Was zuletzt geschah:
Innerhalb eines einzigen Abends wurde Dragos Welt komplett durcheinandergeworfen – und damit letztlich auch Marcos, der ihn ohne Zögern bei sich aufnimmt. Bevor wir uns ansehen, wie es für die beiden weitergeht, schwenken wir den Blick jedoch zuerst nach Berlin und Erik.
Kapitel 40
Die Sonne schien durchs offene Fenster, der Duft nach dem Mittagessen seiner Nachbarn wehte unter der Wohnungstür durch und nicht einmal der Straßenlärm übertönte das Gezwitscher der Vögel. Erik hatte gute Laune.
Nachdem die Klausuren des ersten Semesters kaum besser hätten laufen können, ging er entspannter an das zweite heran. Sofern er seinen Kommilitonen Glauben schenken durfte, büffelte er zwar weiterhin mehr als der Durchschnitt, erlaubte sich aber, ein wenig Druck rauszunehmen.
Deshalb ließ er inzwischen am Samstag die Seele baumeln. Er las zur Abwechslung Bücher, deren Inhalt er nicht auswendig lernen musste, sah sich skurrile Kinofilme an, oder experimentierte mit Backrezepten, die meistens sogar gelangen.
Hin und wieder ging er schwimmen. Nun ja, eher planschen. Samstags trieb es zu viele Gäste ins Schwimmbad, um ernsthafte Runden zu drehen, aber das störte ihn nicht weiter, schließlich gab es genug alternative Zeiten, zu denen er sich auspowern konnte. Zum Beispiel vormittags zwischen zwei Vorlesungen oder spätabends. Doch völlig egal, wann es ihn zum Schwimmen trieb, er ging ohne die ständige Angst, von Bekannten entdeckt zu werden.
Dabei konnte das durchaus passieren – eines seiner liebsten Bäder lag in Uni-Nähe – doch er hatte die bewusste Entscheidung getroffen, sich nicht mehr zu verstecken. Deshalb trug er seit Frühlingsbeginn grundsätzlich kurzärmelige T-Shirts, anstatt der eigentlich von ihm favorisierten Hemden, um gar nicht erst in Versuchung zu geraten, seine Narben zu verbergen. Selbst im Tix rollte er seine Hemdsärmel gelegentlich nach oben, wenn er die Hitze nicht mehr aushielt.
Anfänglich hatte ihn das ziemlich Überwindung gekostet, inzwischen genoss er die Freiheit, die es mit sich brachte. Niemand hier kannte ihn von früher, niemandem musste er erklären, weshalb er sich so verändert hatte. Wer ihn kennenlernte, lernte ihn als die Person kennen, die er heute war, mit all seinen Narben, und Macken und Eigenheiten. Wenn sein Gegenüber damit nicht zurechtkam, dann trennten sich ihre Wege eben wieder und keiner hatte viel verloren.
Gleichzeitig floss die Vergangenheit dieser Stadt mit seiner eigenen zusammen.
Erik schielte zu der Schublade, in der er die Briefe seiner Mutter aufbewahrte. Bisher fehlte ihm die Kraft, sie zu lesen, obwohl sie inzwischen nahezu täglich in seinen Gedanken auftauchten.
Himmel, ihm hatte sogar die Kraft gefehlt, das Grab seiner Eltern zu besuchen, obwohl sich ihr Todestag erst kurz vor seinem Aufenthalt in Stuttgart ein weiteres Mal gejährt hatte. Er versuchte, sich deshalb keine Vorwürfe zu machen, sich gleichzeitig jedoch vor Augen zu halten, einen besseren Umgang mit seinem Verlust finden zu müssen. Immer nur zu verdrängen half ihm auf Dauer nicht.
Kurzentschlossen legte Erik das Buch weg, auf das er sich die vergangenen Minuten offensichtlich ohnehin nicht konzentriert hatte, verließ seine Wohnung und eilte die Treppen nach unten, bis in den Keller. Dort schlüpfte er in sein kleines Abteil, vollgestopft mit übereinandergestapelten Kisten. Er würde bei Gelegenheit wirklich aussortieren müssen. Aber nicht heute. Heute suchte er nur einen ganz bestimmten Karton.
