Was zuletzt geschah:
Nicht nur Marcos Weihnachten verläuft völlig anders als geplant, auch sein Silvesterabend hält so einige Überraschungen bereit. Zwar nicht nur gute, aber sie alle helfen Drago, sich Marco gegenüber zu öffnen – bis auch dieser Dinge aussprechen kann, die er bisher kaum vor sich selbst eingestanden hat.
Kapitel 28
Das neue Jahr setzte das alte nahtlos fort. Marco stand morgens auf, ging zur Arbeit, kam nach Hause, duschte, kochte, und verbrachte den verbleibenden Abend an seiner Werkbank oder mit Daniel und Drago beim Kartenspielen. Gelegentlich gelang es ihm, einige Stunden allein mit Drago zu ergattern – das jedoch nur, wenn sie komplett ausschließen konnten, dass ihnen jemand auf die Schliche kam.
Er hatte sich damit arrangiert. Es gefiel ihm nicht, wie ein Geheimnis behandelt zu werden, doch solange er dabei nicht seine eigene Sexualität verleugnen musste, würde er es überleben. Nicht jeder sprach gerne über sein Sexleben, unabhängig davon, in welche Richtung er tendierte. Marco wollte gar nicht wissen, wie viele seiner Freunde hinter seinem Rücken miteinander ins Bett gehüpft waren.
Tatsächlich tat es ihm sogar ganz gut, einen gewissen Abstand zu Drago zu wahren. Insbesondere seit Weihnachten und Neujahr. Die Sache zwischen ihnen fühlte sich ohnehin wie Verrat an Erik an – und die Intimität, die er und Drago über den Jahreswechsel geteilt hatten, verschlimmerte dieses Empfinden.
Nicht der Sex. Der stellte das kleinste Problem dar. Es war die emotionale Nähe, die Marco im Anschluss mit schlechtem Gewissen wachliegen ließ. Diese Art Nähe hatte so einen wesentlichen Teil seiner Beziehung mit Erik ausgemacht, hatte sie von all seinen vorherigen Flirts abgegrenzt, sogar von den meisten seiner Freundschaften. Doch irgendwann hatten sie sie verloren. Und nun ... nun schien es so verflucht einfach, diesen leeren Fleck in seinem Herzen mit Drago zu füllen.
Wenn Drago also ihre gemeinsame Zeit auf das Maß reduzierte, das sie brauchten, um einigermaßen befriedigenden – okay, extrem befriedigenden – Sex zu haben, war Marco das recht. Drago rief an, kam vorbei, kam, und … das war’s. Kein Herumalbern davor, keine schläfrigen Diskussionen über Gott und die Welt, wenn sie im Anschluss satt, matt und verschwitzt nebeneinanderlagen.
Dennoch hallte oft genug Philipps Anschuldigung in Marcos Ohren, den einen Mann in seinem Leben schlicht mit dem nächsten ersetzt zu haben. Dass Philipp trotz seiner Ankündigung, sich nach Neujahr wegen seiner Wohnungssuche zu melden, seither keinen Mucks von sich hatte hören lassen, half nicht unbedingt, diese Stimme zum Schweigen zu bringen.
Marco konnte ihm kaum einen Vorwurf machen. Wochen-, ach monatelang, hatte er lediglich dann einen Gedanken an Philipp verschwendet, wenn er einmal mehr über seine Probleme hatte jammern wollen. Es grenzte an ein Wunder, dass Philipp nicht schon viel früher auf Abstand gegangen war.
Seine Beziehung mit Charlotte machte die Situation nur noch komplizierter, immerhin zählte sie zu Eriks engsten Freunden. Vermutlich durfte sich Marco glücklich schätzen, nicht mit Schimpf und Schande von ihr aus der Stadt gejagt worden zu sein. Spätestens seit Weihnachten hätte er es sogar verdient.
Jedenfalls sendete Philipps Schweigen eine recht deutliche Botschaft: Lass uns in Ruhe.
Was – um den Kreislauf, in dem sich seine Gedanken befanden, zu schließen – zurück zu Erik führte. Marco hätte ihn niemals bitten dürfen, nicht ins Tässchen zu kommen, sondern sich einfach selbst fernhalten sollen, wenn er sich so vor ihrem Wiedersehen fürchtete. Nun schien Erik wie vom Erdboden verschluckt, und Sorge wand sich wie ein Aal in Marcos Eingeweiden. Ging es Erik gut? Wollte er seine Ruhe, oder steckte mehr hinter seiner Abwesenheit? Möglicherweise hatten die anderen inzwischen von ihm gehört und Marco nur nichts erzählt. Hoffentlich. Doch was, wenn nicht?
Er entschied, nach der Arbeit ins Tässchen zu fahren.
