Was zuletzt geschah:
Auf dem Gipfel fällt Marco aus allen Wolken. Drago gesteht ihm seine Liebe – und seine Befürchtung, nach Abschluss seines Studiums das Land verlassen zu müssen. Haben die beiden Chancen auf eine gemeinsame Zukunft, oder wartet neuer Herzschmerz auf Marco?
Kapitel 47
Eriks sonnenverwöhnte Haut prickelte unter der kalten Luft der Klimaanlage, als er auf der Suche nach Inspiration durch die Gänge des nahegelegenen Supermarkts streifte. Sein Ausflug zum See, dank der vollständig verheilten Piercings inzwischen inklusive ausgiebiger Schwimmrunden, hatte seinen Magen in ein schwarzes Loch verwandelt, das nach Opfergaben verlangte.
Wenig begeistert studierte er die abgepackten Sandwiches und sonstigen verzehrfertigen Gerichte. Sein Verzicht auf Fleisch schränkte die ohnehin begrenzte Auswahl deutlich ein und es gab kaum eine Option, die er diese Woche nicht schon mindestens einmal gegessen hatte. Vielleicht machte er doch einen Abstecher zu einem der nahegelegenen Restaurants und bestellte sich dort etwas zum Mitnehmen.
Oder, er schwang seinen faulen Arsch in die Küche und kochte selbst. Ein Satz, bei dem seine innere Stimme verdächtig nach Marco klang, was Erik eine Idee für ein Essen lieferte, das er seit Monaten vermisste. Mit der vagen Erinnerung an die Einkaufsliste, die Marco ihm damals in das zu seinem Abschied überreichte Kochbuch geschrieben hatte, durchstöberte er den Supermarkt.
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Anklagend starrte Erik erst auf die vor ihm aufgereihten Zutaten, dann auf sein aufgeschlagenes Kochbuch, das ihm zwar bestätigte, dass er beim Einkaufen nicht völlig danebengegriffen hatte, sich allerdings über die Zubereitung ausschwieg.
‚Warten, bis ich zu dir komme und für dich koche‘, hatte Marco damals hineingeschrieben. Na, da konnte Erik lange warten. Wobei … Selbst, wenn sich Marco nie wieder persönlich in Berlin blicken ließ, machte ihn das ja nicht unerreichbar. Nach einer kurzen inneren Debatte griff Erik zum Telefon.
Überraschend schnell hob Marco ab. „Pronto.“
„Ah, hey.“ Sie hatten in den Monaten seit ihrem Wiedersehen bei Charlottes Umzug zwar gelegentlich miteinander geschrieben, doch Marcos Stimme zu hören, überrollte Erik mit unerwarteter Melancholie. Er mochte mit ihrer Beziehung abgeschlossen haben, das bedeutete aber noch lange nicht, dass er seinen Ex-Freund nicht bisweilen höllisch vermisste. „Hast du ein paar Minuten für mich?“
„Klaro! Ist alles okay bei dir?“
Schmunzelnd rollte Erik mit den Augen. Marcos Überfürsorglichkeit vermisste er definitiv nicht. „Es geht mir gut. Ich hatte gehofft, du kannst mir bei einem kleinen Küchenproblem helfen. Ich wollte deine Tomatensoße nachkochen, aber weil ein gewisser jemand sich geweigert hat, die Anleitung ins Kochbuch zu schreiben, bin ich gerade ziemlich aufgeschmissen.“
„So ein Zufall, dass du diesen gewissen jemand gerade am Telefon hast. Hast du alle Zutaten da?“
Erik ließ seinen Blick darüber schweifen. „Denke schon.“
„Tomaten? Schön reif? Oder wenigstens ordentliche Dosentomaten?“
„Jaha. Frische, reife Tomaten.“ So einigermaßen.
