Was zuletzt geschah
Die Katze ist aus dem Sack. Das heißt, Berlin aus Eriks Mund. Oder so ähnlich. Die Panikattacke, die seinen und Marcos gemeinsamen Ausflug zum See frühzeitig beendet, zwingt Erik dazu, ein paar unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Zum einen, dass er seit Monaten unter Panikattacken leidet. Zum anderen, dass sein heißersehnter Studienplatz nicht wie von Marco erhofft in Tübingen sein wird, sondern im hunderte Kilometer entfernten Berlin. Reagiert Marco seinem aufgelösten Freund zuliebe nach außen hin zunächst gelassen auf die Neuigkeiten, stellt sich die Frage, wie es in seinem Inneren aussieht.
Kapitel 9
Erbarmungslos brannte die Mittagssonne auf ihre Köpfe. Zum wiederholten Mal verfluchte sich Erik dafür, zwar Sonnencreme, aber keine Kopfbedeckung eingepackt zu haben.
Er hatte allerdings kaum damit rechnen können, sofort nach der Ankunft ihres Zugs von Marco durch halb Venedig gescheucht zu werden. Seine erste Fahrt im Vaporetto – dem venezianischen Wasserbus – hatte er sich weit weniger verschwitzt vorgestellt, und so adrett er die zahlreichen Bootsanlegestellen auf Giudecca fand, wünschte er sich, sie ohne schweren Koffer zu erkunden. „Können wir nicht zuerst ins Hotel und unsere Sachen verstauen?“
„Gleich, gleich.“ Ungeduldig mit der Hand wedelnd wartete Marco, bis Erik zu ihm aufgeschlossen hatte. „Ein paar Minuten noch.“
Mit gesenktem Kopf trottete Erik neben seinem Freund her, den Tag merklich in den Knochen. Zuerst eine vor Nervosität durchwachte Nacht, anschließend zehn Stunden Zugfahrt. Nun knabberten Hunger, Durst, Erschöpfung und Hitze an seinem Enthusiasmus, und diese verflixten Kopfschmerzen meldeten sich ebenfalls. Kein grandioser Einstieg in ihren ersten gemeinsamen Urlaub.
Ihr erster gemeinsamer Urlaub. Akribisch von Marco geplant, mit nichts als einem von Erik vorgegebenen Wunschreiseziel und deutlich zu knappem Budget. Nicht, dass sich Marco jemals beschwert hätte, dennoch glaubte Erik, eine gute Vorstellung davon zu haben, wie viel Mühe dieser in die Planungen investiert haben musste. Das Mindeste, das Erik tun konnte, war aufzuhören, wie ein Dreijähriger zu quengeln.
Zumal sie die gemeinsame Zeit mehr als dringend brauchten. Trotz des neuen Mitarbeiters arbeitete Marco längere Stunden denn je, hatte kaum Energie für Unternehmungen und nickte mehrmals pro Woche im Anschluss ans Abendessen auf der Couch ein.
Erik hingegen steckte mitten in den Vorbereitungen für seinen Umzug nach Berlin, permanent in Angst, keine Wohnung zu finden, und überwachte eine To-Do-Liste, die sich täglich verlängerte statt verkürzte. Was nicht unbedingt dabei half, seine Panikattacken in den Griff zu bekommen. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie das Thema ‚Berlin‘ mieden wie die fauligen Reste im Kühlschrank, bei denen man darauf hoffte, dass sich der jeweils andere schon irgendwann erbarmen und darum kümmern würde.
Fest entschlossen Marco zu beweisen, dass es sich lohnte trotz aller zurzeit widrigen Umstände an ihrer Beziehung festzuhalten, streifte Erik mit den Fingern über dessen Handrücken und schenkte ihm ein Lächeln. Er wollte diesen Urlaub genießen, jede einzelne Minute davon.
Erik hob den Kopf, schnupperte den Duft des Salzwassers, das gegen Motoryachten schwappte und lauschte dem Kreischen der unter strahlendem Himmel hinweggleitenden Möwen. Eine sanfte Brise trocknete den Schweiß auf seiner Stirn, den die Sonne sofort erneut heraufbeschwor. So sehr er sich nach einem kühlen Hotelzimmer sehnte, so wenig wollte er die Marina verlassen.
