Was zuletzt geschah:
Erik beschließt, Hugos wohlmeinenden Rat zu befolgen, und ein kleines Abenteuer in Berlin zu erleben. Vielleicht vergisst er darüber die nagende Einsamkeit und seine wachsende Sorge über den Zustand seiner Beziehung mit Marco. Eines stimmt auf jeden Fall: Die Nacht im Club liefert ihm eine Menge Neues, über das er sich den Kopf zerbrechen kann.
Kapitel 19
Der Duft nach Espresso umarmte Marco, wie ein lange verschollener und schmerzlich vermisster Freund. „Grazie.“
„Immer gern.“ Hugo sank auf den Stuhl neben ihm. Da die neue Aushilfe die Verkaufstheke bewachte und sich die Gästezahl im Tässchen im Rahmen hielt, durfte er sich eine kurze Auszeit gönnen. Ohne bewusst darauf zu achten, schob er seine Hand über den Tisch, bis sie die seines Mannes streifte, der auf Marcos anderer Seite Platz genommen hatte. „Na? Wie läufts bei dir?“
„Kann nicht klagen.“
„Ja? Habt ihr endlich euren Chef ersetzt?“
Marco schnaubte. „Nah, der ist noch derselbe, aber davon lasse ich mir die Laune nicht vermiesen. Hilft ja nichts. Da müsste ich schon kündigen und das habe ich wirklich nicht vor.“ Die Tage, an denen Daniel ebenfalls arbeitete, machten außerdem fast Spaß.
„Und mit Erik läuft es auch?“, hakte Hugo nach. „Gewöhnt ihr euch langsam an die Fernbeziehung?“
„Klaro, da ist auch alles bestens. Erik geht ziemlich in seinem Studium auf.“
„Kann ich mir vorstellen. Er hat schließlich hart dafür gearbeitet.“
„Sì. Wenn ihm etwas wichtig ist, legt er sich dafür ordentlich ins Zeug.“ Manchmal zweifelte Marco lediglich, wo genau Eriks Prioritäten lagen.
„Gefällt dir Berlin?“, fragte Manni unerwartet.
„Muss es das?“ Als Marco merkte, wie defensiv er klang, ergänzte er: „Ist halt noch mehr Beton und weniger Grün als hier. Nicht wirklich meins, aber für ein paar Wochenenden im Jahr ist es wohl okay.“
Wenn man sich so lange kannte, wie Marco Manni und Hugo, fiel es schwer, seine wahren Gefühle zu verheimlichen. Das ging in beide Richtungen, denn weder übersah er den Blick, den die zwei wechselten, noch bereitete es ihm Probleme, dessen Bedeutung zu entschlüsseln. „Wir stehen das schon durch“, bekräftigte er daher.
„Ich bin sicher, dass ihr das tut.“ Doch dieses Mal schien es Hugo zu sein, der nicht aussprach, was er wirklich dachte.
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Marco befreite seine Regale von den letzten Staubkörnern, als es auch schon klingelte. Hektisch räumte er sein Putztuch weg und eilte zur Tür, um seinem Gast zu öffnen. Von unten erklangen leichtfüßige Schritte, die die Stufen eher hochsprangen als liefen. Bald erschien Dragos weißblonder Schopf am Treppenabsatz. „Hallo.“
„Ciao. Komm rein.“ Marco führte ihn ins Innere und ignorierte dabei das nervöse Pochen in seinem Brustkorb. Normalerweise freute er sich darauf, neuen Bekanntschaften seine Wohnung zu zeigen – was er aus dem einstmals kargen Dachkämmerchen rausgeholt hatte, erfüllte ihn durchaus mit Stolz – doch wenn er an Dragos WG-Zimmer dachte, beschlich ihn das Gefühl, dass dieser die Welt mit anderen Augen wahrnahm als die meisten Menschen. All diese meisterhaft aufeinander abgestimmten Linien und Flächen, dazu die penible Sauberkeit. Mit letzterer konnte Marco mithalten, die Atmosphäre, die beide Räume verströmten, unterschied sich dennoch beträchtlich.
Marco setzte auf natürliche Töne und Gemütlichkeit, auf Holz und Pflanzen und Möbel, die er günstig gebraucht erstanden und aufpoliert hatte. Cottagecore hatte Philipp seinen Stil einmal genannt, und so fürchterlich Marco diesen Begriff fand, bestätigte eine oberflächliche Internetrecherche dessen Korrektheit. Unabhängig davon, welches Wort man verwenden wollte, Dragos kühle Perfektion bildete dazu einen deutlichen Kontrast.