„Zwiebeln? Basilikum? Olivenöl?“
„Getrocknet. Also, das Basilikum. Und, ah, Zwiebelgranulat, aber das passt ja sicher auch. Oh, und ich hatte noch Sonnenblumenöl da, deshalb wollte ich nicht noch extra Olivenöl kaufen.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Langes Schweigen, das schließlich in einen hohen Ton überging, den Erik zunächst für eine Störung hielt und erst einige Sekunden später korrekt als unterdrücktes Wehklagen erkannte. „Ich weiß ja nicht, was für eine Tomatensoße du kochen willst“, sagte Marco, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hatte, „aber meine ist das ganz sicher nicht.“
Erneut rollte Erik mit den Augen, nun nicht mehr schmunzelnd. „Hilfst du mir jetzt, oder meckerst du lieber rum?“
„Ich sage ja nur, dass du nicht erwarten darfst, dass das, was dabei rauskommt, wie meine Tomatensoße schmeckt.“
„Ist recht. Ich werde dir keine Vorwürfe machen.“ Nein, Erik vermisste ihre Beziehung definitiv nicht. Ein Teil von ihm würde Marco immer lieben, doch selbst dieser sah ein, dass ihnen ein gewisser Abstand guttat. „Also, ich nehme an, ich setze zuerst das Nudelwasser auf?“
„Was? Nein!“ Hörbar um Frieden bemüht erklärte Marco: „Die Soße muss eine Weile köcheln. Wenn du jetzt schon mit den Nudeln anfängst, werden sie matschig.“
„Verstehe. Was kommt dann zuerst?“
Schritt für Schritt und – soviel musste Erik ihm zugestehen – mit einer Menge Geduld, leitete Marco ihn durch die Zubereitung seiner, na gut einer, Tomatensoße.
„So“, sagte Marco schließlich. „Sobald die Nudeln bissfest sind, kannst du auch die Soße vom Herd nehmen.“
Vorsichtig kostete Erik ein paar Tropfen vom Kochlöffel. Die Soße schmeckte himmlisch. Zugegeben, nicht so gut wie Marcos, aber eben doch deutlich besser als alles, was er alleine auf die Reihe bekam. Was vielleicht auch daran lag, dass er sich selten so viel Zeit für ein Gericht nahm, wie für dieses. „Danke, wirklich. Wenn ich gewusst hätte, dass ich dich damit so lange aufhalte, hätte ich nicht einfach spontan angerufen.“
„Ach, Nonsens. Du kannst immer bei mir anrufen. Hab mich gefreut, mal wieder von dir zu hören. Wie geht’s dir?“
„Weiterhin wesentlich mehr gute als schlechte Tage. Und dir?“
„Alles prima, kennst mich doch.“
Weshalb Erik die Lüge mühelos heraushörte. Er beschloss, Marco nicht direkt damit zu konfrontieren, sondern sich der Wahrheit hintenrum anzunähern. „Giulia hat mir erzählt, dass der Umzug nach Italien feststeht.“
„Sì.“ Nach dieser Bestätigung folgte erstmal langes Schweigen, bevor Marco sich überwand, mehr dazu zu sagen. „Definitiv noch dieses Jahr, wahrscheinlich im Spätherbst.“
„Ich dachte, Giovanni will noch vor der Geburt rüber, damit er arbeiten kann und sie nicht ihre ganzen Ersparnisse aufbrauchen?“
„Will er, aber das wird nicht passieren. Giulia möchte das Kind hier bekommen, im selben Krankenhaus, in dem sie schon Bianca bekommen hat. Außerdem können dann meine Eltern noch die ersten Monate helfen und sie ist beim Umzug wahrscheinlich fitter als hochschwanger im Sommer. Und wir wissen alle, dass sie sich am Ende durchsetzen wird.“
Erik lachte. „Definitiv. Ist aber schon ein komisches Gefühl zu wissen, dass Giulia nicht mehr lange hier sein wird. Das heißt, in Stuttgart. Wir sehen uns ja eh nicht mehr wirklich, und telefonieren können wir auch, wenn sie in Italien ist. Trotzdem fühlt es sich an, als wäre sie damit noch ein Stück unerreichbarer geworden.“
Marco gab ein Geräusch von sich, das Erik als widerwillige Zustimmung deutete. „Dass alle Leute um mich rum möglichst weit wegziehen, scheint mein persönlicher Fluch zu sein.“
„Warum? Wer denn noch?“
„Na du, zum Beispiel. Und–“ Hier brach Marco abrupt ab.
