Was zuletzt geschah
Wenn sich eine Tür öffnet, schließt sich eine andere, oder so ähnlich. Für Erik schließt sich die Tür zu seiner Stuttgarter Wohnung, ab jetzt darf er Berlin sein Zuhause nennen. Davor stehen jedoch einige Abschiede und Geschenke an. Das seiner Freunde liebevoll durchdacht, das seiner Tante unerwartet und schmerzhaft persönlich. Und dann ist da noch Marco, der wie immer wie ein Fels an Eriks Seite steht, was nicht gerade dabei hilft, Eriks Schuldgefühle ihm gegenüber zu mindern.
Kapitel 14
Gähnend rieb sich Marco über die Augen und versuchte zum dritten Mal, seine Arbeitshose zuzuknöpfen. Er brauchte dringend einen Kaffee, andernfalls lief er Gefahr, Gesicht voraus in die nächstbeste Säge zu fallen. Zumindest dachte er dann nicht mehr alle paar Sekunden daran, dass seit gestern sechshundert Kilometer zwischen ihm und Erik lagen.
„Du siehst echt beschissen aus“, begrüßte ihn Daniel am Eingang der Umkleide, besaß aber wenigstens den Anstand, ihn dabei besorgt zu mustern. „Wirst du krank?“
„Nah. Ist gestern bloß spät geworden.“
„Sicher? Du siehst–“
„–beschissen aus. Hast du gerade schon gesagt.“
Daniel lachte. „Sorry. Zu meiner Verteidigung, ich wollte gestresst sagen. Du siehst gestresst aus. Und beschissen“, fügte er grinsend hinzu.
Marco kam nicht umhin, das Lächeln zu erwidern. Obwohl Daniel nur zweieinhalb Tage pro Woche in der Schreinerei arbeitete, hatte er sich rasch zu Marcos Lieblingskollegen gemausert. Gelegentlich freute sich Marco fast schon darauf, in die Arbeit zu gehen.
„Na los“, Daniel verpasste ihm einen freundschaftlichen Rippenstoß, „erzähl Onkel Dani, was dich bedrückt.“
„Nix Dramatisches. Mein Freund ist am Wochenende nach Berlin gezogen und–“ Marco biss sich auf die Zunge. Er sprach in der Arbeit nicht über sein Liebesleben. Nie. Seine Kollegen mochten Vermutungen darüber anstellen, aber solange er sie nicht offen bestätigte, verschonten sie ihn mit hämischen Bemerkungen.
„Nach Berlin?“, fragte Daniel in Marcos Schweigen. „Heißt das, du bist den ganzen Weg hoch, hast beim Umzug geholfen und bist dann gestern wieder die komplette Strecke zurück? Muss ja echt ne krass enge Freundschaft sein. Ich glaube, das würde ich mir nicht mal für meinen besten Freund antun. Oh.“ Verständnis flackerte in Daniels haselnussbraunen Augen. „Dein Freund. Wie in deine feste Beziehung. Richtig?“
Schweigend nickte Marco.
„Dein Freund ist nach Berlin gezogen.“
Wieder nickte Marco.
„Shit. Shit. Kein Wunder, dass du aussiehst wie ausgekotzt. Ganz ehrlich, ich an deiner Stelle hätte heute wahrscheinlich krankgefeiert. Ist das nur kurzfristig?“
„Kommt darauf an. Würdest du sagen, ein Medizinstudium dauert lang?“
„Shit. Ich meine, toll für ihn, aber shit.“
„Sì. Shit.“
Schweigend schlüpfte Daniel in seine Arbeitsklamotten, die Stirn zu einem uncharakteristischen Runzeln verzogen, das von einem Schlag auf den anderen verschwand. „Okay, das kommt jetzt hoffentlich nicht unpassend rüber, und sag einfach Nein, wenn du keinen Bock hast, aber falls dir nach Ablenkung ist, komm bei uns vorbei. Wir feiern am Wochenende eine WG-Party. Nix großes, nur ein kleiner Einstand für den neuen Mitbewohner. Jedenfalls, wenn du vorbeikommen willst, dann bist du herzlich eingeladen. Oh, aber wahrscheinlich bist du das Wochenende über bei deinem Freund, oder?“
Marco schüttelte den Kopf. „Erst die Woche drauf wieder. Erik will sich erstmal selbst in der Stadt zurechtfinden und jetzt starten wohl auch diese ganzen Kennenlernveranstaltungen an der Uni.“
„‚Kennenlernveranstaltung‘ ist ein anderes Wort für ‚Party‘, oder?“
„Sì.“ Allerdings fraß Marco einen Besen, wenn Erik zu einer einzigen davon ging.