Gespannt schielte Marco über seine Schulter. Dragos Kopf schwenkte von links nach rechts und zurück, er schien entschlossen, jedes Detail in sich aufzunehmen. Doch sollte er sich ein Urteil gebildet haben, sprach er es nicht aus.
„Willst du was trinken?“, bot Marco an. „Wir haben ja noch Zeit, bevor der Getränkemarkt schließt.“
„Wasser, bitte. Und danke für deine Hilfe.“
Marco winkte ab. „Dafür doch nicht. Der Laden ist um die Ecke und zu zweit geht’s leichter, vor allem mit Auto.“
Zwei Gläser in der Hand, drehte sich Marco um und ertappte Drago beim Betrachten des gerahmten Fotos an der Wand. Es zeigte Erik an einem Strand nahe Venedig, halb von der Kamera abgewandt, mit strahlendem Lachen und dem Gesicht voller Sommersprossen. Es zeigte auch seine Narben, allerdings musste man wissen, wonach man Ausschau hielt, um sie zu bemerken. Erik meckerte, wann immer er das Foto sah, aber Marco liebte es für seine Unverfälschtheit. „Das ist Erik.“
„Ich hatte ihn mir anders vorgestellt.“
„Ach ja?“ Dragos Überraschung traf Marco. So weit außerhalb seiner Liga spielte Erik ja wohl nicht. Oder? „Wie denn?“
„Weniger zart.“
„Zart?“, wiederholte Marco noch verwirrter als zuvor. Tatsächlich betonte die Perspektive des Fotos seiner Meinung nach Eriks trainierten Oberkörper. Nicht der Grund, weshalb er es so mochte, es fiel ihm lediglich gelegentlich auf.
Drago öffnete den Mund, schien um eine Antwort zu ringen und zuckte schließlich mit den Schultern. „Ist vielleicht das falsche Wort.“ Er startete keinen Versuch, ein anderes zu finden.
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„Das sind mir die liebsten Gäste“, begrüßte Daniel Marco an der Tür. „Pünktlich auf die Minute und sie bringen neben Bier auch noch meinen Mitbewohner mit.“ Er trat zur Seite, um Platz für Marco, Drago und den Kasten Bier zu machen, den sie mit sich schleppten. „Ich würde sagen, wir stellen erstmal ein paar Flaschen kalt. Oh, und auf dem Herd steht ein Topf Gulasch bereit, falls ihr Hunger habt.“
„Später gern“, antwortete Marco. Dank seines Besuchs im Tässchen füllten Espresso und zwei Panini seinen Magen. „Riecht echt lecker.“
„Erwarte lieber nicht zu viel, ist nur ganz einfache Hausmannskost. Drago hat mir schon erzählt, dass du hundertmal besser kochst als ich.“
„So habe ich das nicht formuliert“, protestierte dieser.
„Ich kann ausgezeichnet zwischen den Zeilen lesen.“
Drago murmelte etwas, das wie ‚augenscheinlich sprechen wir dabei nicht dieselbe Sprache‘ klang, schnappte sich den Bierkasten und stapfte in die Küche, wo er demonstrativ eine Schale mit Gulasch füllte.
„Mal sehen, wie lange er durchhält, bevor er nachgibt und das Fleisch nach Fett und Sehnen absucht“, raunte Daniel zu Marco.
„Du kennst ihn echt gut, was?“
„Sind ja immerhin schon zehn Jahre.“
„Dann habt ihr euch nicht erst über die WG getroffen?“
„Nein, nein. Wir waren eine Weile in derselben Schulklasse, nachdem Dragos Familie aus Serbien geflüchtet ist. Nach Kriegsende mussten sie wieder zurück, aber wir sind in Kontakt geblieben.“
„Oh, das wusste ich nicht.“ Marco beobachtete Drago, der mit dem Rücken zu ihnen in der Küche stand, offensichtlich darum bemüht, die einzelnen Fleischstücke möglichst unauffällig mithilfe einer Gabel zu inspizieren. „Mir hat er nur erzählt, dass er hier ist, weil er so seine Familie besser unterstützen kann.“
„Das stimmt schon“, sagte Daniel. „Ist aber eben nur ein Teil der Geschichte. Drago spricht nicht viel über seine Vergangenheit. Ich weiß aber ehrlich gesagt nicht, ob das daran liegt, dass er das Thema nicht mag, oder ob er schlicht nicht auf die Idee kommt, von sich aus damit anzufangen. Er ist generell nicht der gesprächigste Typ.“
„Das ist mir aufgefallen.“
„Ich weiß, dass ihr über mich sprecht!“, rief Drago aus der Küche, ohne sich umzudrehen.
