. In Berlin.