„Na, dann passt das ja. Also falls du Bock hast, bist du herzlich eingeladen. Würde mich freuen.“
Getrieben von dem Wissen wie sehr Erik Partys hasste, bei denen er kaum jemanden kannte, lag die Absage schon auf Marcos Zunge, als er realisierte, dass sich diese Frage gar nicht stellte. Erik hockte in Berlin und Marco konnte am Wochenende tun und lassen, was er wollte. „Sag mir wann und wo, und ich bin da.“
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Wie sich herausstellte, lag Daniels WG in Marcos unmittelbarer Nachbarschaft. Keine Viertelstunde Fußweg durch die einsetzende Abenddämmerung brachte ihn zur Wohnungstür und unter die Augen einer ihm unbekannten jungen Frau. „Äh, ciao, ich bin Marco. Daniel hat mich eingeladen.“
„Ist mir eigentlich egal.“ Sie trat zur Seite. „Bin ja nicht der Türsteher hier. Getränke sind in der Kühltruhe im Wintergarten und wo Daniel steckt, weiß ich nicht.“
„Den finde ich schon. Wohnst du auch hier?“
„Nein.“
„Also eine Freundin von Daniel?“
„Nein.“
Schwieriges Publikum. „Scusa, ich hör schon auf zu fragen. Nicht, dass ich am Ende versehentlich deine geheime Identität aufdecke.“
Das brachte ihm ein Schmunzeln ein. „Dann müsste ich dich leider um die Ecke bringen.“
„Was sicher keiner von uns will. Verrätst du mir zumindest deinen Decknamen?“
„Melanie. Ich bin Patricks Freundin.“
Wer auch immer Patrick sein mochte. Vermutlich der Typ, der Melanie in diesem Moment von Marco weg und in seine Arme zog. Ja, doch, der Zungenkuss sprach für eine engere Bekanntschaft. Marco entschied, seine Aufmerksamkeit Dingen zu widmen, die nicht mit Küssen und Zungen und wandernden Händen zu tun hatten.
Er stieß einen leisen Pfiff aus, als er die Wohnung näher in Augenschein nahm. Daniel hatte es gut getroffen. Der Eingangsbereich öffnete sich in ein geräumiges Wohnzimmer, das Platz für Sofa, Sessel, einen niedrigen Couchtisch und einen zusätzlichen Esstisch bot. Die Einrichtung war elegant in ihrer Schlichtheit, mit ästhetisch platzierten Pflanzen und Deko, die wenig über die Persönlichkeiten der Bewohner verriet. Sie erinnerte an Ausstellungsstücke in Möbelhäusern. Stilvoll, aber ohne Individualität.
Eine Glastür führte in einen separaten Wintergarten, wo Marco das einzige ihm bekannte Gesicht erspähte. Daniel beugte sich über die bereitgestellte Kühltruhe, nahm sich ein Bier und reichte ein weiteres an einen großgewachsenen Mann, mit Haut und Haaren so hell, dass sie denselben Farbton zu haben schienen. Bevor Marco die beiden erreichte, schob sich der Mann mit resoluten Schritten durch die Gäste und verschwand in die Dunkelheit eines abzweigenden Gangs.
„Du hast es geschafft!“, begrüßte Daniel Marco.
„Klaro.“ Dankbar ergriff Marco das ihm angebotene Bier. „Krasse Wohnung. Wem musstest du deine Seele verkaufen, um die zu bekommen?“
„Meinem Mitbewohner.“ Daniel sah sich um. „Der gerade noch hier stand, ich schwöre.“
„Groß und blass? Dann hat er sich verkrümelt.“
Die Art, auf die Daniel den Kopf schüttelte – eine kaum wahrnehmbare Bewegung gepaart mit einem belustigten Lächeln – verriet Marco, dass er nichts anderes erwartet hatte. „Für jemanden, der fast zwei Meter misst, versteckt er sich erstaunlich gut, wenn er keinen Bock auf Sozialkontakte hat. Was ehrlich gesagt eher Regel als Ausnahme ist.“
„Ihr gebt eine Einweihungsparty für einen Mitbewohner, der Partys hasst? Mutig.“
„Ha. Nein, nein, wir wohnen schon eine Weile zusammen. Patrick ist der Neue.“ Daniel deutete auf den Typen, der Melanie vor Marcos Konversationsversuchen gerettet hatte. „Apropos Umzug, wie geht’s deinem Freund? Hat er sich in Berlin eingelebt?“
„Er steckt mittendrin. Wir telefonieren jeden Tag.“ Allerdings schienen sie sich wenig zu erzählen zu haben. Das Schlimmste war, dass Marco nicht einschätzen konnte, ob sich Erik bewusst zurückhielt, um Marco nicht mit seiner Begeisterung für Berlin zu verletzen, oder ob er an den Rändern einer Depression entlangschrammte und sich zuhause einigelte. Die Angst, Letzteres zu spät zu bemerken – oder es zu bemerken, aber nichts dagegen tun zu können, weil er verfickte sechshundert Kilometer entfernt lebte – kostete Marco zunehmend Schlaf.