„Worauf du dich verlassen kannst!“, brüllte Daniel komplett unbeeindruckt zurück.
„Nur Gutes, natürlich!“, ergänzte Marco. „Bringst du mir ein Bier mit?“
„Mir auch!“
Nun drehte sich Drago um, die Brauen zu einem Ausdruck zusammengezogen, der Gewitter ankündigte und Marco fürchten ließ, eine Grenze überschritten zu haben. Er wollte eben den Mund für eine Entschuldigung öffnen, als sich Drago runterbeugte, drei Flaschen Bier aus dem Kasten zog und – die Biere in einer Hand, die Schüssel voll Gulasch in der anderen – zu Marco und Daniel ins Wohnzimmer zurückkehrte. „Hier.“
„Dankööö.“ Daniel dirigierte das kleine Grüppchen zum Esstisch. „Was haltet ihr von einer Runde Poker?“
„Zu dritt?“, fragte Drago zweifelnd.
„Texas hold’em geht schon, oder?“
„Habe ich noch nie gespielt“, gab Marco zu.
„Kein Ding, bringen wir dir bei.“ Daniel drehte sich zu Drago. „Patrick wäre theoretisch auch da, aber der hat sich vorhin mit Melanie in sein Zimmer verkrochen. Die beiden werden kaum einen gemeinsamen Abend für eine Runde Poker aufgeben.“
„Vermutlich nicht, nein.“ Da schwang ein schwer zu erfassender Unterton in Dragos Satz mit, der der eigentlich neutralen Zustimmung einen anderen Geschmack verlieh. Eifersucht? Marco kannte ihn nicht gut genug, um sich eine klare Einschätzung zuzutrauen.
Entweder, Daniel hörte nicht, was Marco hörte, oder hatte entschieden, den Unterton zu ignorieren. „Dann bleibts wohl bei uns drei Hübschen.“ Er zwinkerte Marco zu. „Bringen wir dem Neuling mal das Spielen bei!“
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Stöhnend legte Marco seine Karten weg. „Das ist Taktik, oder? Ihr freundet euch mit einem völligen Anfänger an, lockt ihn mit dem Versprechen nach Bier und Gulasch in eure Wohnung und bringt ihn dann beim Pokern um seinen letzten Cent.“
Daniel grinste breit. „Immerhin ist es dir aufgefallen, bevor du komplett pleite bist.“ Er schielte zu seinen eigenen Chips. „Nicht, dass meine Kasse besser aussähe …“ Das stimmte. Daniel trug sein Herz auf der Zunge und seine Laune im Gesicht. Nach den ersten Runden hatte Marco ziemlich präzise voraussagen können, wie es um sein Blatt bestellt war.
„Wollt ihr die Wetteinsätze reduzieren?“ Im Gegensatz zu seinen beiden Mitspielern besaß Drago ein Pokerface, das an Eriks heranreichte. Was sich in dem ansehnlichen Stapel an Spielchips vor ihm widerspiegelte.
Apropos Erik … Marco wurde das nagende Gefühl nicht los, etwas vergessen zu haben. „Porco dio! Wie spät ist es?“
„Kurz vor zehn“, antwortete Daniel nach einem Blick auf die Uhr. „Warum?“
„Erik und ich wollten heute um neun telefonieren. Habe ich komplett verpennt.“
„Na, dann aber schnell. Ich muss eh mal ums Eck. Pause?“
„Pause“, stimmte Drago zu und legte seine Karten verdeckt auf den Tisch.