Abrupt blieb Marco stehen. „So. Hier sollte es sein.“
Erik sah sich um, entdeckte ein Restaurant mit Außenbereich und diverse Geschäfte, deren angebotene Waren ihm mittelmäßig sinnvoll erschienen. Nichts davon sah nach Hotel aus. „Wo sollte was sein?“
Ein Grinsen, das bei einem Ohr begann, und beim anderen aufhörte, erhellte Marcos Gesicht. Anstatt Eriks Frage mit einer Antwort zu adeln, zog er ihn mit sich. Nicht in Richtung der Häuser oder einer Gasse, die Erik bisher übersehen hatte, sondern zielstrebig zu einem der Stege der Marina. Ihr Weg endete vor einer Segelyacht, deren poliertes Holz in der Sonne glänzte. „Tadaa!“
„Ah .... Was?“
„Ich sagte ‚Tadaa‘.“
„Weil?“
„Wir bei unserem Hotel angekommen sind. Giovannis Vater ist mit dem Besitzer befreundet. Abgesehen davon, dass er einen netten Rabatt für uns aushandeln konnte, wurde mir versichert, dass das Frühstück absolut himmlisch ist.“
Eriks Herz pochte. Eine Segelyacht, die sanft in den Wellen wogte, umhüllt vom Duft nach Salz und Seetang. Perfekter hätte Marco ihr ‚Hotel‘ nicht wählen können.
„Gefällt‘s dir?“
Stumm nickte Erik, überwältigt von Marcos Ideenreichtum.
„Dann lass uns einchecken. Je früher ich in die Nähe eines Betts komme, umso besser.“ Allerdings hielt Marco Erik vor dem ersten Schritt zur Yacht zurück. „Ähm, eine Sache noch …“ Plötzlich wirkte sein Lächeln angestrengt. „Der Besitzer ist zwar ein Freund von Giovannis Vater, aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was Giovanni ihm erzählt hat. Damit meine ich, dass ich nicht weiß, ob er weiß, dass wir …“
„Schon klar. Für den Aufenthalt hier sind wir nur gute Freunde.“ Erik verstand diese Vorsichtsmaßnahme, weshalb es ihn überraschte, wie furchtbar sie schmerzte. Nichtsdestotrotz zwang er sich ein Lächeln aufs Gesicht. Dieses Versteckspiel betraf nicht nur ihn. „Zeit, dass wir aus der Sonne kommen.“
Gemeinsam liefen sie zur Gangway.
„Signor Bianchi?“ Ein Mann mittleren Alters und mittlerer Statur, mit sonnengebräunter Haut und Lachfalten winkte ihnen vom Deck aus zu.
Marco erwiderte den Gruß. Abgesehen von den ersten ausgetauschten Höflichkeitsfloskeln reichten die mageren Italienischkenntnisse, die sich Erik im vergangenen Jahr angeeignet hatte, nicht ansatzweise aus, um der schnellen Unterhaltung zu folgen. Still harrte er aus, während der Yachtbesitzer und Marco sich wild gestikulierend ihre jeweiligen Lebensgeschichten zu erzählen schienen.
Offenbar an deren Ende angekommen, schob Marco Erik zur Gangway, bestand jedoch darauf, ihm den Koffer abzunehmen. Zumindest so lange, bis er merkte, dass auch eine vertäute Yacht im Wellengang schwankte und Eriks helfende Hand dankbar annahm.
Auf dem Schiff begrüßte sie der Bootsbesitzer mit einem Schlüssel und deutete zu einer schmalen Treppe, die unter Deck führte. In weiterhin für Eriks Kenntnisse deutlich zu schnellem Italienisch, ratterte er einige Sätze herunter. Dabei wirkte er freundlich und lachte oft, doch von einem Wort aufs andere wechselte Marcos Gesichtsausdruck, als hätte er ein Gespenst gesehen. Der Moment kam und ging und keine Sekunde später kehrte Marcos Grinsen zurück.
