Was zuletzt geschah:
Marco scheint ganz unten angekommen zu sein. Er fühlt sich einsam, verlassen und so, so schuldig. Und wie immer, wenn er in seinem Leben nicht weiter weiß, tragen ihn seine Füße zum Tässchen. Nicht, weil er dort Unterstützung erwartet, sondern in der Hoffnung, etwas über Erik zu erfahren – dafür ist er sogar bereit, sich Mannis und Hugos harschen Worten zu stellen. Nur, dass diese Worte nicht kommen. Stattdessen findet er warme Arme und die Einsicht, auch mal Schwäche zeigen zu dürfen. Das bringt sein Leben nicht über Nacht wieder auf die richtige Bahn, aber es ist ein wichtiger erster Schritt. Vielleicht findet er eines Tages sogar die Kraft, sich Erik zu stellen.
Kapitel 33
Frustriert musterte Erik sein Spiegelbild, drehte sich mal nach links, mal nach rechts, und verrenkte seinen Hals, um auch seine Kehrseite zu inspizieren. Wie schrecklich langweilig er aussah. Farblos. Gewöhnlich.
Nicht, dass er sich generell unwohl in seinem Körper fühlte. Sah man von den Narben an seinen Armen ab, fand er sich ganz okay. Der Teil von ihm, der Wert auf sowas legte, bemerkte zudem durchaus die Blicke, die andere ihm gelegentlich zuwarfen.
Dennoch nagte Unzufriedenheit an ihm, die mit jeder Schicht im Tix an Stärke gewann. Egal, ob unter den Gästen oder seinen Mitstreitern an der Bar, im Club wimmelte es von schillernden Figuren. Piercings, Tattoos, ausgefallene Klamotten und schrille Frisuren. Ein Meer aus Farben und persönlichem Ausdruck. Und er? Schaffte es mit Mühe und Not, seine standardblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zu binden.
Früher, kurz vor dem Tod seiner Eltern, hatte es Erik Spaß gemacht, seine Haare in allen Regenbogenfarben zu färben, von zuckerwatterosa bis meerschaumtürkis. Leider vertrugen sie es schlecht, wurden trocken und strohig, ein Risiko, das er nicht eingehen wollte, jetzt, da sie endlich eine Länge erreichten, die ihm gefiel.
Fragte sich, was er sonst ändern konnte. Nicht zum ersten Mal an diesem Morgen – oder den vergangenen Wochen – wanderten Eriks Gedanken zu der Serviette, die gut behütet in einer seiner Schreibtischschubladen lagerte. Tylers Piercingstudio. Definitiv eine Möglichkeit, sich ein wenig interessanter zu gestalten.
Erneut wandte Erik seine Aufmerksamkeit seinem Spiegelbild zu, studierte sein Gesicht. Durch die Augenbraue, vielleicht? Nase? Lippe? Zunge? Tiefer?
Seufzend verabschiedete er sich von dieser Idee. Egal welche Stelle, am Ende wäre eine Nadel in den Prozess involviert, und darauf verzichtete er lieber. Dasselbe galt für Tattoos.
Abgesehen davon schadete es vermutlich nicht, mit einer etwas weniger permanenten Option anzufangen.
Eriks Blick blieb an seinen Fingernägeln hängen. Er hatte Marco zuliebe darauf verzichtet, doch eigentlich hatte er sich mit dem von seiner Cousine aufgetragenen Nagellack ziemlich gut gefallen. Ein Klecks Farbe, im Grunde nicht der Rede wert, wäre er nicht zufällig ein Mann.
Ja, doch, das schien ihm ein passender Anfang.
Sobald er im Rahmen seines Studiums anfing praktisch zu arbeiten und später im Job sowieso, waren Ringe, Uhren und auch lackierte Nägel aus hygienischen Gründen tabu, aber bis dahin genoss er ein wenig Gnadenfrist. Er täte gut daran, sie zu nutzen.
Erik verabschiedete sich von seinem nackten Spiegelbild, schlüpfte in die wärmsten Klamotten, die sein Schrank zu bieten hatte, und ging shoppen.
~~~~~~~~~~
Das hatte er sich anders vorgestellt. In Eriks Kopf sollten seine Nägel in tiefem Violett erstrahlen, eine ebenmäßige, matt-glänzende Schicht, so dunkel, dass sie auf den ersten Blick schwarz erschien. In der Realität hatte er neben seinen Nägeln auch die Hälfte seiner Finger und den Tisch bemalt. Wie konnte seine zehnjährige Cousine mehr Feinmotorik besitzen als er? Chirurgie durfte er als Facharztrichtung für sich jedenfalls ausschließen.