Den fand Erik dann auch relativ zügig, hauptsächlich, weil er sich seine Position sehr genau eingeprägt hatte. Auf keinen Fall wollte er dieselbe Panik durchleben wie beim letzten Mal, in dem Glauben, den Inhalt auf Nimmerwiedersehen verloren zu haben.
Behutsam zog er den Karton aus dem Wandregal und stellte ihn auf den Boden. Den Mut aufzubringen, ihn zu öffnen, dauerte länger als erwartet und weil Erik nicht blöd in seinem Keller rumstehen wollte, schleppte er kurzerhand alles mit nach oben in seine Wohnung.
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Der Karton stand auf seinem Schreibtisch, weiterhin anklagend ungeöffnet. Die Hände in die Hüften gestemmt, starrte Erik ihn an, und versuchte sich zu überreden, endlich hineinzusehen. Er wusste doch sowieso, was sich darin befand. Aus genau diesem Grund hatte er das Ding ja überhaupt aus dem Keller geholt. Jetzt kneifen zählte nicht.
Als fürchtete er, sich zu verbrennen, klappte Erik die Pappflügel mit spitzen Fingern zur Seite und lugte ins Innere. Drei große Fotoalben, mehrere kleinere und einige gerahmte Bilder stapelten sich darin. Dazwischen verbarg sich die Schatulle, in der Erik die Eheringe seiner Eltern und die Ohrstecker seiner Mutter aufbewahrte. Als Marco die kurzzeitig verlorengeglaubten Schmuckstücke gefunden hatte, hätte Erik vor Erleichterung heulen können, nur um sie nach dem Umzug erneut in den Keller zu verbannen.
Er nahm den obersten Bilderrahmen in die Hand. In der Aufnahme saß er auf einer der Bänke in ihrem Lieblingspark, seine Mutter an seiner linken Seite, sein Vater an seiner rechten, sie alle umringt von saftig grünen Bäumen und Sträuchern. Das Foto war weniger als ein Jahr vor ihrem Tod entstanden.
Himmel, wie lebhaft Erik dieser Tag vor Augen stand. Die Sommerferien hatten eben begonnen, und die Sonne strahlte im Wettbewerb mit seinen frisch zuckerwatterosa gefärbten Haaren. Auf dem Weg durch den Park hatten sie erst über das zurückliegende Schuljahr gesprochen, dann über das anstehende Abendessen bei der Familie seiner Tante, auf das niemand wirklich Lust hatte, obwohl seine Eltern nicht müde wurden, das Gegenteil zu behaupten.
Auf dem Rückweg hatte Erik schließlich den Wunsch geäußert, sich Ohrlöcher stechen zu lassen, nach einer Diskussion mit seiner Mutter allerdings entschieden, ein Jahr länger zu warten. Ein frisches Piercing bedeutete, mindestens einen Monat beim Schwimmtraining auszufallen und dafür lief die Saison gerade zu gut für ihn. Davon abgesehen war da noch die Sache mit den Nadeln. Er konnte damit umgehen, wenn seine Mutter ihn impfte oder ihm Blut abnahm, jemanden fremdes an sich zu lassen, behagte ihm hingegen gar nicht.
Damals hatte er sich selbst auf den nächsten Sommer vertröstet, ohne zu ahnen, dass seine Welt zu diesem Zeitpunkt komplett aus den Fugen geraten sein würde.
Je länger Erik das Foto betrachtete, umso mehr realisierte er, dass er sich zwar an den Tag erinnerte, die Gesichter seiner Eltern in den vergangenen Jahren jedoch deutlich an Details verloren hatten. Das warme Lächeln seines Vaters, die Ernsthaftigkeit seiner Mutter, die nicht einmal dann völlig verschwand, wenn sie in eine Kamera lachte. All die feinen Furchen und Linien, damals so vertraut, so selbstverständlich, dass er sie sich nie eingeprägt hatte – um sie nun langsam zu vergessen.
Wirsch wischte er die Tränen fort, die über seine Wangen kullerten, hielt sich jedoch davon ab, das Bild zurück in den Karton zu werfen. Dieses Foto, als Symbol all dessen, was er verloren hatte, machte ihn unendlich traurig, aber er weigerte sich, die Erinnerung an seine Eltern deshalb auf ewig in den Keller zu verbannen. Schlimm genug, dass er beinahe ihre Gesichter vergessen hätte.