Hätte Erik ihn einen Tick schlechter gekannt, hätte er den kurzen Stimmungsumschwung für Einbildung gehalten. So wartete er, bis sie die steile Treppe ins Innere des Schiffs bewältigt hatten, bevor er fragte: „Gibt es Probleme? Du hast auf einmal so seltsam geguckt.“
„Hm?“ Marco schielte über seine Schulter – der schmale Gang erlaubte es nicht, bequem nebeneinander zu gehen – dann winkte er ab. „Nah, alles gut. Hat sich nur herausgestellt, dass wir uns keinen Kopf darüber hätten machen müssen, wie viel Tommaso über uns weiß.“
„Ach ja?“
„Sì.“ Zielsicher führte Marco sie zur hintersten Kabine und entriegelte das Schloss. Auf der anderen Seite begrüßte sie ein Bett, das gerade genug Platz ließ, um die Tür zu öffnen, ohne daran anzuecken. „Er hat uns nämlich extra die einzige Kabine mit Doppelbett reserviert.“
Erik brach in erleichtertes Gelächter aus und Marco stimmte ein. Arm in Arm purzelten sie auf das Bett, die Kabinentür mit einem Schubs ihrer Ferse fest verschlossen. Frische Luft strich über ihre Köpfe, auf der anderen Seite des Bullauges flossen Meer und Himmel am Horizont ineinander. Erik reckte den Hals, um sich umzusehen, ohne den Körperkontakt zu Marco zu verlieren.
Jeder Zentimeter der winzigen Kabine hatte seinen Nutzen. Das Bett nahm beinahe den gesamten Platz ein, lediglich ein schmaler Streifen Boden ermöglichte das Öffnen und Schließen der beiden vom Raum abgehenden Türen. Eine davon führte zum Gang, aus dem sie gekommen waren, der andere in ein enges Badezimmer.
„Wir haben sogar eine eigene Dusche?“
„Siehst du mal. Für dich ist mir nichts zu teuer.“ Marco wuschelte durch Eriks Haar. „Jedenfalls solange es in unserem Budget liegt.“
Zufrieden seufzend schmiegte sich Erik in die Berührung. Kurz überlegte er, das extra für sie reservierte Doppelbett gebührend einzuweihen, fürchtete allerdings, dabei auf halbem Weg einzuschlafen.
Marco schien seine Bedenken zu teilen. „Was hältst du davon, wenn wir uns eine Stunde hinlegen und dann den Abend nutzen, um die Gegend auszukundschaften?“
Zur Antwort trat sich Erik die Schuhe von den Füßen, schlüpfte aus seinem verschwitzten Shirt und entledigte sich seiner Jeans. Er schaffte es gerade noch, den kühlen Luftzug auf seiner Haut zu genießen, bevor ihn der Schlaf übermannte.
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Benommen rollte sich Erik auf die Seite und blinzelte. Die Schatten in der Kabine zogen sich länger als vor seinem Nickerchen, sahen jedoch noch nicht nach Abenddämmerung aus. Was hatte ihn geweckt?
Da. Ein Geräusch aus dem Bad. Es klang nach … Würgen?
„Marco?“
Wieder das Geräusch. Ja, definitiv Würgen. „Alles okay bei dir?“
Es dauerte, bis eine Antwort kam. „Geht schon. Nur etwas“, erneutes Würgen, „seekrank.“
„Ah, shit.“ Erik lauschte auf seinen eigenen Magen, doch der schien das sanfte Wiegen der Segelyacht eher zu genießen. „Warte, ich suche mein Erste-Hilfe-Täschchen. Da sollten Kaugummis gegen Reisekrankheit drin sein. Die helfen dir sicher.“ Wenigstens ein bisschen, fügte er in Gedanken hinzu.
„Graz–“ Marco erbrach sich, bevor er seine Dankbarkeit vollends zum Ausdruck bringen konnte.
Hastig durchwühlte Erik seinen Koffer nach der sorgfältig zusammengestellten Reiseapotheke. Socken, Unterhosen, Regenschirm und Bücher stapelten sich auf der Matratze; am Ende hielt er triumphierend das rote Täschchen mit dem weißen Kreuz in den Händen. Jetzt musste Marco nur noch seine Übelkeit lange genug in den Griff bekommen, um den Kaugummi nicht sofort auszuspucken.
Erik klopfte gegen die angelehnte Toilettentür, um seine Anwesenheit anzukündigen, bevor er sie öffnete. Ein eindeutiger und nicht gerade angenehmer Geruch schlug ihm entgegen, der angesichts des Häufchen Elends zu seinen Füßen schnell verblasste.