Marco fischte derweil sein Handy aus der Hosentasche und fluchte erneut, als ihn ein schwarzes Display begrüßte. Erfolglos presste er die Einschalttaste. „Verfluchtes Mistding. Bei meinem alten hat der Akku ewig gehalten.“
„Du kannst mein Ladekabel nehmen.“
Nach kurzer Bedenkzeit schüttelte Marco den Kopf. „Grazie, aber das passt schon.“ Seine letzten Telefonate mit Erik hatten sich angefühlt, als versuchten sie, ein totes Pferd über scharfkantige Felsklippen zu zerren. Er würde es vor Drago nicht zugeben, doch die Aussicht, das heute nicht wiederholen zu müssen, ließ ihn erleichtert aufatmen. „Ich schreibe Erik eine SMS, wenn ich nach Hause komme.“ Sicher tat ihnen beiden ein Abend Pause gut. Mit ein wenig Abstand freute er sich bestimmt gleich deutlich mehr darauf, von Erik zu hören.
Drago stand auf, als Daniel ins Wohnzimmer zurückkam, vermutlich, um die freigewordene Toilette aufzusuchen.
„Anruf schon erledigt?“, fragte Daniel.
„Akku leer.“
„Shit.“
„Hier.“ Zu schnell zurück, um einen Abstecher zum Klo gemacht zu haben, hielt Drago Marco ein verschlungenes Bündel unter die Nase, das dieser beim zweiten Blick als Ladekabel identifizierte. „Niemand verdient es, auf einen Anruf zu warten, der nicht kommt. Du kannst in mein Zimmer gehen, wenn du Privatsphäre willst.“
Überrumpelt nahm Marco das Ladekabel entgegen. Bis er die Abgeschiedenheit von Dragos Zimmer erreicht hatte, brannten seine Wangen vor Scham. Drago hatte nicht unfreundlich geklungen, sondern gewohnt sachlich, was seine Bemerkung umso schmerzhafter machte. Denn er hatte recht und sie beide wussten es.
Nach einem tiefen Atemzug verband Marco sein Handy mit dem Ladekabel und wartete in dem picobello geordneten Raum, bis der Akku reichte, um einen Anruf zu tätigen. Er wählte Eriks Nummer. Es dauerte, bis sich am anderen Ende der Leitung jemand meldete.
„Hey.“
„Tut mir leid, dass ich erst so spät anrufe. Ich habe völlig die Zeit vergessen und dann war auch noch mein Akku leer.“
„Ist in Ordnung. Ich habe eh noch gelernt.“
„Es ist Samstagabend.“
„Und?“
„Solltest du nicht … Keine Ahnung, mit Kommilitonen rumhängen? Berlin entdecken? Spaß haben?“
„Du klingst auch nicht so, als würdest du mich von einer fetten Party aus anrufen“, schoss Erik zurück.
„Eigentlich spiele ich gerade mit Daniel und seinem Mitbewohner Poker. Bin nur für den Anruf rausgegangen.“
„Ah. Dann will ich dich nicht länger aufhalten.“
Großartig, jetzt machte Erik ihm ein schlechtes Gewissen, weil er Zeit mit Freunden verbrachte. Und Marco durfte sich nicht einmal allzu laut darüber beschweren, denn er hatte Erik deshalb versetzt – würde ihn noch immer ignorieren, hätte Drago ihm eine Wahl gelassen. Geschlagen schluckte Marco die Erwiderung, die auf seiner Zunge lag, herunter und sagte: „Mach dich nicht lächerlich. Wir haben ausgemacht, dass wir telefonieren, also telefonieren wir.“ Ein wenig zu spät setzte er hinzu: „Ich freu mich doch, von dir zu hören.“
Auf der anderen Seite entstand eine kurze Pause. Als Erik das Wort ergriff, flüsterte er kaum hörbar. „Ich war gestern in dem Club von neulich.“
„Warst du?“ Erik, allein in einem Club? Freiwillig? Es kostete Marco einige Mühe, sich das vorzustellen.
„Mhm.“
Erneut entstand eine Pause und Marco wurde das Gefühl nicht los, dass Erik mehr zu sagen hatte. Sekunden verstrichen, die Sonne ging auf und unter, Jahreszeiten wechselten, doch Erik schwieg. Um das Gespräch überhaupt irgendwie am Leben zu erhalten, fragte Marco: „Und heute lernst du lieber wieder?“
„Irgendwann muss ich ja und wenn ich diese Woche schon ein bisschen vorlerne, kann ich mich nächstes Wochenende voll auf dich konzentrieren.“
Marco schloss die Augen und lehnte sich gegen Dragos Schreibtisch. Wie lange wollte er Erik eigentlich noch vorwerfen, ihre Beziehung zu vernachlässigen, wenn ganz offensichtlich er derjenige war, der zu wenig Mühe investierte? Erik folgte seinem Traum, Medizin zu studieren. Ein Vorhaben, bei dem Marco ihn immer unterstützt hatte, exakt bis zu dem Punkt, an dem es unbequem geworden war. Wie erbärmlich. Wie verflucht erbärmlich von ihm.