Das Foto an einer gut sichtbaren Stelle in seiner Wohnung zu platzieren, schaffte er noch nicht, doch er wollte es zumindest in seiner Nähe wissen. Nach kurzer Überlegung verstaute Erik es in seiner Schreibtischschublade, gemeinsam mit den Briefen, die ihm seine Tante vermacht hatte. Dabei fiel sein Blick auf die ebenfalls darin liegende Serviette, mit dem Namen des Piercing-Studios, in dem Tyler arbeitete.
Sollte Erik …? Nein, das wäre ja Quatsch. Einen Monat kein Schwimmbad, seine Angst vor Nadeln hatte ihn ebenfalls nicht auf magische Weise verlassen, und in emotional aufgewühltem Zustand Entscheidungen zu treffen, war generell wenig ratsam. Wenn er es geschafft hatte, dem traditionellen wie klischeehaften Trennungshaarschnitt zu widerstehen, konnte er sich auch diese Schnapsidee aus dem Kopf schlagen.
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„Hi! Was kann ich für dich tun?“ Eine Frau – Erik schätzte sie auf Mitte Dreißig – beugte sich über die Theke zu seiner Linken und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Sie trug ihr pechschwarzes Haar vorne zu einer Tolle gedreht und hinten mit einem Bandana zusammengebunden, was ihr einen Look verlieh, als wäre sie eben erst aus einer alternativen Version der 1950er Jahre entkommen.
An ihrem Lippenbändchen blitzte ein Piercing, ebenso auf ihrer Nase. Noch mehr stachen Erik jedoch ihre Tattoos ins Auge. Gelegentlich durchbrochen von der einen oder anderen Cartoonfigur, schlängelten sich kunstvolle Muster über ihre Oberarme, die sich auf ihrem Schlüsselbein zu zwei einander zugewandten Schwalben verbanden.
„Ah, hey. Ist Tyler da?“
„Der holt gerade Mittagessen. Hattest du einen Termin?“
Erik schüttelte den Kopf. „Er meinte, ich kann einfach vorbeikommen.“
„Klar, das ist kein Problem. Er sollte gleich zurück sein.“ Sie deutete auf die gemütlich aussehende Ledercouch in einer Ecke des Raums. „Setz dich doch solange.“
Erik zwang sich, seine zwischenzeitlich mit dem Boden verwachsenen Beine vorwärtszubewegen und Platz zu nehmen. Auf der Couch sitzend, ließ er seinen Blick durch das Studio schweifen.
Alles sah blitzblank aus. Die Einrichtung spiegelte sich im Fliesenboden, gerahmte Fotos durchbrachen das Weiß der Wände, zeigten verschiedenste Körper und Tattoomotive; manche in Graustufen, manche in sämtlichen Farben des Regenbogens. „Wurden die alle hier gestochen?“, fragte Erik die – wie er annahm – Tätowiererin.