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Der Anblick des in der winterlichen Dunkelheit erleuchteten Cafés drehte Marcos Herz um die eigene Achse. Er sehnte sich nach der Wärme darin, nach dem Lachen, und dem zufriedenen Seufzen beim ersten Bissen in ein Sandwich. Nicht zuletzt sehnte er sich nach Manni und Hugo. Gleichzeitig wollte er auf dem Absatz kehrtmachen, um den beiden nicht in die Augen sehen zu müssen.
Marco biss die Zähne zusammen und trat ein.
Im Inneren begrüßten ihn der Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee, und der Anblick von Hugo, welcher ihm von seinem Platz hinter der Verkaufstheke aus zuwinkte. Marco erwiderte die Geste, lief im Gegensatz zu sonst jedoch nicht direkt hin, sondern suchte sich einen Sitzplatz am Fenster. Den Jugendtreff ignorierte er. Mit jedem Jahr, um das sein Alter den dortigen Durchschnitt überstieg, fühlte er sich weniger willkommen. Natürlich kam das kaum überraschend – die Zeit nahm eben ihren Lauf – dennoch schmerzte der Verlust dieser einstmals so eingeschworenen Gemeinschaft.
Marco hatte bewusst die letzte halbe Stunde vor Schließung des Tässchens abgepasst. Nun lauschte er dem abebbenden Geräuschpegel um ihn herum, den über den Boden kratzenden Stuhlbeinen, und dem Glöckchen über der Eingangstür, das die Gäste im Minutentakt verabschiedete. Irgendwann blieb er als einziger im Raum zurück.
Hugo reinigte die Verkaufstheke. Er schien abzuwarten, bis Marco von selbst zu ihm kam. Nicht einmal eine Tasse Espresso hatte er vorbeigebracht. War er sauer auf Marco? Wusste er, was dieser getan hatte? So sehr sich Marco vor dieser Möglichkeit fürchtete, hoffte er zugleich ein wenig darauf. Zum einen, weil er sich dann das Geständnis ersparte, zum anderen, weil Hugo mit Erik gesprochen haben musste, um davon zu erfahren.
Bevor sich Marco einen Ruck geben konnte, betrat Manni den Hauptraum. Zum ersten Mal an diesem Abend; der Jugendtreff schien ihn heute ziemlich in Beschlag genommen zu haben. Er drückte Hugo einen Kuss auf die Lippen, dann erspähte er Marco und schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Schön dich zu sehen. Wir haben dich in letzter Zeit vermisst.“
„Scusa“, murmelte Marco. „Viel zu tun.“
Manni setzte sich zu ihm. „Du siehst bedrückt aus. Geht es dir gut?“
„Sì. Alles prima.“ Er saß nicht hier, um über sich selbst zu reden. „Ihr, äh, habt nicht zufällig in letzter Zeit von Erik gehört?“
Sichtlich überrascht hob Manni die Brauen. „Warum fragst du?“
„Ich will ihn nicht ausspionieren“, beteuerte Marco. „Es ist nur … Ich habe bei der Weihnachtsfeier mitbekommen, dass ihr darüber geredet habt, dass er nicht nach Stuttgart gekommen ist und ich … Ich dachte … Es war noch nie ein gutes Zeichen, wenn er sich so abkapselt und … Wisst ihr inzwischen was von ihm? Hat er sich mal gemeldet?“
Mannis Kopfschütteln bestätigte Marcos schlimmste Befürchtungen. „In letzter Zeit nicht.“ Er wandte sich an Hugo. „Du hast ihn auch noch nicht erreicht, oder?“
„Nein.“ Hugo legte seinen Putzlappen zur Seite, um sich zu Manni und Marco zu setzen. „Telefonisch erreiche ich ihn nicht, und auf meine SMS zu seinem Geburtstag hat er bis jetzt auch nicht reagiert.“
Eriks Geburtstag lag über eine Woche zurück. Hätte er sich melden wollen, hätte er es inzwischen getan. „Cazzo.“
„Ich bin sicher, es geht ihm gut.“ Doch jeder hörte die Zweifel, die in Hugos Stimme mitschwangen.
„Es ist meine Schuld.“
„Ist es nicht.“ Manni legte eine Hand auf Marcos Schulter. Ein so unverdienter Trost, dass er sie am liebsten abgeschüttelt hätte. „Trennungen tun weh, aber manchmal führt kein Weg an ihnen vorbei. Wie auch immer Erik darauf reagiert, liegt nicht in deiner Verantwortung.“
„Es geht nicht um die Trennung!“ Marco zwang sich, seine Lautstärke auf ein angemesseneres Niveau herunterzuregeln. „Er hat mich angeschrieben, kurz vor Weihnachten. Hat gefragt, ob es okay für mich ist, wenn er hier im Tässchen vorbeischaut und ich … ich …“ So laut sein Geständnis begonnen hatte, so leise endete es. „Ich habe ihm gesagt, er soll wegbleiben.“ Als ihm nur Stille antwortete, versuchte er, sie zu füllen. „Er hat so gelassen reagiert. Als wäre das völlig okay. Aber ich hätte wissen müssen, dass es das nicht ist.“
„Warum hast du ihn darum gebeten, nicht ins Tässchen zu kommen?“, fragte Manni.