Nachdem er die Lackklumpen mithilfe einer halben Flasche Nagellackentferner notdürftig abgerieben hatte, griff Erik nach seinem Telefon und rief bei der einzigen Person an, die ihm in dieser Situation weiterhelfen konnte. „Charlotte, ich brauche dich.“
„Wow. So einen Anruf erwarte ich Freitagnacht von irgendeinem besoffenen Ex, nicht Samstagnachmittag von meinem schwulen Freund.“
„Wenn du darauf bestehst, kann ich erst ein paar schmierige Anspielungen machen, bevor ich dir sage, warum ich wirklich anrufe.“
„Nur zu, ruinier uns nur beiden den Tag“, erwiderte Charlotte trocken. „Also? Was gibt’s?“
Erik versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, doch insgeheim ging sein Herz über vor Freude, Charlotte nach seiner anhaltenden Schweigephase nicht als Freundin verloren zu haben. Als er sich vor einigen Wochen bei ihr gemeldet hatte, hatte sich sein Puls sicherlich im medizinisch bedenklichen Bereich bewegt. Zu Unrecht, wie sich herausstellte. Charlotte – ebenso wie Aisha – hatte ihn mit offenen Armen und gewohnt großer Klappe empfangen. „Ich bräuchte ein paar Tipps zum Nägellackieren.“
„Das ist alles?“
„Wenn du wüsstest, wie meine Nägel aussehen, würdest du es auch für einen Notfall halten.“
Am anderen Ende der Leitung gab Charlotte einen Ton von sich, der irgendwo zwischen Lachen und Seufzen schwankte. „Was würdest du bloß ohne mich machen, Kleiner.“
In den darauffolgenden zwanzig Minuten erfuhr Erik mehr über Nagellack und dessen Verwendung, als er je für nötig erachtet hätte. Als Charlotte anfing, über das Pro und Contra von Gelnägeln zu referieren, unterbrach er sie. „Ich fürchte, das ist alles, was mein Hirn heute abspeichern kann. Wenn du mir noch eine Info mehr erzählst, vergesse ich meinen eigenen Namen.“
„Weißt du, was noch viel einfacher wäre? Wenn du deinen Arsch endlich nach Stuttgart schwingen würdest, müsste ich mir nicht ewig den Mund fusselig reden, sondern könnte dir einfach zeigen, wie man es richtig macht.“
„Einverstanden.“ Erwartungsgemäß beantwortete überrumpeltes Schweigen Eriks Worte und er konnte sich ein schmales Lächeln nicht verkneifen. Seit Monaten drängte Charlotte ihn, nach Stuttgart zu kommen, und seit Monaten fand er Ausflüchte, weshalb das nicht ging. Seine Bereitschaft, endlich in seine Heimatstadt zurückzukehren, überraschte ehrlicherweise nicht nur Charlotte, doch zum ersten Mal fühlte es sich richtig für ihn an. „Wann passt es bei dir denn am besten? Demnächst laufen die Vorlesungen wieder an, deswegen kann ich höchstens übers Wochenende, aber zumindest da bin ich relativ flexibel.“ Sofern er seine Pläne frühzeitig mit dem Tix absprach.
„Die letzte Maiwoche wäre perfekt.“
„So spät? Da ist noch ewig hin.“ Erst konnte es Charlotte nicht erwarten ihn zu sehen, und nun vertröstete sie ihn um mehr als einen Monat.
„Nix da ‚spät‘“, sagte Charlotte. „Genau rechtzeitig, um uns beim Umzug zu helfen.“
„Ihr habt eine Wohnung?“
„Und ob wir die haben!“
„Das ist fantastisch! Gefällt sie euch?“
Charlotte schnaubte. „Sie ist ein winziges Loch direkt an der Hauptstraße, das zum letzten Mal in den Siebzigern renoviert wurde. Küche müssen wir selbst kaufen, keine Ahnung, wie genau wir das finanzieren wollen, und die Badfliesen sind kotzfarben. Mein Arbeitsweg ist auch fast doppelt so lange wie von der WG aus. Aber sie ist unsere.“
„Ich freue mich so für euch!“ Das meinte Erik völlig ernst, dennoch spürte er einen neidvollen Stich in seinem Herzen. Philipp und Charlotte hatten sich durch ihn und Marco kennengelernt, doch während seine Beziehung lange der Vergangenheit angehörte, meisterten die beiden glücklich einen weiteren Meilenstein.
Der Schmerz verging schnell. Ja, Erik vermisste Marco, wie könnte er nicht, aber er genoss auch sein Singleleben und die Freiheiten, die es mit sich brachte. Zum Beispiel, sich die Fingernägel zu lackieren. Oder, alle Zeit der Welt zu haben, um seiner Freundin Charlotte zu lauschen. „Erzähl mir alles.“