Aha. Eriks Gefühl hatte ihn also nicht getäuscht, dass da mehr im Busch war als Marco zugab. Entgegen seiner ursprünglichen Vermutung schien es allerdings nicht mit Giulia zusammenzuhängen. Jedenfalls nicht ausschließlich. „Und was?“, hakte er nach.
„Ist nicht wichtig.“ Marco verschluckte sich beinahe am letzten Wort, so als fühlte sich das reine Aussprechen wie Verrat an.
„Mhm. Es hat nicht zufällig mit deinem Freund zu tun, der bei Charlottes Umzug mitgeholfen hat?“ Volltreffer. Am anderen Ende erklang vielsagendes Schweigen. Dreimal hörte Erik Marco Luft holen, bevor dieser endlich antwortete.
„Woher weißt du von Drago?“
„Charlotte und Aisha haben mir von ihm erzählt. Wobei es ein bisschen gedauert hat, bis ich verstanden hatte, dass sie vom selben Mann sprechen. Die Beschreibungen sind geringfügig voneinander abgewichen.“
Marco lachte tonlos. „Kann ich mir vorstellen.“
„Ich gehe einfach mal davon aus, dass Aishas Beschreibung die zutreffendere ist. Seid ihr zusammen? Also, du und … wie war sein Name? Drago?“
„Willst du das wirklich hören?“
„Warum sollte ich nicht?“
„Naja, wir–“
„Sind Freunde“, schnitt Erik Marco das Wort ab, weil er wusste, was gleich folgte. „Richtig?“
„Sì.“
„Also werden wir öfter miteinander schreiben, telefonieren und uns vielleicht sogar sehen, wenn ich mal wieder in Stuttgart bin.“
„Sì.“
„Willst du in diesem Fall auf ewig vorgeben, Single zu sein?“
„Nicht auf ewig. Nur … ist das nicht unangenehm für dich? So früh?“
Erik verkniff sich ein Lächeln. „Marco, unsere Trennung liegt mehr als ein halbes Jahr zurück. Es ist völlig in Ordnung, dass du nach vorne siehst. Ich freue mich für dich.“
Diese Absolution schien Marco nur bedingt aufzumuntern. Erneut hüllte er sich in Schweigen.
„Also, erzählst du mir jetzt, was los ist?“, fragte Erik, darum bemüht, die Ungeduld aus seiner Stimme rauszuhalten. Er wollte nicht als jemand gesehen werden, der zu schwach war, um für seine Freunde da zu sein. Schon gar nicht von Marco. „Denn dafür, dass du frisch verliebt bist und auf Wolken schweben solltest, klingst du beeindruckend niedergeschlagen.“
Marco schnaubte. „Ich verstehe echt nicht, wie du das immer machst. Mir Dinge aus der Nase ziehen, über die ich eigentlich überhaupt nicht sprechen will.“
Nun lachte Erik. „Meine Therapeutin war eine ausgezeichnete Lehrmeisterin. Gut zuhören konnte sie übrigens auch. Wollen wir mal testen, ob ich mir auch das von ihr abgeguckt habe?“
„Du bist unmöglich.“ Doch Erik glaubte, Erleichterung aus Marcos Tadel rauszuhören. „Eigentlich gibt es da gar nicht so viel zu erzählen. Drago und ich sind … Es ist alles noch irgendwie ungeklärt, wir wissen nur, dass wir zusammen sein wollen.“
„Was hält euch auf?“
„Dragos Aufenthaltserlaubnis gilt nur für sein Studium und das ist fast rum. Wenn er danach keinen Job findet … dann war’s das wahrscheinlich.“
„Ah, shit. Und man kann nichts tun? Da gibt es doch bestimmt irgendwelche Anlaufstellen, die weiterhelfen können. Kann doch nicht sein, dass jemand, der jahrelang hier gelebt und sein Studium abgeschlossen hat, einfach so das Land verlassen muss.“
