Was zuletzt geschah
Bevor sich Erik Stuttgart verlässt, möchte er sich einer anderen Art von Abschied stellen. Mit Marcos Stärke im Rücken, besucht er das Grab seiner Eltern – das erste Mal seit ihrer Beerdigung – und lassen die Emotionen anfangs auf sich warten, überrollen sie ihn bald. Derweil kämpft Marco mit seinen ganz eigenen Verlusten. Seine Eltern mögen am Leben sein, ihre liebevolle Zuneigung wird ihm dennoch seit langem verwehrt. Obwohl Marco und Erik einen ähnlichen Schmerz teilen, schaffen sie es in dieser Situation kaum, einander Halt zu geben.
Kapitel 13
Nieselregen benetzte die Köpfe der Möbelpacker, die Eriks Einrichtung im Umzugswagen verstauten. „Das war das letzte Teil“, informierte ihn Krzysztof. Trotz des kühlen Wetters trug er lediglich ein von Schweiß und Regen durchnässtes T-Shirt. „Komm hoch, dann laufen wir nochmal die Wohnung ab, bevor es nach Berlin geht. Morgen früh fangen wir mit Ausladen und Montage an.“
„Danke. Ich muss heute noch einiges erledigen, aber bis morgen Mittag sollten wir es zur neuen Wohnung schaffen. Vorausgesetzt, wir geraten in keinen Stau.“
Krzysztof winkte ab. „Dafür gibt’s den Zweitschlüssel und Möbelstellplan. Mach dein Handy laut, damit wir dich notfalls erreichen.“
Nach ihrem Rundgang verabschiedete Erik Krzysztof und die übrigen Mitarbeiter der Umzugsfirma, und bereitete sich darauf vor, in seiner leeren Wohnung auf seine Vermieterin zur Abnahme zu warten, als ihn eine SMS erreichte.
‚Komm ins Tässchen, wenn du fertig bis. Marco.‘
Der zur Nummer gehörende Name wich vom Unterzeichner der Nachricht ab, weil sich Marco offensichtlich kurz Hugos Handy geliehen hatte. Perfekt, das bedeutete, er hatte sich noch kein eigenes organisiert.
Erik sank auf den blanken Boden seines ehemaligen Wohnzimmers. Eine Abschiedsparty also. Kaum überraschend und sicher lieb gemeint, aber die Aussicht, all die Menschen, die er hinter sich ließ, am selben Ort versammelt zu sehen, vergrößerte nur das Loch in seiner Brust. Verflucht, er wollte sich nicht schlecht fühlen! Er wollte auf eine positive Art nervös sein, vorfreudig, nicht traurig! Ein neuer Lebensabschnitt wartete auf ihn, eine neue Stadt, neue Leute, sein Traumstudium. Wieso fühlte er sich, als müsse er jeden Augenblick ersticken?
Vor der Abschiedsparty musste er sich allerdings zuerst noch seiner Familie stellen – abgesehen von seiner Cousine Sophia allesamt Menschen, von denen er gerne sechshundert Kilometer getrennt lebte.
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Erik erhob sich vom Esstisch, an dem er und der Rest seiner Familie vorgaben, ihre jeweilige Gesellschaft zu genießen. „Ich sollte los. Es gibt immer noch viel zu tun und wir müssen morgen ziemlich früh raus, wenn wir pünktlich in Berlin ankommen wollen.“ Nicht komplett gelogen, aber in erster Linie brauchte er einen Vorwand, um den Abschiedsbesuch bei seiner Familie abzukürzen. Er schloss seine Cousine in die Arme. „Mach’s gut, Sophia. Du wirst mir sehr, sehr fehlen.“
Sie antwortete mit einem Schniefen.
„Ich komme ja ganz oft wieder hierher“, versicherte er.