Ein Teil seiner Emotionen musste sich auf seinem Gesicht gezeigt haben, denn Daniel runzelte die Stirn. „Ist sicher hart, wenn man sich fast täglich gesehen hat, und dann plötzlich nur noch das Telefon bleibt.“
„Ist es“, gestand Marco. Dass ihre Kommunikation schon unter besten Bedingungen eher in die Kategorie ‚schwierig‘ fiel, verschwieg er. Stattdessen sagte er im Brustton der Überzeugung: „Aber daran gewöhnen wir uns bald.“
Zumindest Daniel schien ihm das abzukaufen. Aufmunternd klopfte er Marco auf die Schulter. „Heute können wir dich auf jeden Fall ablenken. Komm, ich stell dir ein paar Freunde vor.“
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Das Grummeln in seinem Magen wies Marco darauf hin, wie rasant die Zeit verflogen war. Gefühlt hatte Daniel ihn erst wenige Minuten zuvor zu einer Gruppe Leute geschleift und mitten in die Unterhaltung gestoßen. Der Uhr über der Küchentür zufolge lag das jedoch mehrere Stunden zurück. „Scusa“, verabschiedete er sich aus der aktuellen Runde, „die Snacks rufen.“
Augenscheinlich nicht nur ihn. Was bei seinem letzten Abstecher in die Küche nach Essensbergen ausgesehen hatte, glich nun einem traurigen Schotterhügel. Ein paar Nachos, ein Rest Käsesoße, sofern man die Bereitschaft besaß, die Schüssel auszulecken, und vereinzelte Chipskrümel verteilten sich über den Küchentisch.
„Herrje, als hätten wir Heuschrecken im Haus.“ Kopfschüttelnd betrat Daniel den Raum, dicht gefolgt von seinem blassen Mitbewohner, der im Türrahmen stehenblieb.
„Ich gehe zur Tankstelle und kaufe mehr.“ Daniels Mitbewohner sprach mit einem Akzent, der das R rollte und harte Konsonanten in weiches Kratzen verwandelte.
„Brauchst du nicht. Die Party war meine Idee, naja, Patricks, aber trotzdem. Damit bin ich fürs Essen zuständig.“
Ausgehend von dem Ausdruck, der über das Gesicht von Daniels Mitbewohner huschte, vermutete Marco, dass ihm eine Gelegenheit, die Party zu meiden, ohne unhöflich zu erscheinen, ganz recht gekommen wäre. Ausgehend von dem Ausdruck auf Daniels Gesicht, wusste dieser das nur zu gut. Und ignorierte es.
„Wollt ihr was bestimmtes?“, fragte er stattdessen gewohnt unbekümmert. „Nein? Gut, ich habe nämlich nicht die geringste Ahnung, was man bei unserer Tanke überhaupt bekommt.“ Schon zum Gehen gewandt, drehte er sich um. „Hey! Wisst ihr, was ein superwitziger Zufall wäre? Wenn hier zwei Leute im Raum ständen, die beide Boxen. Wie viel die sich zu erzählen hätten! Also dann, bis gleich!“ Winkend verschwand Daniel aus der Küche.
Amüsiert schielte Marco zu Daniels Mitbewohner, der Daniel weit weniger belustigt hinterherblickte. Das grelle Küchenlicht betonte die scharfen Kanten seiner Nase, die schmalen Lippen und die Härte seiner markanten Gesichtszüge. „Du boxt?“, fragte Marco.