„Sein Onkel wollte ihm einen Anwalt organisieren, aber das hat sich erledigt, seit er erfahren hat, dass Drago schwul ist.“
Erik presste die Lippen zusammen. Bei all der Trauer um den Verlust seiner Eltern, übersah er manchmal, wie viel Glück er mit ihnen gehabt hatte. Sich keine Sekunde mit der Frage quälen zu müssen, ob sie ihn nach seinem Comingout immer noch lieben, ihm immer noch den Rücken stärken würden, war ein Luxus, den längst nicht jeder genoss. Apropos. „Ein befreundetes Ehepaar meiner Eltern sind beide Anwälte. Ich glaube, einer von ihnen sogar irgendwas im Bereich Migration. Einwanderungsrecht? Keine Ahnung, wie sich das genau nennt, aber wenn du möchtest, kann ich die beiden mal kontaktieren.“
„Würdest du? Ich meine … wäre es okay, dich darum zu bitten?“
„Sicher. Die beiden haben seit dem Unfall meiner Eltern eh immer losen Kontakt mit mir gehalten.“ Zumindest hatten sie es versucht, während Erik alles, was ihn zwang, sich an seine Eltern zu erinnern, abgeblockt hatte. Sich erst jetzt bei ihnen zu melden, in der Hoffnung auf einen Gefallen, brach vermutlich sämtliche Regeln der Höflichkeit, doch dafür konnte er sich ein andermal schuldig fühlen. „Ich kann dir nicht versprechen, dass viel dabei rauskommt, aber ich versuche es zumindest.“
Am anderen Ende der Leitung schluckte Marco hörbar. „Selbst wenn es nichts bringt … Das ist so viel mehr als ich erwartet habe. Grazie, Erik, wirklich.“
„Hey, dafür sind Freunde da. Ah, ich glaube übrigens, meine Nudeln sind dann jetzt durch.“
„Cazzo! Die hatte ich ganz vergessen.“
„Alles gut, sind noch essbar.“ Vermutlich. „Wir hören uns bald, ja?“
„Sì. Mach’s gut. Und danke nochmal.“
„Nicht dafür. Genieß deinen Abend.“ Erik legte auf, stützte die Hände auf der Küchenzeile ab und schloss die Augen. Den aufsteigenden Tränen ließ er freien Lauf. Seine Beteuerung, sich für Marco zu freuen, war keine Lüge gewesen, er wünschte den beiden nur das Beste. Himmel, er verstand ja selbst nicht, weshalb ihm die Trauer um ein Beziehungsende, das er für längst verarbeitet gehalten hatte, plötzlich erneut die Brust zuschnürte.
Es dauerte sicher zehn Minuten, bis der Tränenstrom versiegte. Zurück blieb eine friedliche Ruhe, geklärte Luft nach einem Sturm. Anscheinend hatte Marcos neue Beziehung einen letzten Schiefer, den Erik gar nicht mehr wahrgenommen hatte, aus der bereits vernarbten Wunde gezogen. Nun fühlte sich zwar wieder alles aufgeschrammt an, doch er hatte keinen Zweifel, dass auch das heilte.
Er richtete sich auf, trocknete seine Wangen und freute sich auf sein Abendessen, bevor er ins Tix aufbrach. Zuvor wollte er sich jedoch um den versprochenen Anruf kümmern.
Kommentar:
Sorry für die lange Wartezeit! Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet bei den eher kurzen Erik-Kapiteln immer ewig zum Überarbeiten brauche. Ab jetzt schaffe ich es hoffentlich wieder, mich an den 14-tägigen Rhythmus zu halten. Wir sind schließlich langsam auf der Zielgeraden! (Und vielleicht arbeite ich im Hintergrund schon an einem neuen Projekt …)