„Versprichst du‘s?“
„Natürlich.“ Schon allein, weil er Marco unmöglich ständig die Fahrt nach Berlin antreten lassen konnte. Sobald er sich halbwegs eingerichtet hatte, würden sie sich mit den Besuchen abwechseln. Sein Vorschlag, sich gelegentlich auf halbem Weg zu treffen und neue Gegenden zu erkunden, war leider auf taube Ohren gestoßen, ebenso wie der, zusätzlich zu seinen eigenen auch Marcos Fahrtkosten zu übernehmen.
Noch einmal drückte Erik Sophia an sich und murmelte Versprechen, von denen er hoffte, sie zu halten. Dann richtete er sich auf. „So. Danke für die Gastfreundschaft. Wir sehen uns sicher bald.“
Sein Cousin Tobias schwieg, sein Onkel besaß immerhin den Anstand, Erik die Hand zu reichen. „Viel Erfolg in Berlin.“
„Danke.“ Widerstrebend wandte sich Erik seiner Tante zu. Er fürchtete sich vor der Emotionalität, die sich bereits den ganzen Abend hinter ihrer Maske verbarg. „Also dann …“
„Ich begleite dich noch zur Tür.“
Erik nickte. Er konnte ja kaum ablehnen.
„Hast du noch viel einzupacken?“, fragte Susanne, während sie ihn beim Schuhebinden beobachtete. „Ich dachte eigentlich, du hättest ein Unternehmen dafür engagiert.“
„Habe ich auch. Der Großteil meiner Sachen ist auch schon auf dem Weg nach Berlin, aber ein paar Dinge sind noch bei Marco, weil ich sie bis zuletzt gebraucht habe. Klamotten, mein Laptop, sowas eben. Die packen wir heute ein und dann fahren wir gleich morgen früh los.“
„Mit dem Auto?“
„Mhm.“
„Das ist eine weite Strecke für einen Einzelfahrer.“
„Marco sagt, das ist kein Problem für ihn.“
„Junge Männer überschätzen ihre Fähigkeiten oft.“
Weiß ich. Andernfalls würden meine Eltern noch leben. „Ich vertraue Marco.“
Susanne schwieg, die Lippen zusammengepresst. In der nächsten Sekunde zeigte sie wieder ihr falsches Lächeln. „Du kennst ihn natürlich am besten.“
„Tue ich.“ Erik griff nach der Türklinke. „Mach’s gut.“
„Bitte warte noch einen Moment.“
Fragend drehte er sich um. Was denn jetzt?
„Ich habe etwas für dich. Falls … Falls du sie möchtest.“ Susannes Ton ließ Erik aufhorchen. Sie klang verunsichert, eine Schwäche, die sie selten zeigte. Ihre langen Finger, die seinen so ähnlich sahen, spielten mit ihrem Ehering. „Ich hole sie schnell. So viel Zeit hast du doch noch, nicht wahr?“
„Ah, ja. Sicher.“
Susanne verschwand in ihr Schlafzimmer und kehrte wenige Augenblicke mit einem Stapel Briefumschläge zurück. „Die hat Marion mir während ihrer Zeit in Berlin geschrieben.“ Ein Lächeln – ein echtes! – huschte über ihre Lippen. „In drei oder vier geht es nur darum, dass sie deinen Vater kennengelernt hat und wie wahnsinnig clever, charmant und witzig er ist. Und sie hat so viel über die Stadt erzählt. Was sie alles entdeckt hat, und was sie unbedingt noch sehen will. Dass ich sie besuchen soll. Dazu ist es leider nie gekommen.“ Die Briefe zitterten in Susannes Händen. „Jedenfalls … ich dachte, du willst sie vielleicht haben. Das ist lange her, aber die eine oder andere Ecke, über die sie schreibt, könnte es noch immer geben.“
Erik starrte auf die handschriftlich verfassten Adressen auf den Umschlägen. Auf die Ns und As und Hs, die er aus unzähligen Notizzetteln und Einkaufslisten kannte. Diese eigenartige Mischung aus sanften Schwüngen und abgehackten Kanten. Die Handschrift seiner Mutter. Behutsam griff er danach. „Die hast du all die Jahre aufbewahrt?“
Widerstandslos übergab Susanne ihm die Briefe. „Natürlich.“
„Danke.“
Susanne spielte wieder mit ihrem Ehering, als wüsste sie nicht, was sie mit ihren freigewordenen Händen anstellen sollte. „Du meldest dich, wenn ihr gut angekommen seid, ja?“
„Versprochen.“
„In Ordnung, dann …“
Es gab so viel Ungesagtes zwischen ihnen; so viel Schmerz und Erwartungen und Kummer. In stillem Einverständnis deuteten sie einen Wangenkuss an und trennten sich an der Eingangstür.