„Jedes einzelne. Das hier“, sie deutete auf das Foto eines komplett tätowierten Rückens; ein eleganter Phönix, der sich zum Himmel erhob, „ist erst letzten Monat fertiggeworden.“
„Wie lange braucht sowas?“
„In reinen Stunden? Lange. Wir saßen insgesamt über ein Jahr dran, natürlich mit Abständen zwischen den einzelnen Sessions. So an die vierzig Stunden dürften es aber schon gewesen sein.“ Sie lachte über Eriks entsetzten Gesichtsausdruck. „In so ein Projekt fließen eine Menge Zeit, Geld und auch Schmerzen. Deshalb solltest du dir absolut sicher sein, es auch wirklich zu wollen.“
Eriks unfreiwillige Überlegungen, wie es sich wohl anfühlte, mehr als vierzig Stunden mit einer Nadel malträtiert zu werden, wurden glücklicherweise von der sich öffnenden Eingangstür unterbrochen. Seine Aufmerksamkeit auf der braunen Papiertüte in seinen Händen, betrat Tyler das Studio. „Der vegetarische Döner war aus, aber ich habe dir einen mit Falafel mitgebracht.“
Die Tätowiererin streckte die Arme über die Theke. „Gib, gib!“
Tyler überreichte ihr die Tüte, dann fiel sein Blick auf Erik und ein breites Grinsen enthüllte seine scharfen Eckzähne. „Du hast dich getraut.“
„Noch nicht“, gestand Erik. „Noch frage ich mich, was zum Teufel mich geritten hat, hierherzukommen.“
Tylers Grinsen wuchs. „Fluchtgedanken?“
„Dafür zittern meine Beine zu sehr.“
Das Grinsen blieb auf Tylers Gesicht, veränderte sich jedoch. Die scharfen Eckzähne verschwanden und Wärme zog in seine Augen ein. „Komm mit nach hinten. Wir klären, was du willst und wie wir es umsetzen können und wenn du dich wohl damit fühlst, ziehen wir‘s durch. Deal?“
Weiterhin wacklig, aber beruhigt, dass Tyler seine Ängste ernst nahm, anstatt sie herunterzuspielen oder sich gar darüber lustig zu machen, stand Erik auf und folgte ihm in einen Raum hinter der Theke. „Sieht aus wie beim Zahnarzt.“
Tyler lachte. „Eine Zahnreinigung ist hundertmal schlimmer als die meisten Piercings.“
Das bezweifelte Erik dann doch. Bei einer Zahnreinigung kamen wenigstens keine Nadeln zum Einsatz.
Trotzdem musste er zugeben, dass ihm der Anblick des Zimmers ein paar Ängste nahm. So wie der Vorraum, erschien auch hier alles blitzblank und auf hygienische Bedingungen ausgelegt. Nicht, dass er daran gezweifelt hatte – er hatte sich vorab im Internet vom guten Ruf des Studios überzeugt – es mit eigenen Augen zu sehen, entfaltete aber noch einmal mehr Wirkung.
„So.“ Tyler lehnte sich gegen einen der Edelstahl-Schiebetürenschränke und bedeutete Erik mit einer Hand, sich auf den Stuhl zu setzen, der ihn so frappierend an seinen letzten Zahnarztbesuch erinnerte. „Was hast du dir vorgestellt?“
„Ah …“ Fahrig tastete Erik nach der mitgebrachten Schmuckschatulle in seiner Hosentasche und präsentierte Tyler die beiden dezenten Ohrstecker darin. „Die haben meiner Mutter gehört. Mein Vater hat sie ihr zu ihrem ersten Hochzeitstag geschenkt und sie hat sie getragen, solange ich mich erinnern kann. Hat sie nie abgenommen.“ Bis man sie ihm nach ihrem Tod ausgehändigt hatte.
In Tylers Augen flackerte Verständnis. „Lässt du sie mich näher ansehen?“ Auf Eriks Nicken hin nahm er einen der beiden Stecker aus der Schatulle und betrachtete ihn im Licht. „Weißgold?“
„Ich denke, ja. Ah, ich weiß, dass ich die nicht gleich tragen kann.“ Mit dieser Aussage war er Tyler offensichtlich zuvorgekommen, der seinen Mund wieder schloss. „Ich wollte sie nur mitnehmen, um zu sehen, wie es am Ende wirken würde. Und, ah, als Motivation, das hier wirklich durchzuziehen.“
„Ist keine Schande, wenn du es dieses Mal nicht tust.“
Erik scheiterte daran, den Tyler, den er zu kennen glaubte – wild, vorlaut und ein bisschen verantwortungslos – mit dem fürsorglichen und absolut professionellen Mann übereinzubringen, der sich ihm nun annahm. Er gestand sich ein, ihn bisher unterschätzt zu haben. „Ich will seit Jahren Ohrlöcher. Wenn nicht heute, dann mache ich es nie.“
„Dann verrat mir doch, was genau du dir vorgestellt hast. Ein Piercing? Zwei?“
„Ah …“ In all den Jahren, die Erik nun schon darüber nachdachte, sich Ohrlöcher stechen zu lassen, waren seine Überlegungen nie bis zu diesem Punkt gekommen. „Keine Ahnung“, gab er schließlich zu.
