Stichwort „Päckchen“
Ein kleines Päckchen. Vollkommen harmlos aussehend, ein handelsüblicher brauner Karton, der den Inhalt vor Schmutz und Beschädigung schützen sollte. Eines der Päckchen, die tagtäglich tausende Male ausgeliefert wurden. Es hatte die Größe eines Schuhkartons und war überraschend schwer für diese Größe.
Er runzelte die Stirn und starrte den braunen Karton, den er auf den Küchentisch gestellt hatte, prüfend an. Außer seiner Adresse, die ausgedruckt und mit Paketband festgeklebt worden war, gab es keine weiteren Anhaltspunkte.
Und damit fing die Problematik der ganzen Sache an: Er hatte nichts bestellt. Nichts in dieser Größenordnung und die Kommode sollte erst in drei Wochen geliefert werden. Irgendetwas von wegen Produktknappheit, er hatte sich den E-Mail-Text des Händlers nicht durchgelesen.
Natürlich dachte er nicht direkt an eine Bombe. Zumindest hatte er diesen reflexartigen Gedanken direkt wieder verworfen. Sein Job in einem Labor hatte nichts mit Menschen zu tun, er war in der Forschung tätig und arbeitete maximal mit Ameisen. Es gab keine wutentbrannte Ex-Freundin, die ihm die Pest an den Hals wünschte, noch einen rasenden Ex-Freund, weil er dessen Freundin ausgespannt hatte. Nicht in den letzten zwei Jahren und davor hatte er 600 Kilometer entfernt gelebt.
Mit anderen Worten musste dieses Päckchen falsch adressiert worden sein, anders konnte er sich das nicht erklären. Nun, sein Name und seine momentane Wohnungsadresse standen auf dem Paket, aber das konnte auch Zufall sein. Vielleicht gab es noch einen anderen Valentin Herzog, der in diesem Gebäude wohnte? Genau genommen einen oder eine V. Herzog, das war der Name, der in der ersten Zeile der Adresse stand.
„Elena? Hast du kurz Zeit? Ich bräuchte deine Hilfe!“, rief er die Küche hinaus und hoffte, dass ihn seine Mitbewohnerin in ihrem Zimmer hörte. Es schien so, denn wenige Sekunden später hörte er ihre leichten Schritte auf dem knarrenden Holzboden, ehe sie in der Küchentür auftauchte.
„Valentin, was ist los?“
Er deutete auf das Päckchen. „Lebt hier noch eine andere Person namens ‚V. Herzog‘?“
Elena schüttelte entschieden den Kopf.
„Mist“, murmelte Valentin und spürte, wie Beklommenheit in ihm aufstieg. Trotzdem holte er die Küchenschere aus der Schublade und machte sich daran, das Päckchen zu öffnen. Vielleicht war es eine Überraschung von irgendjemandem. Von seiner Mutter? Falls diese seine neue Adresse herausgefunden hatte. Was er insgeheim bezweifelte, denn sie hatte noch nie viel Interesse für das Leben ihres Sohnes gezeigt.
„Ich gehe wieder. Meine Abschlussarbeit schreibt sich nicht von selbst.“ Elena nickte ihm zum Abschied zu und kehrte wieder in ihr Zimmer zurück.
Nachdem er sämtliche Klebestreifen durchtrennt hatte, räumte er die Schere wieder weg, holte einmal tief Luft und klappte den Paketdeckel nach oben.
Ein Brief. Ihn begrüßte ein weißer, vollkommen normal aussehender Brief. Er nahm diesen an sich und öffnete ihn einfach, da die Lasche nur in den Brief hineingesteckt worden war. Dann zog er das hellblaue Papier heraus, das ihm von irgendwoher bekannt vorkam.
‚Ich habe gesagt, dass ich dich irgendwann wieder finde. - K.‘
Valentin ließ die Karte auf den Tisch fallen, als ob er sich verbrannt hätte. Für einen Moment war er wie erstarrt, während sich seine Gedanken überschlugen. Es konnte nur ein Scherz sein. Es musste einer sein. Er hatte sich nicht eine andere Identität verschafft und den unauffälligsten Job der Welt angekommen, nur um drei Jahre später wieder gefunden zu werden.
Mit zitternden Händen griff er noch einmal in das Päckchen und zog ein Oberteil hervor. Dunkelblau, mit silbernen Verzierungen an den kurzen Ärmeln. Ihm wurde schlecht, als er den dunklen Fleck in der unteren Hälfte des Oberteils fand. Es war ein Unfall gewesen. Auch, wenn ihm das niemand glauben würde, sollte er sich dafür jemals verantworten müssen.
Doch eines stand fest: Er musste wieder verschwinden. Dieses Mal noch gründlicher und weiter weg. Ins Ausland, denn da konnte man seine Spuren einfacher verwischen.
Ruckartig ließ er das Oberteil wieder in das Päckchen fallen, schmiss die Karte obendrauf und klemmte sich den Karton unter den Arm. Viel Zeit hatte er nicht, um zu packen. Wahrscheinlich würden ihre Männer bereits morgen hier klingen und sich nach ihm erkundigen. Er musste noch in dieser Nacht verschwinden, auch wenn es ihm für Elena leidtat. Immerhin konnte er ihr die Möbel überlassen. Doch er musste fort, wenn er nicht wieder in diesen Strudel gezogen werden wollte. Das letzte Mal hatte es ihn sämtliche Kraft gekostet, sich dort hinauszuarbeiten und er war nicht sicher, ob er das wieder schaffte.
Am nächsten Tag fand Elena einen Abschiedsbrief auf dem Küchentisch. Zwei Monate später zog Javi ein, der dankend Valentins Möbel übernahm.