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Im Tässchen begrüßte Erik die erwartete Truppe zur erwarteten Abschiedsparty. Manni und Hugo, Philipp und Charlotte; sogar Aisha lächelte ihm aus sicherer Entfernung entgegen. Daneben stand Marco, mit einem Ausdruck in den Augen, den er zurzeit häufig trug. Als sähe Erik die Aufnahme eines Kaminfeuers, ohne dessen Wärme zu spüren.
Umringt von Freunden, die ihn gebührend verabschieden wollten, gelang es ihm, sich davon nicht runterziehen zu lassen. Jedenfalls nicht zu sehr. Dafür begrüßten ihn die anderen zu herzlich, schlossen ihn zu fest in ihre Arme, hatten zu viele seiner liebsten Leckereien vorbereitet. Erik sog die ihm entgegengebrachte Zuneigung tief in sich auf und eröffnete das Buffet, indem er herzhaft in seine Zimtschnecke biss.
Im Gegensatz zum Essen mit seiner Familie verflogen hier die Stunden, bis er Manni und Hugo beim heimlichen Gähnen ertappte. Auch sein eigener Akku für soziale Interaktionen war allmählich erschöpft. Behutsam stellte Erik sein Glas mit alkoholfreier Bowle auf dem Tisch neben ihm ab und öffnete den Mund, um den Abend zu beenden, schloss ihn jedoch unverrichteter Dinge.
Charlotte und Philipp hatten sich einen der bequemen Polstersessel im Eck erobert, sie auf seinem Schoß und beide blind für den Rest der Welt. Aisha stand bei Hatice und Jo, eine Zimtschnecke in der Hand und das ausgelassenste Lachen im Gesicht, das Erik seit Langem an ihr gesehen hatte. Und Marco … Marco fing Eriks Blick auf und nun lag darin all die Wärme, die Erik zuvor vermisst hatte. Lautlos formte er die Frage ‚Pause?‘ und Erik nickte bestätigend.
Marco besaß weit weniger Skrupel als Erik, seine Freunde aus ihren Gesprächen (oder Geknutsche) zu reißen. „Es ist Zeit fürs Bett. Für mich jedenfalls. Lasst uns langsam zusammenräumen.“
„Einen Moment.“ Die Hände hinter dem Rücken versteckt, trat Hugo einen Schritt auf Erik zu. „Erstens müsst ihr beiden uns heute nicht beim Aufräumen helfen, ihr habt morgen noch mehr als genug zu tun, und zweitens–“
„Gibt’s Geschenke!“, rief Jo.
„Ein Geschenk“, verbesserte Hugo. „Wir dachten uns, du bist froh, wenn du morgen möglichst wenig zusätzliches Gepäck nach Berlin chauffieren musst.“
„Genaugenommen chauffiert Marco“, sagte Erik. „Und danke. Das ist sehr süß von euch.“
„Du weißt ja noch nicht mal, was drin ist.“ Hugo zauberte ein dünnes Buch mit kariertem Einband hervor, der wenig Hinweise auf den Inhalt gab.
Neugierig nahm Erik das Geschenk entgegen. Im Inneren begrüßte ihn ein Rezeptbuch, die ehemals leeren Seiten mit unterschiedlichsten Handschriften und Leckereien gefüllt. Charlottes Auberginencreme, von der er grundsätzlich zu viel gegessen und dennoch einen Nachschlag verlangt hatte. Aishas Pfannkuchen, die unendlich fluffiger wurden als seine eigenen. Mehrere Rezepte, deren Ursprung er nicht zuordnen konnte, die ihm aber sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Er blätterte bis ganz nach hinten.