Marco konnte lediglich mit den Schultern zucken. Wie sollte er anderen erklären, was er selbst kaum verstand? Wie sollte er die tiefe Reue in Worte fassen, die ihn erfasste, wann immer er an Erik dachte, obwohl er ihre Trennung weiterhin für die einzige Option hielt? Die Einsamkeit, die ihn nachts überfiel. Die Sehnsucht nach dem drahtigen Körper neben ihm, und die nackte Panik, die ihn übermannte, wenn er sich vorstellte, Erik eines Tages erneut in die Augen sehen zu müssen.
„Das Tässchen ist für alle offen, die einen warmen Platz brauchen. Das ist einer unserer Grundsätze. Das weißt du.“ Dieser ruhige, sachliche Ton. Marco wünschte sich, Manni würde seine wahren Gefühle zeigen. Wütend sein. Enttäuscht. Irgendwas, Hauptsache nicht das hier. „Niemand macht dir einen Vorwurf, weil du Abstand von Erik brauchst, aber ich hätte mir gewünscht, du wärst zu uns gekommen, damit wir gemeinsam nach einer besseren Lösung suchen können.“
Ich auch. Marco starrte auf seine Hände. „Es tut mir leid.“ Bevor Manni oder Hugo etwas darauf erwidern konnten, stand er auf. „Versucht bitte nochmal, Erik zu erreichen, ja?“
Mit gesenktem Kopf flüchtete Marco aus dem Tässchen und stellte sich dem kalten Wind, der ihm entgegenpfiff.
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Marco wusste, dass er kein Recht hatte, Erik zu kontaktieren und tat es trotzdem. Mit angehaltenem Atem hielt er das Handy gegen sein Ohr gepresst, innerlich gefasst auf Worte, die wie ein Skalpell durch ihn hindurchschnitten.
Der Wählton erklang. Dann … nichts. Kein Freizeichen, keine Mailbox. Lediglich ein hoher Piepton, der mit einem Verbindungsabbruch endete.
Prüfend starrte Marco auf sein Display, doch es zeigte den erwarteten Namen. Er mochte sich nicht besonders gut mit seinem – inzwischen nicht mehr ganz so neuen – Handy auskennen, jemanden aus seinem Adressbuch anzurufen, war ihm bisher allerdings immer gelungen. Was bedeutete, dass das Problem woanders lag.
Hatte Erik Marco blockiert? Möglich. Wahrscheinlich. Hoffentlich. Denn wenn nicht, musste es einen anderen Grund geben, weshalb seine Nummer nicht länger funktionierte, und Marco fiel keiner ein, der ihn nicht mit Sorge erfüllte.
Schwer sank er auf sein Sofa. Falls Erik etwas passiert sein sollte – nur falls, er wollte sich nicht mehr hineinsteigern, als er es ohnehin schon tat – würde er überhaupt davon erfahren? Er bezweifelte, dass Eriks Familie daran dachte, ihn zu informieren. Das hätte sie vermutlich nicht einmal in Zeiten ihrer Beziehung getan, seit der Trennung erst recht nicht. Hatten sie Kontakt zu irgendeinem von Eriks Freunden?
Was konnte Marco noch tun, um ihn zu erreichen? Facebook? Bisher hatte er sich standhaft geweigert, einen Account zu erstellen, sehr zu Eriks Unverständnis. Möglicherweise war nun der Zeitpunkt dafür gekommen. Er könnte sich registrieren, kurz prüfen, ob Erik in den letzten Tagen gepostet hatte, und sich wieder löschen lassen. Niemand würde davon erfahren.
Oh, porco dio. Marco klang wie ein Stalker.
Er musste dringend aufhören, sich als strahlenden Helden zu sehen, der kam, um Erik aus seinem Tief zu reißen. Wenn Erik nichts von ihm hören wollte, gaben Marcos Ängste ihm nicht das Recht, diese Grenze zu überschreiten. Erik war stark und clever und wusste selbst am besten, was und wen er im Moment brauchte. Sein anhaltendes Schweigen hatte nichts zu bedeuten.
So sehr Marco sich das einzureden versuchte, er glaubte nicht daran. Fünf Minuten später hatte er einen Account erstellt und wühlte sich durch eine unvorhergesehene Anzahl an Erik Kolbs, bis er auf ein vertraut erscheinendes Profilfoto stieß. Ein Klick darauf ließ ihn gegen eine virtuelle Wand laufen, in Form des Hinweises, dass man mit Erik befreundet sein musste, um Zugriff auf sein volles Profil zu erhalten. Tja, dieser Zug war seit Weihnachten definitiv abgefahren.
Frustriert schloss Marco seinen Browser. Er würde wohl einfach lernen müssen, mit der Angst zu leben.