„Die Variante, bei der man nicht die komplette untere Hälfte seines Körpers ignoriert.“
Marco las keine echte Boshaftigkeit aus dem Satz; eher den Versuch, ein unliebsames Gespräch mit einem Fremden abzuwürgen. Den Wunsch konnte Marco Daniels Mitbewohner schon erfüllen, das letzte Wort gönnte er ihm allerdings nicht. „Ach, diese Variante. Nah, ich bevorzuge die, bei der ich still am Fleck stehenbleibe. Wozu bewegen?“
Für einen Sekundenbruchteil flackerte ein Lächeln über das Gesicht seines Gegenübers. „Wettkämpfer?“
„Nah.“ Marco unterdrückte das Verlangen, den Grund dafür zu beschönigen. Er musste anderen nichts beweisen. „Ich mag den Sport als Ausgleich, aber um ihn ernsthaft zu betreiben, ist mir das Trainingspensum zu hoch. Abgesehen davon, dass ich selbst dann wahrscheinlich keinen Blumentopf gewinnen würde. Was ist mit dir?“
„Kommendes Jahr werde ich eine Pause einlegen. Mein Abschluss an der Universität hat Vorrang.“
„Heißt Pause bei dir, gar nicht mehr zu trainieren, oder nur nicht länger mehrmals täglich?“
Wieder dieses dünne Lächeln, das so schnell verschwand, wie es auftauchte.
Marco grinste. „Dachte ich mir.“
Überraschend bot ihm Daniels Mitbewohner die Hand an. Kräftig und nicht so feingliedrig wie Eriks, aber ohne Marcos Schwielen. Das Kribbeln, das die Berührung in seinem Magen auslöste, ignorierte er.
„Ich bin Drago.“
„Marco. Woher kommst du ursprünglich?“ Und schon hätte er sich am liebsten einen Tritt verpasst. „Scusa, die Frage hörst du wahrscheinlich ständig.“
„Nur, wenn ich den Mund öffne.“
„Scusa“, wiederholte Marco peinlich berührt.
Dragos Blick ruhte auf ihm, seine Augen so farblos wie seine Haare. „Italiener?“
Lange oder kurze Antwort? Marco entschied sich für die ausführliche Variante. „Meine Großeltern und meine Mutter. Mein Vater technisch gesehen auch, aber er war noch so jung, als sie weg sind, dass er sich kaum erinnert. Meine Schwestern und ich sind hier geboren.“
„Ich bin fürs Studium hergekommen.“
„Aus …?“
„Serbien.“
„Was studierst du?“
„Architektur.“
Offensichtlich handelte es sich bei Drago nicht um den gesprächigsten Menschen der Welt, Marco gewann allerdings nicht den Eindruck, dass er sich an den Fragen störte. „Gibt es einen speziellen Grund, warum du dafür nach Deutschland gekommen bist?“
„Mit dem, was ich hier verdienen würde, selbst als Berufsanfänger ohne Eintragung in die Architektenkammer, kann ich meine Familie besser unterstützen als in Serbien. Dafür brauche ich aber eine Arbeitserlaubnis – und einen Job. Meine Chancen auf beides steigen, wenn mein Studienabschluss von einer deutschen Hochschule stammt.“
Eine unerwartet detaillierte Antwort, bei der Marco das Gefühl nicht abschütteln konnte, dass ihre Ausführlichkeit eine unausgesprochene Wahrheit versteckte. Er kannte Drago jedoch nicht annähernd lange genug, um hier nachzuhaken. Jeder verdiente seine Geheimnisse. „Die Eltern von meinem Vater sind damals aus einem ähnlichen Grund hergekommen“, erzählte er stattdessen. „Also, sie haben nicht studiert oder so, aber sie hatten gehofft, ihren Kindern hier eine bessere Zukunft zu bieten. Zur Rente sind sie dann wieder zurück nach Italien.“
„Und deine Mutter?“
„Hat meinen Vater über gemeinsame Freunde in Italien kennengelernt. Nach ihrem Schulabschluss ist sie dann zu ihm nach Deutschland gezogen.“ Das Wissen, dass die Liebe seiner Eltern tief genug ging, um Ländergrenzen zu überwinden, hatte Marco immer mit Ehrfurcht erfüllt. Heute empfand er hauptsächlich Schuld und Scham und Zorn. Weil ihre Liebe zu ihm nicht genügte, über seine Sexualität hinwegzusehen. Und, weil seine zu Erik offenbar nicht genügte, um nach Berlin zu ziehen.
„Ursprünglich kommt meine Mutter aus Emilia-Romagna“, fuhr er fort und erzählte von dem Dorf, in dem seine Mutter aufgewachsen war. Dass sein Vater in einem der Nachbarorte nur wenige Kilometer entfernt geboren wurde, und wie oft sie beide Orte in seiner Kindheit besucht hatten. Er erzählte von den Ausflügen nach Bologna und San Marino, von dem schmalen Bach hinter dem Haus seiner Großeltern, in dem er seine Füße gekühlt und Frösche gefangen hatte, und von seinen ersten Versuchen, mithilfe seiner Nonna Pasta zu machen.