Hugos Zimtschnecken. Hugos. Zimtschnecken. Ein Rezept, um das Erik seit Monaten bettelte. Er studierte die einzelnen Zeilen, prägte sich jede Zutat, jeden Arbeitsschritt ein, bevor er zur letzten Seite blätterte. Nudeln mit Tomatensoße. Die Zutatenliste sah vollständig aus, aber die Anleitung beschränkte sich auf einen Satz: „Warten, bis ich zu dir komme und für dich koche.“ Marcos Schrift. Natürlich Marcos Schrift.
„Das ist ein Gemeinschaftswerk“, erklärte Hugo. „Jeder hier im Raum hat etwas dazu beigetragen, damit du ein Stück Heimat mit nach Berlin nehmen kannst.“
Nun kullerten doch die ersten Tränen. Peinlich berührt wischte Erik sie von seinen Wangen. „Danke.“
Auch Hugos Augen glänzten. „Du wirst uns wahnsinnig fehlen.“
„Ich bin ja nur ein paar Stunden entfernt“, sagte Erik, mehr zu seiner eigenen Beruhigung als zu Hugos.
„Und jedes zweite Wochenende hier“, ergänzte Marco.
„Trotzdem.“ Hugo schloss Erik in die Arme. „Ich wünsche dir ganz, ganz viel Spaß in Berlin. Versprich mir, dass du bei allem Studienstress das Feiern nicht vergisst, ja?“
„Mhm.“
Hinter Hugo bildete sich ein Halbkreis weiterer Umarmungswilliger. Einer nach dem anderen verabschiedete sich von Erik.
„Wehe, du verschwindest wieder komplett von der Bildfläche“, murrte Charlotte in sein Ohr.
„Werde ich nicht.“
„Das glaube ich dir erst, wenn du mindestens einmal pro Woche was von dir hören lässt. Und kauf dir ne Ausziehcouch. Ich lass dich doch nicht nach Berlin ziehen, und versaure dann hier in Stuttgart.“
„Du … willst bei mir wohnen?“
„Krieg dich ein, ich rede von ein paar Tagen im Jahr. Kling noch ein bisschen begeisterter, ich fühl mich schon richtig willkommen.“
Erneut drückte Erik sie an sich. „Entschuldige. Natürlich bist du bei mir willkommen. Gib mir ein paar Wochen, um mich einzuleben, damit ich dir auch ein bisschen was zeigen kann und dann komm unbedingt vorbei.“ Über ihre Schulter schielte er zu Aisha. „Das gilt auch für dich. Meine Tür steht euch immer offen, sie ist jetzt eben in Berlin statt Stuttgart.“
Mehr Abschiedsworte wurden gesprochen und weitere Tränen flossen, bis sich Erik und Marco von den anderen loseisen und auf den Weg nach Hause – nein, zu Marcos Wohnung – begeben konnten. Dort angekommen, fielen sie Gesicht voraus ins Bett.
Nun ja. Erik tat das. Marco wuselte im Zimmer herum, sammelte hier ein herumliegendes Shirt auf (Eriks Shirt), dort einen zerknickten Schreibblock (Eriks Block) und klaubte eine abtrünnige Socke (Eriks Socke!) unter der Couch auf. „Dafür, dass du nur ein paar Tage hier warst und morgen umziehst, hast du deinen Kram ganz ordentlich in meiner Wohnung verteilt.“
Bildete sich Erik das ein, oder überdeckte der humorvolle Ton echte Frustration? „Ab morgen bist du mich ja los.“
„So war das nicht gemeint.“
Erik antwortete nicht. Wozu an ihrem letzten gemeinsamen Abend einen Streit vom Zaun brechen? Stattdessen drehte er sich mit dem Gesicht zur Wand und zog die Bettdecke über seine Schultern.