„Sekunde.“ Tyler verschwand aus dem Raum. Wenige Augenblicke später kehrte er mit einem mannshohen Spiegel zurück, den er auf Rollen vor sich herschob und direkt vor Eriks Nase platzierte. „Nimm dir Zeit.“
Erik holte die Ohrringe seiner Mutter erneut aus dem Schmuckkästchen und hielt einen von ihnen gegen sein linkes Ohr. Dann gegen sein rechtes. Dann nahm er den zweiten dazu und hielt jeweils einen an jedes Ohrläppchen. So wirklich gefiel ihm keine der Varianten. Vielleicht war das ganze doch eine Schnapsidee gewesen.
„Darf ich?“ Geduldig wartete Tyler, bis Erik die Ohrringe in seine ausgestreckte Hand legte. Auch er begann beim linken Ohr, so wie Erik es getan hatte. Definitiv die bessere der beiden Seiten, vollends überzeugen wollte sie Erik dennoch nicht. Etwas fehlte. „Like this“, murmelte Tyler und drückte sanft den zweiten Stecker neben den ersten. Nun glänzten dort zwei silbrige Punkte, schienen den Verlauf von Eriks Kiefer zu betonen, die Form seiner Wangenknochen und das Grau seiner Augen.
„Ja“, sagte Erik. „So.“
Tyler antwortete mit einem zufriedenen Grinsen. „Ist der Abstand gut? Sie können auch näher zusammen, aber dann steche ich lieber heute einen und den anderen ein paar Wochen später, wegen der Schwellung.“
„Ah, nein. Ich denke, so ist es gut.“ Erik hielt still, während Tyler sein Ohrläppchen mit zwei schwarzen Pünktchen markierte und beäugte sich anschließend noch einmal kritisch im Spiegel. „Doch, so passt es.“
„Dann fängt jetzt der spaßige Teil an.“
„Für Sadisten vielleicht“, murrte Erik.
„Und Masochisten.“ Tyler zwinkerte ihm zu, wurde aber schnell ernst. „Du kannst jederzeit abbrechen. Jedenfalls bis zu dem Punkt, an dem meine Nadel durch deine Haut ist. Danach wird’s schwierig. Also scheu dich nicht, rechtzeitig was zu sagen.“
„Ich will das jetzt durchziehen“, erwiderte Erik, weil er wusste, dass er seinen Mut – oder Starrsinn – sehr bald bereuen würde, zu kneifen jedoch erst recht.
„Dann lehn dich ganz entspannt zurück. Hast du Allergien? Nickel? Was anderes?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
Zufrieden mit Eriks Antwort, bereitete Tyler seine Utensilien vor. „Unser Piercingschmuck ist aus Titan, also nickelfrei. Normalerweise passiert da nichts. Ist aber trotzdem gut zu wissen, ob ich irgendwas beachten muss.“
„Musst du nicht, denke ich. Ich habe keine Allergien, jedenfalls keine, von denen ich wüsste, nehme keine blutverdünnenden oder sonstigen Medikamente und relevante Vorerkrankungen habe ich auch nicht.“ Nach einer kurzen Pause gestand Erik. „Ich bin aber mal beim Blutabnehmen umgekippt.“ Noch eine Pause. „Zweimal.“
„Das ist zum Beispiel eine gute Info. Wird dir bei mir aber nicht passieren. Du wirst sehen, wir sind fertig, bevor du richtig merkst, dass wir angefangen haben.“
Mehr noch als Tylers lockerer Umgang mit Eriks Angst, entspannte es Erik, ihn bei seinen Vorbereitungen zu beobachten. Er trug Handschuhe, nutzte Desinfektionsmittel, sterile oder Einwegwerkzeuge. Selbst der Stift, mit dem er Eriks Ohren markiert hatte, wanderte nach Gebrauch in den Abfall.
Genauso gut hätte Erik auf einem OP-Tisch liegen können und das beruhigte ihn. Was vermutlich paradox klang – wer entspannte sich schon bei einer OP? – doch Erik mochte Medizin. Er verstand die Vorgänge und realisierte, erneut, dass er sich bei Tyler in guten Händen befand. Das half. Jedenfalls, bis Tyler die Verpackung herausholte, in der Erik die Nadel vermutete.
In diesem Moment schien sich sein Magen in Luft aufzulösen und alle umliegenden Organe in den entstandenen Hohlraum zu sacken. Dunkle Ränder verengten sein Sichtfeld und die Welt verschwamm.