Marcos sonst so gesunde Gesichtsfarbe schimmerte grün, das Dreieck um seinen Mund kalkweiß. Dicke Schweißtropfen standen auf seiner Stirn und seine Augenlider schlossen sich, noch während er den Kopf drehte, um Erik anzusehen. Sichtlich ausgelaugt sank er zurück gegen die Toilette. „Porco dio.“
„Wie fühlst du dich?“
„Deinem Blick nach zu urteilen ungefähr so, wie ich aussehe.“
„Kannst du aufstehen?“
„Habe ich seit einer Weile nicht versucht.“
Erik spielte mit der Kaugummiverpackung in seiner Hand. Er bezweifelte, dass eine kleine Dosis Dimenhydrinat in Marcos Zustand half. „Was hältst du davon, wenn ich dir ein Glas Wasser organisiere und wir danach eine Runde in Venedig spazieren gehen? Frische Luft und fester Boden unter den Füßen tun dir sicher gut.“
„Okay.“
„Ich bin gleich wieder da.“ Das geräuschvolle Würgen hinter ihm regte Erik zu einem Sprint an.
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„Besser?“
Marco reckte die Nase in den Wind, sein Haar schweißnass und zerzaust. „Sì.“
Den Blick aufs Meer gewandt, lehnten sie an einem Baum nahe dem Steg zu ihrem schwimmenden Hotel. Rechts von ihnen hüllte die am Horizont versinkende Sonne den Himmel in Licht aus Gold und Flieder. Möwen beäugten die beiden Männer in der Hoffnung auf einen Snack. Auch Eriks Magen machte grummelnd auf sich aufmerksam.
„Wollen wir ein Stück Spazierengehen?“, fragte er. „Giudecca erkunden?“
„Gib mir noch fünf Minuten.“
„Du bekommst sogar zehn.“
Vor Ablauf der vereinbarten Wartezeit stieß sich Marco vom Baumstamm ab und schenkte Erik ein wackliges Grinsen. „Andiamo.“
Schulter an Schulter, aber nicht Händchen haltend, liefen sie durch die Gassen. Vorbei an dem Restaurant mit Außenterrasse – Eriks Magen protestierte lautstark – vorbei an unzähligen Yachten, Souvenirläden und Hotels. Mit jedem Schritt kehrte mehr Farbe in Marcos Gesicht zurück und sein Lächeln gewann an Strahlkraft.
„Also?“, fragte er. „Was willst du zuerst sehen?“
„Abendessen“, erwiderte Erik prompt. „Sofern dein Magen das verkraftet.“
Marco wirkte alles andere als sicher, nickte jedoch. „Giulia hat mir ein paar Tipps mitgegeben.“ Er studierte die sie umgebenden Straßen und Kanäle. „Hm, ich glaube, da vorne rechts soll eine ziemlich leckere Trattoria sein.“
Vorne rechts fand sich weder eine leckere noch eine unleckere Trattoria und auch diverse Abbiegungen später blieb das Ergebnis unverändert. Keine Trattoria in Sicht, dafür ein neuer Tiefpunkt von Marcos Laune. „Ich bin sicher, es muss hier irgendwo sein“, grummelte er.
„Wie heißt die Trattoria denn? Bestimmt kann ich sie googeln.“ Wenn Erik schon extra für diesen Urlaub einen Zusatztarif abgeschlossen hatte, der ihm Datenvolumen im Ausland garantierte, wollte er ihn nutzen.
„Ist doch Quatsch. Wir finden auch so hin.“
„Die vergangene Viertelstunde spricht gegen deine These.“ Diesen flapsigen Kommentar hätte sich Erik mal lieber verkniffen. Marcos kühles Schweigen sprach von jeder Menge verletztem Stolz.
„Andererseits …“ Erik steckte sein Smartphone weg. „Vielleicht gehen wir die Sache falsch an. Wir sind im Urlaub, das Wetter ist herrlich und die Stadt wartet darauf, von uns erkundet zu werden. Warum laufen wir nicht einfach in die Richtung, die uns am besten gefällt und wenn wir an einem Lokal vorbeikommen, das nett aussieht, gehen wir rein?“
Wirkte Marco anfangs wenig besänftigt, änderte sich das, als Erik jedem seiner Vorschläge, welche Gasse sie als nächstes erkunden wollten, enthusiastisch zustimmte. Ein Restaurant, das ihm zusagte, fand er allerdings nicht. Vermutlich verstärkte sein rebellierender Magen seine generelle Abneigung diesen gegenüber – sogar unter den besten Umständen besuchte er Restaurants grundsätzlich nur Erik zuliebe.