„Komm schon.“ Die Matratze gab unter Marcos Gewicht nach. „Nicht schmollen.“
„Ich schmolle nicht.“ Kräftige Arme wickelten sich um Eriks Bauch, zogen ihn näher an einen warmen Körper. Erneut drehte er sich um, dieses Mal, um sein Gesicht in Marcos Haar zu drücken. „Sorry für das Chaos.“
„Nah, ist okay. Ich wusste ja, worauf ich mich einlasse, als ich dich in meine Wohnung eingeladen habe.“
„Haha. Soo schlimm bin ich auch nicht.“ War er nicht, oder? Zugegeben, Marcos Putzfimmel ließ ihn im direkten Vergleich ziemlich schludrig aussehen, aber seiner Meinung nach bewegte er sich in einem normalen Rahmen. Nur eben am gegensätzlichen Ende von Marco. Dessen Schweigen sich verdächtig lange zog.
Ein grunzendes Schnarchen befreite Marco von jeder Verpflichtung, eine angemessene Antwort zu finden.
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Erik schreckte hoch. Das sanfte Ruckeln des Autos, gepaart mit dem Brummen des Motors, hatte abrupt aufgehört. „Sind wir schon da?“
„Nah, ich muss mir bloß mal die Beine vertreten“, antwortete Marco. „Und pinkeln. Hauptsächlich pinkeln.“
„Ah. Ich denke, da schließe ich mich an.“ Unbeholfen stolperte Erik auf den Raststättenparkplatz. Marcos bescheidenes Auto eignete sich ideal für kurze Fahrten durch den Stadtverkehr. Hunderte Kilometer quer durch Deutschland dagegen … da spürte Erik seine langen Beine und den begrenzten Fußraum doch recht bald. Er streckte sich. Winzige Nadeln prickelten in seinen Fußsohlen. „Wie lange habe ich geschlafen?“
„Etwa eine Stunde.“ Marco verriegelte die Autotür und gähnte ausgedehnt. „Wir sind gut vorangekommen, aber im Radio haben sie vorhin Stau durchgesagt. Deshalb dachte ich, wir fahren hier lieber nochmal raus.“
„Wir können eine längere Pause machen, wenn du magst.“ Erik beäugte die Raststätte. Von außen sah sie sauber aus, mit Tankstelle, Shop und Bistro. Hoffentlich erstreckte sich die Sauberkeit bis zu den Toiletten. „Vielleicht eine Kleinigkeit essen?“
„Ist mir recht. Solange ich hier einen halbwegs anständigen Kaffee bekomme, bin ich zufrieden.“ Gemeinsam liefen sie über den Parkplatz. „Gut geschlafen?“
„Tut mir leid, ich schätze, ich bin ein ziemlich unhöflicher Beifahrer.“
„Ach Quatsch. Ist schmeichelhaft, dass du dich so entspannen kannst.“
Erik lächelte matt. Marco lag nicht völlig falsch. Die anfängliche Panik, in ein Auto zu steigen, war verflogen, was teilweise an Marcos besonnenem Fahrstil lag. Hauptsächlich mangelte es Erik jedoch schlicht an Angst, in einen tödlichen Unfall verwickelt zu werden. Lediglich der Gedanke, einem seiner Liebsten könnte das passieren – erneut – ließ seinen Puls in die Höhe schnellen. Solange er also neben Marco im Auto saß, wenn dieser fuhr … „Ich vertraue darauf, dass du uns sicher nach Berlin bringst.“
Marco drückte Eriks Hand. „Immer.“
Der Stau hatte sich während ihrer Pause an der Raststätte nicht aufgelöst und aus den ursprünglich erwarteten sieben Stunden bis zum Ziel wurden fast neun. Mit Engelsgeduld lenkte Marco seinen Wagen über Autobahnen und Schnellstraßen, durch Stadtverkehr und Ampelchaos. Die ganze Zeit verlor er kein böses Wort, doch als sie nach dreimaligem Umkreisen des Häuserblocks endlich einen Parkplatz fanden, waren seine Knöchel weiß gefärbt, so fest umklammerte er das Lenkrad. „Du bist dir absolut sicher, dass das die richtige Adresse ist?“
Durch die Windschutzscheibe betrachtete Erik den Wohnblock vor ihnen. Schnörkellos, in einer Farbe, die vor Jahren einmal pastellgelb gewesen sein mochte, erhob er sich fünf Stockwerke in die Luft. Kein Balkon, dafür – vor ihren Blicken verborgen – ein Hinterhof, der immerhin für ein wenig Grün zwischen dichten Straßenreihen sorgte. „Mhm.“