Drago hörte schweigend zu. Seine Mimik gab wenig über seine Gefühle preis, doch er hielt seinen Körper Marco zugewandt und den Kopf in dessen Richtung geneigt. Sein Schweigen schien in erster Linie eine Einladung an Marco, die Stille zu füllen. Fragen über sich selbst beantwortete er knapp und sachlich, ohne sie weiter auszuführen.
Irgendwann spannten sie einen Bogen zu Marcos aktuelleren Abenteuern und er schaffte es, Drago mit der Geschichte seiner Wanderung, die in der Entdeckung einer Blindschleiche und einem verstauchten Knöchel gipfelte, ein weiteres Lächeln abzuringen.
„War dann leider auch das letzte Mal, dass wir Wandern waren“, sagte Marco. „Schade eigentlich, es fehlt mir, aber allein ists eher öde.“
„Ich gehe oft allein“, erwiderte Drago. „Kommenden Samstag, sofern das Wetter passt. Du kannst dich anschließen.“
Drago wirkte selbst perplex, so ein Angebot gemacht zu haben, daher gab Marco ihm einige Sekunden zum Zurückrudern, bevor er antwortete. „Fände ich cool.“ Sein Unterbewusstsein meckerte, dass er etwas Wichtiges übersah. „Cazzo, ich kann nicht! Da bin ich in Berlin, bei meinem Freund.“
Für einen Wimpernschlag weiteten sich Dragos Augen. Der Moment kam und ging, beinahe zu flüchtig, um ihn zu bemerken, doch Marco hatte Erfahrung mit Reaktionen dieser Art. Schade. Andererseits: sollte sich Drago als homophob entpuppen, fand er das lieber jetzt heraus als später.
„Du bist Daniels Arbeitskollege“, sagte Drago langsam. „Der, dessen Freund letzte Woche für sein Studium weggezogen ist.“
„Sì.“
„In diesem Fall hast du an den Wochenenden natürlich keine Zeit.“ Drago stellte das mit derselben Selbstverständlichkeit fest, mit der andere Wasser ist nass und Katzen sind Arschlöcher sagten.
„Zumindest das Kommende nicht“, entgegnete Marco wachsam. Hatte er Dragos erste Reaktion vorschnell abgestempelt? „Wir haben noch nicht fest ausgemacht, ob wir uns jede Woche sehen, oder vielleicht nur jede zweite. Die Fahrt ist ziemlich lang und so ein Wochenende arg kurz.“
Drago nahm das mit einem Nicken hin. „Du wirst sicher auch Zeit für die Jobsuche brauchen.“
„Jobsuche?“, echote Marco.
„Ziehst du nicht nach Berlin?“
„Ist aktuell nicht geplant.“
Drago sah ehrlich verwirrt aus. „Ein Studium dauert Jahre. Wollt ihr über den kompletten Zeitraum eine Fernbeziehung führen?“
„Naja …“ Marco hatte keine gute Antwort auf eine Frage, um die er und Erik seit Wochen herumschlichen. Sein erster Eindruck von Berlin – Verkehrschaos und Straßen, auf denen nicht einmal Unkraut gedieh – weckte nicht unbedingt den Wunsch in ihm, dort mehr als ein paar Wochenenden zu verbringen. „Wir nehmen erstmal jeden Tag, wie er kommt.“ Bei dieser Aussage vertiefte sich das Stirnrunzeln auf Dragos Gesicht und Marco ging mit dem erstbesten Themenwechsel dazwischen, der ihm in den Sinn kam. „Was hältst du davon, wenn wir Nummern austauschen? Falls sich wegen Wandern mal was ergibt?“
„Das ist in Ordnung für mich.“
Froh, das Thema Fernbeziehung vorerst beendet zu haben, zog Marco sein Handy aus der Hosentasche und versuchte das Adressbuch aufzurufen. Nach gefühlt mehrstündiger Suche gab er auf. „Scusa, neues Handy.“
„Darf ich? Ich habe dasselbe.“ Drago stockte. „Das gleiche, meine ich.“
Bereitwillig überreichte Marco sein Handy. Er hoffte wirklich, dass sich Drago bei ihm meldete, denn abgesehen davon, dass sie sich spontan ziemlich gut verstanden hatten, klang eine anstrengende Wanderung nach exakt dem, was er brauchte, um wenigstens einen Tag lang nicht an Erik und Berlin zu denken.