Nach einer guten Stunde Spaziergang landeten sie nicht vor der ursprünglich gesuchten Trattoria, sondern einem Supermarkt. Hungrig genug, um sich inzwischen auf jeden Kompromiss einzulassen, deutete Erik darauf. „Was denkst du? Sollen wir uns hier eine Kleinigkeit organisieren?“
Die Erleichterung stand Marco ins Gesicht geschrieben. „Sì, lass uns das machen.“
Gemeinsam betraten sie den Laden und Erik konnte dabei zusehen, wie Marco aufblühte. Mit großen Schritten eilte er voran, vorbei an Regalen gefüllt mit Produkten, die sich für Erik zur gleichen Zeit fremd und vertraut anfühlten.
„Oh, das musst du unbedingt probieren!“, rief Marco vom Süßwarenregal aus. „Das Leckerste, was du je gegessen hast, versprochen. Unmöglich in Deutschland aufzutreiben. Die Kekse hier auch. Und die! Die Schokolade hier ist auch mega und diese Küchlein erst …“
Rasch füllten sich Eriks Arme mit Süßigkeiten, Snacks und Getränken, bis sie mit gefühlt hundert Kilo Lebensmitteln bewaffnet ungelenk zur Kasse watschelten, um den nicht unerheblichen Preis zu zahlen. Entgegen Eriks Befürchtung tangierte das Marco kaum. Er quasselte fröhlich mit dem Kassierer. Worüber, blieb Erik dank Sprachbarriere verborgen.
„Eventuell habe ich etwas übertrieben“, murmelte Marco, als sie den Supermarkt mit zwei prall gefüllten Tüten verließen. „Ich war bloß schon so lange nicht mehr in Italien, dass mir erst jetzt richtig auffällt, wie sehr ich es vermisst habe. Morgen halten wir noch Ausschau nach einem richtigen Gemüsemarkt. Die Feigen, die wir hier mitgenommen haben, sehen ganz okay aus, aber das geht besser. Absolut kein Vergleich zu dem, was du in Deutschland bekommst.“
Erik schmunzelte. „Ist das so?“
Über ihnen erwachten die Straßenlaternen flackernd zum Leben, trieben die Schatten der hereinbrechenden Dunkelheit zurück in schmale Gassen und uneinsichtige Ecken. Nicht zum ersten Mal erklang das Grummeln eines ungeduldigen Magens.
„Fühlst du dich fit genug, um aufs Boot zurückzugehen?“, fragte Erik.
„Was ist mit Abendessen?“
Erik hob die Einkaufstüte, die von seinem Handgelenk baumelte. „Ich habe den Eindruck, dass wir für heute ausreichend ausgestattet sind.“
„Bist du sicher?“
„Möchtest du denn im Restaurant essen?“
„Eigentlich nicht“, gestand Marco nach einigem Herumgedruckse. „Mir ist immer noch flau im Magen.“
„Hier.“ Erik reichte ihm die Packung mit den Kaugummis gegen Reisekrankheit. „Kau am besten schon jetzt einen, dann hat er Zeit zu wirken, bis wir zurück auf dem Boot sind.“
Kritisch musterte Marco die Kaugummis, gab sich jedoch einen Ruck und befolgte Eriks Anweisung.
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Erik blickte über die Reling aufs Meer, Marco kaugummikauend an seiner Seite. Das mild-süße Aroma der Feige, in die er eben gebissen hatte, klang auf seiner Zunge nach.
„Gut?“, fragte Marco.