„Gut.“ Marco stellte den Motor ab. „Denn wenn ich einmal aus diesem gottverfluchten Auto ausgestiegen bin, steige ich nicht mehr ein, bevor ich Sonntagfrüh nach Hause aufbreche.“
Nach Hause. Damit meinte Marco offensichtlich Stuttgart, Erik war hingegen soeben exakt dort angekommen. In Berlin. Der Umzugswagen stand bereits im eigens dafür beantragten Halteverbot und aus einem der geöffneten Fenster im ersten Stock drang das Surren eines Akkuschraubers. „Klingt, als kämen wir gerade rechtzeitig.“
„Sì. Rechtzeitig, um die Jungs bei der Arbeit zu stören.“
Marco lag richtig. In der Wohnung herrschte etwas, das für Erik nach Chaos aussah, durch das sich die Mitarbeiter des Umzugsservices jedoch methodisch und koordiniert hindurchmanövrierten. Krzysztof begrüßte ihn höflich, machte allerdings recht schnell deutlich, dass sie besser vorankamen, wenn ihnen niemand im Weg herumstand, weshalb sich Erik und Marco kurz darauf in einem Café auf der anderen Straßenseite wiederfanden.
„Und?“, fragte Erik, darum bemüht, nicht so aufgeregt zu klingen, wie er sich fühlte. „Was hältst du von der Wohnung?“
„Frag mich das nochmal, wenn ich mehr davon gesehen habe als den Eingangsbereich.“
„Ich hatte dir doch schon Fotos gezeigt.“
„Sì. Und ich hatte dir meine Meinung dazu gesagt.“
„Deine Meinung war, dass du dir anhand von Fotos nicht viel vorstellen kannst und die Wohnung live sehen musst.“
Marco stürzte seinen Espresso herunter – der vierte am heutigen Tag. „Exakt.“
„Dann eben die Gegend. Die siehst du ja gerade live, oder nicht? Was denkst du? Sieht ganz hübsch aus, finde ich.“ Zugegeben, die Einrichtung des Cafés fiel eher schlicht aus, mit Plastikstühlen und mangelnder Tischdeko kein Vergleich zur Gemütlichkeit des Tässchens. Trotzdem. „Direkt ein Café vor der Tür zu haben ist doch super, das hatte ich in Stuttgart nicht. Nur diese ranzige Pizzeria.“
„Das war vieles, aber keine Pizzeria.“
„Also ist das hier doch schonmal eine deutliche Verbesserung.“
„Musst du wissen. Du bist derjenige, der hier wohnen soll.“
Mit gehörigem Aufwand schob Erik seinen Frust zur Seite. Nach einer Autofahrt wie dieser, hatte es sich Marco vermutlich verdient, erschöpft und miesepetrig zu sein. „Ah, da fällt mir ein, ich habe eine Kleinigkeit für dich. Eigentlich wollte ich es dir erst später geben, aber ich schätze, jetzt ist so gut wie jeder andere Zeitpunkt.“ Erik wühlte in seinem mitgebrachten Rucksack, bis er die schicke, schwarze Verpackung fand und legte sie auf den Tisch. „Hier.“
Misstrauisch beäugte Marco das Kästchen. „Was ist das?“
„Ein neues Handy. Deins ist doch auf dem Friedhof kaputtgegangen.“
„Sieht teuer aus.“
„War es nicht.“ Für Eriks Empfinden. Kurz hatte er mit dem Gedanken gespielt, Marco ein Smartphone zu organisieren, vergleichbar mit dem, das er sich selbst vor einer Weile geleistet hatte. Doch er kannte Marco. Abgesehen davon, dass sich dieser allgemein wenig für technischen Schnickschnack interessierte, hielt er Smartphones im Speziellen für unnötige und überteuerte Spielzeuge. „Ich dachte, wenn ich schon irgendwie dafür verantwortlich bin, dass dein altes nicht mehr funktioniert, kann ich dir wenigstens ein neues spendieren.“
Ein Schatten huschte über Marcos Gesicht. „Erik, das kann ich nicht annehmen.“
„Bitte nimm es. Und wenn du es nur tust, damit wir miteinander telefonieren und schreiben können, wenn du wieder zurück in Stuttgart bist.“
Ergeben seufzend nahm Marco die Verpackung entgegen, ohne einen näheren Blick darauf zu werfen. „Grazie.“
Das darauffolgende Schweigen zog sich. „Wollen wir, ah, uns ein wenig die Gegend anschauen?“, schlug Erik vor.