„Du bist erst vor kurzem nach Berlin gezogen, was?“
„Ah …“ Erik versuchte, sich auf Tylers Frage zu konzentrieren. Dafür drehte er den Kopf zur Seite, um gar nicht mehr in Versuchung zu kommen, die abgepackte Nadel anzustarren. „Vor ein paar Monaten, fürs Studium. Merkt man das so sehr?“
„Hmm, ein wenig. Was studierst du?“
„Medizin.“
Tyler stieß einen Pfiff aus. „Kein Wunder, dass du mir so genau auf die Finger schaust.“
„Aus Neugierde“, versicherte Erik. „Nicht, weil ich an deiner Kompetenz zweifle.“ Zumal er von Tylers Fragen zu abgelenkt gewesen war, um noch groß auf dessen Vorbereitungen zu achten. Was, wie ihm nun klar wurde, Tyler vermutlich exakt so beabsichtigt hatte. Selbst der Schwindel hatte abgenommen.
„Ist okay. Ein schlecht gemachtes Piercing kann richtig beschissene Konsequenzen haben. Du solltest kritisch sein.“ Tylers Schritte kamen näher und etwas Kühles presste sich gegen Eriks Ohr. „Du warst lange nicht mehr im Duo.“
Erik fühlte ein Zwicken an seinem Ohrläppchen und beeilte sich, das nächstbeste auszusprechen, das ihm in den Sinn kam, um das Gespräch – und damit die Ablenkung – aufrechtzuerhalten. „Klingt ja fast, als hättest du mich vermisst.“
„Tut es das?“ Da schwang ein deutlich hörbares Lächeln in Tylers Stimme mit.
„Wenn es so schlimm ist, könnte ich am Freitag mal vorbeischauen.“
Tyler schnalzte mit der Zunge. „Besser nächste Woche. Und wenn du schon unbedingt jetzt willst, dann nicht zu viel schwitzen und lass dir nicht von irgendjemandem dein Ohr vollsabbern.“
„Dann wirst du wohl verhindern müssen, dass mir irgendjemand das Ohr vollsabbert.“ Ah, shit. Das hatte bestenfalls schleimig geklungen und Tyler schlimmstenfalls in eine unangenehme Situation gebracht. „Sorry, das war unangemessen.“
„War es?“
„Du hast letztes Mal ziemlich deutlich gemacht, dass du kein Interesse an mir hast, und selbst wenn es anders wäre, ist das hier immer noch dein Arbeitsplatz.“
„Hmm, wo ist nur der Junge geblieben, der mich im Duo gepackt und halb besinnungslos geknutscht hat?“ Tyler nutzte den Moment für einen weiteren Pieks. Kurz darauf richtete er sich auf. „Das war’s, du hast es überstanden. Gar nicht so schlimm, oder?“
„Mhm.“ Dafür, dass Tyler eben zweimal eine Nadel durch Eriks Ohrläppchen gestochen hatte … Eine lange, spitze Nadel. Direkt durch Haut, Fett und Bindegewebe, in denen nun ein Loch zurückblieb. Verursacht, durch eine Nadel.
Tyler musterte ihn kritisch. „Bei genauerer Betrachtung … Bleib mal lieber noch ein paar Minuten sitzen. Ich bin gleich wieder da.“
Gehorsam lehnte sich Erik zurück, schloss die Augen und atmete tief durch. Sein Ohrläppchen strahlte Hitze aus und pochte im Takt seines Herzschlags, echte Schmerzen spürte er allerdings nicht. Kaum zu glauben, dass bis eben eine Nadel– Nein, sofern er diesen Stuhl jemals wieder verlassen wollte, dachte er darüber lieber nicht mehr nach.