„Mhm.“ Verlegen wischte sich Erik einen Tropfen Saft aus dem Mundwinkel. „Sehr lecker.“ Er musterte seinen Freund. „Was macht die Übelkeit?“
„Hält sich in Grenzen. Hundertprozent wohl fühle ich mich nicht, aber deine Kaugummis scheinen zu helfen.“
„Sag Bescheid, wenn es schlimmer wird, dann überlegen wir uns etwas. Notfalls ziehen wir in ein Hotel um. Also eines, das nicht auf dem Wasser schwimmt.“
„Quatsch. So tragisch ist es echt nicht.“
Erik verkniff sich den Hinweis, dass Marco noch vor wenigen Stunden halb ohnmächtig im Badezimmer gelegen und sein Mittagessen ins Klo verabschiedet hatte. „Ist ja nur eine Option, falls–“
„Marco! Erik!“ Tommaso, der Kapitän, Hotelier, Yacht-Besitzer, oder was auch immer er genau darstellte, winkte ihnen zu. In einer Hand hielt er zwei leere Gläser, in der anderen eine Flasche Rotwein. „Un bicchiere di vino?“
„Tommaso bietet uns Wein an“, übersetzte Marco. „Ich frage ihn, ob er für dich auch was alkoholfreies hätte.“
„Ah, eigentlich würde ich gerne den Wein probieren.“
Verblüfft blinzelte Marco. „Sicher?“
Erik führte Daumen und Zeigefinger zusammen, bis nur ein schmaler Streifen Luft sie trennte. „Einen kleinen Schluck.“ Denn verflucht, er hatte Lust auf Wein, und es satt, sich permanent einzuschränken. Wie sollte er jemals aufhören, schlechte Erinnerungen mit Alkohol zu verbinden, wenn er nicht versuchte, sie mit schöneren zu überschreiben? Und welche Erinnerung könnte besser sein, als der erste gemeinsame Abend ihres ersten gemeinsamen Urlaubs, auf einer wundervollen Segelyacht, umgeben von lauer Luft und Meeresflüstern?
Er wandte sich an Tommaso. „Un bicchiere di vino, per favore.”
Zufrieden nickend füllte Tommaso die beiden Weingläser – ein volleres für Marco, ein weniger volles für Erik – und verabschiedete sich mit einem Zwinkern. „Passate una buona serata.“
„Er wünscht uns–“
„–einen schönen Abend. Dafür reichen meine Italienischkenntnisse dann doch.“
„Ich bin beeindruckt.“ Marco legte einen Arm um Eriks Hüfte und bugsierte ihn in Richtung der bequem aussehenden Liegestühle, gerade breit genug, um ihnen beiden Platz zu bieten. Sofern sie kuschelten. Was sie taten.
„Du genießt das, oder?“ Erik entfaltete die auf der Armlehne drapierte Wolldecke und breitete sie über ihre aneinandergeschmiegten Körper aus. Die vom Meer kommende Brise sorgte trotz der milden Temperaturen für Gänsehaut. „Die Gelegenheit zu haben, italienisch zu sprechen, meine ich.“
„Schon“, gab Marco zu. „Zuhause haben wir eigentlich nie deutsch gesprochen.“ Seine eben noch locker auf Eriks Schulter ruhende Hand zuckte unruhig. „Manchmal fehlt mir das.“
„Hast du jemals überlegt hierherzuziehen?“
„Nah. Also, überlegt schon, aber nie ernsthaft. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, Italien kenne ich im Grunde nur aus Erzählungen und den paar Wochen jedes Jahr, in denen wir hier Familie besucht haben. So sehr es mich nervt in Deutschland ständig ‚der Italiener‘ zu sein … Hier wäre ich ‚der Deutsche‘. Wie schmeckt der Wein?“
Überrumpelt vom unerwarteten Themenwechsel, nippte Erik daran. „Ganz gut.“
„Schon beschwipst?“
„Hackedicht. Du wirst mich nachher in unsere Kabine tragen müssen.“
„Ob du es glaubst oder nicht, cuore mio, die Vorstellung, dich über die Schwelle zu tragen, stresst mich kein bisschen.“
Eriks Ohren wurden heiß. „Heb dir das lieber für die Wohnung in Berlin auf.“ Er wartete lange auf eine Antwort, doch Marco starrte schweigend an ihm vorbei aufs dunkle Meer. Nicht zum ersten Mal, dass er dem Thema auswich.
Keine von Eriks Anspielungen, wie viele Stellenanzeigen für Schreiner in Berlin ausgeschrieben standen oder wie großen Spaß es machen würde, die Stadt gemeinsam zu erkunden, hatte bisher eine Reaktion provoziert. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass Erik explizit nach einer Zwei-Zimmer-Wohnung suchte, die genug Raum für ein junges Paar bot. Im Grunde antwortete Marco ihm sehr wohl. Die Antwort fiel nur anders aus, als er sich gewünscht hätte.