„Besser als schon wieder rumhocken.“
Erik zahlte, bevor Marco es sich anders überlegen konnte und schleifte ihn aus dem Café zurück auf die Straße. „Nach links oder rechts?“
„Ist mir egal.“
„Nicht zu viel Enthusiasmus, bitte.“ Als Erik auch dafür lediglich mürrisches Brummen erntete, erklärte er seine Bemühungen, Marcos miese Laune mit Geduld und Ausgelassenheit zu kontern, für gescheitert. „Ich verstehe ja, dass du erschöpft bist“, sagte er, „aber das hier wird für die nächsten Jahre mein Zuhause. Könntest du wenigstens versuchen, es nicht ganz scheiße zu finden?“
„Scusa.“ Immerhin besaß Marco den Anstand, sich verlegen durchs Haar zu fahren. „Lass uns …“, er sah sich um, „links langgehen.“
Nebeneinander (nicht Hand in Hand, um sich das zu trauen kannten sie die Gegend zu schlecht) begannen sie ihre Erkundungstour. Nach einigen hundert Metern und diversen Straßenkreuzungen klingelte Eriks Handy. Krzysztofs gewohnt höfliche Stimme informierte ihn, dass seine Mannschaft mit dem Möbelaufbau fertig war und Erik zur Abnahme in die Wohnung kommen sollte. Zum Glück. Ein wenig länger und Erik hätte sich eingestehen müssen, dass er seine neue Umgebung ziemlich hässlich fand.
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„Und du bist sicher, dass du alles hast?“
Erik lächelte nachsichtig. „So sicher wie die letzten drei Mal, als du mich das gefragt hast.“
„Will nur ausschließen, dass mich mitten auf der Autobahn ein panischer Anruf erreicht, weil du nicht weißt, wie man deinen Herd bedient oder so.“
„Das finde ich dann schon raus. Vergiss nicht, ich bin ein cleverer Medizinstudent.“
„Wie könnte ich das je vergessen.“
Erik und Marco standen im Eingangsbereich seiner neuen Wohnung, neben ihnen eine Garderobe und ein Schuhschrank, der schon jetzt aus allen Nähten platzte. Es roch nach frischer Farbe und den Brötchen, die sie sich zuvor für ihr gemeinsames Frühstück aufgebacken hatten.
„Dann ist jetzt wohl die Zeit für den Abschied gekommen.“
„Ist sie wohl.“
„Marco …“
Der grimmige Ausdruck auf Marcos Gesicht verflog, stattdessen zeigte er sein schmerzhaft vertrautes Lächeln. Warm und charmant, die weiße Spitze eines Eckzahns zwischen den Lippen hervorlugend. „Komm her.“ Er zog Erik an sich. „Stuttgart wird sehr leer sein ohne dich.“
„Tut mir leid.“
Marcos brummiges Lachen vibrierte gegen Eriks Schulter. „Mach dich nicht lächerlich. Du kannst ja nichts dafür, dass du in Berlin angenommen wurdest und nicht in Tübingen.“
Nur stimmte das leider nicht. Erik hätte Tübingen ganz oben auf der Liste stehenlassen können und vermutlich dort einen Platz bekommen. Dann müssten sie nun nicht Abschied voneinander nehmen. Oder vielleicht doch, aber nur mit einer Stunde Fahrt, die sie trennte.