„Marco?“, fragte Erik leise. „Bist du noch dran?“
„Scusa. Ich bin noch dran. Was hast du heute noch gemacht, außer zu lernen?“
„Nicht viel.“
„Nein? Nicht gebacken oder so?“
„Doch! Doch, tatsächlich habe ich ein neues Rezept ausprobiert.“
Ihr Gespräch dauerte nicht allzu lange, aber das Schleppende der letzten Wochen fehlte. Am Ende war Marco froh, angerufen zu haben. „Dir ist klar, dass du mir diese Muffins machen musst, wenn ich in Berlin bin.“
„Marco …“
Der plötzliche Wechsel in Eriks Stimmlage traf Marco unvorbereitet. „Was ist los?“
„Ah … Vergiss es, nicht so wichtig. Wir sehen uns nächste Woche, ja?“
„Tun wir.“
„Dann ... hab noch einen schönen Abend. Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch.“ Marco schluckte gegen den schalen Nachgeschmack, den die Worte in seinem Mund hinterlassen hatten, als vor der Tür lautes Gezeter erklang. Eine männliche Stimme, die weder zu Drago noch Daniel passte, und eine weibliche. Sofern nicht mehr Menschen in dieser Wohnung lebten, als Marco bisher angenommen hatte, handelte es sich mit ziemlicher Sicherheit um Patrick und Melanie.
„Du kannst mich mal!“, rief Melanie.
„Pass bloß auf, wie du mit mir redest!“
Die beiden schienen Richtung Wohnzimmer zu laufen, und dank ihrer beachtlichen Lautstärke, verstand Marco dabei trotz der geschlossenen Tür jedes Wort. Da er nicht ewig in Dragos Zimmer ausharren wollte, folgte er ihnen mit gebührendem Abstand zurück zu seinem Sitzplatz am Esstisch. Nicht, dass die Streithähne ihn bemerkt hätten.
Patrick riss die Wohnungstür auf. „Verpiss dich!“
„Liebend gern!“
Marco beugte sich zu Daniel und flüsterte: „Geht es bei den beiden immer so ab?“ Lautstarkes Gezanke war für ihn nichts neues, in seiner Familie kochten die Gemüter gerne mal hoch, aber darunter lag nie eine solche Aggression – mit Ausnahme des Abends, an dem sein Vater ihn vor die Tür gesetzt hatte.
„Nicht so heftig wie gerade.“ Selbst Daniel wirkte besorgt. „Oder ich habe es bis jetzt nicht mitgekommen.“
Drago sagte gar nichts. Zuerst vermutete Marco, dass er sich generell aus derlei Meinungsverschiedenheiten raushielt, ein flüchtiger Blick genügte allerdings, um das als Fehleinschätzung zu entlarven. Drago bewegte sich keinen Millimeter, doch in seinen farblosen Augen glomm ein explosionsbereiter Funke. Er fixierte Patrick wie ein Raubtier seine Beute; nur weniger entgegenkommend.
Glücklicherweise entschied Melanie in diesem Moment, auf das Zuknöpfen ihrer Jacke verzichten zu können. Krachend schlug die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss. Patrick zeigte der Tür, was er davon hielt so stehengelassen zu werden, indem er heroisch gegen sie boxte, bevor er zurück in sein Zimmer stürmte, ohne die drei Männer im Wohnzimmer zu beachten.
„Okaaaay“, sagte Daniel langgezogen. „Ich brauche jetzt Gulasch und ein Bier. Noch wer?“
„Gulasch und Bier klingt fantastisch“, antwortete Marco.
„Drago?“
Dieser atmete aus, langsam und konzentriert. „Bier. Bitte.“
Leider wollte trotz gutem Essen und Getränken keine wirkliche Stimmung mehr aufkommen und sie beendeten den gemeinsamen Abend frühzeitig. Nachts, allein in seinem Bett, dachte Marco darüber nach, dass der Tag für seinen Geschmack deutlich zu viele ungesagte Worte mit sich gebracht hatte.