Wie versprochen, kehrte Tyler kurze Zeit später zurück, in einer Hand ein Glas Wasser, in der anderen ein Päckchen Traubenzucker. „Für dich.“
„Danke“, murmelte Erik peinlich berührt, als er beides entgegennahm. „Ah, tut mir leid, dass ich dich so viel Zeit koste.“
Mit hochgezogenen Brauen sah sich Tyler im Raum um. „Du meinst wegen der vielen anderen Kunden, die hier warten? Außerdem“, mit dem Daumen deutete er auf den Traubenzucker in Eriks Hand, „hätten wir das Zeug kaum da, wenn du der erste wärst, der nicht sofort fit und munter von diesem Stuhl hüpft.“
Darauf hatte Erik nichts zu erwidern, also steckte er sich den Traubenzucker in den Mund und trank artig sein Wasser. Tyler nutzte die Gelegenheit, um ihn über die korrekte Nachsorge aufzuklären.
„Ist noch was unklar?“, fragte er am Ende.
Erik schüttelte den Kopf.
„Falls doch, kannst du mich jederzeit anrufen oder vorbeikommen. Das gilt ganz besonders, wenn dir irgendwas an dem Piercing komisch vorkommt. Starke Schmerzen, nicht nachlassende Schwellungen oder Rötungen. Eiter. Du studierst Medizin, ich muss dir wahrscheinlich nicht erklären, was bei der Wundheilung alles schiefgehen kann.“
„Ich denke, das erkenne ich ganz gut.“
„Dann kommt jetzt der beste Teil.“
„Wir sind noch nicht fertig?“
Was auch immer sich auf Eriks Gesicht zeigte, brachte Tyler zum Lachen. „Fast, versprochen.“ Er platzierte den zwischenzeitlich an die Seite verbannten Ganzkörperspiegel erneut vor Erik. „Du willst doch aber sicher sehen, wofür du das hier gerade durchgestanden hast.“
„Ah. Ja. Will ich.“ Das konnte er dann auch, nachdem Tyler einen Schritt zur Seite getreten war. Himmel, Erik sah aus wie eine Leiche, käseweiß mit schweißverklebter Stirn. Dafür glänzten nun zwei winzige Stecker in seinem Ohrläppchen, nicht identisch mit denen seiner Mutter, doch nahe genug dran, um ihm einen Eindruck zu vermitteln, wie die echten aussehen würden.
Darauf, dass ihn dieser Anblick unweigerlich an ihren Verlust erinnerte, hatte er sich vorbereitet und er traf ihn weniger schlimm als das Betrachten alter Fotos. Dennoch stiegen ihm Tränen in die Augen, die er rasch fortblinzelte. „Ah, danke. Das sieht wirklich gut aus.“
Tyler winkte ab. „Hübsche Menschen noch hübscher zu machen ist keine Herausforderung.“
„Trotzdem. Du hast dir echt viel Zeit für mich genommen und mir geholfen, etwas durchzuziehen, wovor ich jahrelang zu viel Angst hatte.“
„Dein Verdienst, nicht meiner. Sei stolz auf dich.“
Das ließ Erik so stehen, denn ja, unter all den Emotionen, die derzeit in ihm wüteten – seiner aktuellen Schätzung nach handelte es sich dabei etwa um die Anzahl eines durchschnittlichen Bienenschwarms – fand sich definitiv auch Stolz. Damit das so blieb, startete er einen Versuch, endlich von diesem Stuhl runterzukommen.
Er setzte wacklige Beine auf den Boden, drückte sich hoch und … stand. Ein Rest Schwindel trieb Nebelschwaden durch seinen Kopf, als hätte er ein Glas zu viel erwischt, die Gefahr spontan aus den Latschen zu kippen schien aber gebannt.
Tyler bezog neben Erik Stellung, nahe genug, um ihn notfalls aufzufangen. „Okay?“
„Mhm. Wie viel schulde ich dir?“
„Das hatten wir geklärt und auf die Diskussion lasse ich mich auch gar nicht ein.“
„Aber–“
„Nein.“
„Du hast so viel Zeit–“
„Nein.“
„Wenigstens eine Kleinig–“
„Das hier war ein Dankeschön für dich“, stellte Tyler klar. „Empfiehl mich weiter, wenn du zufrieden bist, aber dein Geld lässt du stecken.“
Erik gab sich geschlagen. „Wie du meinst. Dann, ah, sehen wir uns in ein paar Wochen zur Nachkontrolle? Sofern es problemlos abheilt?“
„Und du dich nicht im Duo blicken lässt.“
Mit dem Kopf voller Bilder, was wohl passierte, falls er das doch tat, verließ Erik das Studio.