Erik hatte die falsche Entscheidung getroffen, hatte sein Verlangen, in die Fußstapfen seiner Mutter zu treten, über seine Beziehung mit Marco gestellt und nun brachte er nicht einmal den Mut auf, dazu zu stehen. Er trug Schuld an der Distanz zwischen ihnen, an all dem Stress, den sich Marco in den letzten Wochen ausgesetzt hatte. Er–
„Erik. Atme.“
Doch Eriks Gedanken überschlugen sich, purzelten von seinem Kopf in seine Brust, bis kein Platz mehr für Sauerstoff blieb. Er schnappte nach Luft, kämpfte gegen das Engegefühl und die aufsteigende Panik.
„Es ist bald wieder okay. Du kommst da durch.“ Marcos souveräne Stimme gab Erik Halt, an dem er sich festklammerte. Es ging ihm gut. Er erstickte nicht, er hyperventilierte. Wenn es ihm gelang, seine Atmung zu beruhigen, ließen auch die anderen Symptome nach.
Mit zusammengekniffenen Augen konzentrierte sich Erik auf Marcos Nähe, auf die Hände, die auf seinem Rücken lagen, auf die Stimme, die ihn geduldig dabei unterstützte, zu einem normalen Atemrhythmus zu finden. Unter seinen Fingerspitzen fühlte er rauen Stoff und vertraute Wärme. Ausatmen. Nicht nach Luft schnappen, obwohl seine Lungen brannten und er unmöglich genug Sauerstoff im Blut haben konnte und warum zählte Marco nur so langsam, das konnte nicht richtig sein, das zog sich schon viel zu lange, er bekam keine Luft, bekam keine Luft.
Hektisch rang Erik nach Atem, verlor seinen Rhythmus, doch Marco blieb an seiner Seite, begann von vorne zu zählen und setzte so oft neu an, wie nötig, bis Erik seiner Stimme folgen konnte. Ganz langsam, über Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, ebbte die Panik ab, ließ Erik schlaff und ausgelaugt zurück.
„Ich bin okay.“ Seine eigene Stimme klang fremd; zu dünn, zu rau. Marco hielt ihn fest. „Tut mir leid.“
„Shh. Hör auf das zu sagen. Dir muss nichts leidtun.“
Doch. Aber Erik fehlte die Kraft für Protest. Erschöpft sank er gegen seinen Schuhschrank. „Könntest du mir einen Saft holen?“
„Klaro.“
In den wenigen Momenten, die Marco brauchte, um ein Glas mit Apfelsaft zu füllen, kämpfte Erik darum, die Tränen zurückzudrängen. Erfolglos. Als Marco zurückkehrte, rannen sie frei über seine Wangen. Peinlich berührt schüttelte er den Kopf. „Tut mir leid. Geht gleich wieder. Ist nur der Stress. Ignorier das hier.“ Vage gestikulierte er zu seinem verheulten Gesicht „Du musst los, wenn du halbwegs zeitig in Stuttgart ankommen willst.“
„Erik. Wenn du denkst, ich lasse dich in diesem Zustand allein, kennst du mich wirklich überhaupt nicht.“ Marco reichte ihm die Hand. „Na komm, setzen wir uns erstmal hin. Was hältst du davon, wenn wir deinen neuen DVD-Player testen und einen Film ansehen?“
Erik sollte ablehnen, Marco versichern, dass es ihm gut ging und ihn nach Hause schicken. Stattdessen nahm er Marcos Hand und ließ sich ins Wohnzimmer führen.