Stichwort „Heißsporn“
Valentin streckte sich und atmete tief durch. Iza, die neben ihm auf der Decke saß, lachte auf.
„Gut geschlafen?“
Er kratzte sich am Hinterkopf und blinzelte mehrmals. „Sorry, ich bin echt weggenickt.“
Sie winkte ab. „Alles gut. Offenbar hattest du den Schlaf nötig.“
„Ehrlich gesagt Nein. Aber bei diesen Temperaturen schlafe ich sehr schnell ein, wenn ich mich irgendwo hinsetze und entspanne. Geh mit mir niemals in ein Schwimmbad, dort schlafe ich den Großteil der Zeit.“
„Das passt mir, mir ist in Schwimmbädern sowieso zu viel Lärm. Und Unruhe – wenn ich schwimmen gehe, möchte ich mich entspannen und nicht ständig irgendwelche lauten Menschen um mich herum haben. Dann lieber ein Wellnessbad, dort gehen die Leute wirklich zum Entspannen hin. Und wenn man zu laut ist, wird man von der Badeaufsicht zurechtgewiesen.“
Valentin grinste kurz. „Dafür zahlt man in Wellnessbädern einiges mehr an Eintritt.“
„Das ist es mir wert.“
Valentin ließ den Blick durch den Stadtpark schweifen, in dem sie sich für ein Picknick getroffen hatten. Wenn man es genau nahm, war die Bezeichnung „Picknick“ übertriebe. Er und Iza hatten nur genug Kaffee für mehrere Stunden mitgebracht. Seiner war sogar kalt, denn bei diesen Temperaturen verzichtete er auf warme Getränke. Und da es nicht schwer war, einen Iced Coffee mithilfe von Eiswürfeln zu fabrizieren, trank er im Sommer einfach das.
„Was hast du früher eigentlich so gemacht, wenn du frei hattest?“ Iza blickte ihn interessiert an.
„Früher? In meiner Jugend war ich ein … mein Großvater würde ‚Heißsporn‘ sagen. Immer auf Tour, immer auf Suche nach dem Nervenkitzel. Nichts Illegales, aber ich wollte Adrenalin spüren. Mountainbike fahren, im Skatepark Stunts üben – am besten mit hoher Geschwindigkeit – und all das. Selbst Fußball war mir zu langweilig. Und alles, was mit Stillsitzen zu tun hatte, konnte man vergessen. Da war mein Bewegungsdrang zu hoch.“
„Und andere Mannschaftssportarten?“
„Ich war kein Teamspieler, ehrlich gesagt. Zu hitzköpfig bei Fehlern, das hat schon in der Grundschule nicht funktioniert.“ Valentin grinste schief. Das war noch nett ausgedrückt gewesen. Es hatte im Sportunterricht regelmäßig Auseinandersetzung mit ihm gegeben, weil er seinen Mitspielern sehr direkt ihre Fehler vorgehalten hatte, während er seine eigenen ignorierte. Was nicht wirklich zum Spiel beigetragen hatte. Er war von seinem Sportlehrer fast jede Stunde zur Seite genommen worden, damit die anderen ungestört spielen konnten. Ohne ihn. „Und du? Wie warst du früher so? Ebenso wenig gesellschaftstauglich wie ich?“
Iza schüttelte den Kopf, dann zögerte sie. „Ich würde sagen Nein. Wobei … Gesellschaft konnte ich nur in Maßen ertragen, kann ich immer noch. Dieser erste Abend in der Bar, das ist mein wöchentlicher Gang, um einmal unter Menschen zu kommen. Meistens ist selbst das eine kleine Überwindung. Normalerweise bevorzuge ich es, mich zu Hause mit einem spannenden Buch hinzulegen. Das habe ich bereits in der Schule gemacht, nur habe ich mich da in der Bibliothek aufgehalten, um immer auf dem neuesten Stand bei den Büchern zu sein. So gesehen habe ich mich also nicht viel verändert.“
„Es ist für ein Studium bestimmt nicht verkehrt, gern zu lesen. Ich musste mich bei jedem Buch quälen, das ich für das Studium lesen musste. Und den Großteil habe ich nicht geschafft.“ Ein Glück war sein Studiengang einer mit relativ wenig Büchern gewesen. Die Hausarbeiten waren jedes Mal ein Gräuel gewesen und er hatte nur die notwendigen Stellen in den Büchern angeschaut. Entsprechend durchschnittlich sind seine Arbeiten ausgefallen, aber dafür war er in allen anderen Prüfungen besser gewesen.
„Was hast du beruflich eigentlich gemacht? Bevor du hier als Barkeeper gelandet bist?“
„Andere Gelegenheitsjobs. Nach dem Studium habe ich nicht direkt eine Stelle bekommen, also bin ich in verschiedenen Niedriglohnsektoren unterwegs gewesen. Nicht besonders lange, dann kam Valerie. Und nun, sie hat genug für uns beide verdient, weshalb ich mich freiwillig für den Haushalt gemeldet habe.“ Es entsprach nicht der Wahrheit. Valerie hatte nicht gearbeitet – es wäre in ihrer Situation unmöglich gewesen – aber sie hatte Geld durch ihre Familie. Und er hatte seiner Arbeit nicht weiter nachgehen können, weil er Valerie kaum allein lassen wollte. Nicht bei ihrer Lebenssituation, falls etwas geschehen wäre, hätte er sich ewig Vorwürfe gemacht. Nun, die machte er sich jetzt auch, aber aus einem anderen Grund. Denn Valerie hatte als Kronzeugin aussagen können, weil er auf sie aufgepasst hatte. Es hatte einige Situationen gegeben, in denen seine Alarmglocken angesprungen waren, und meistens hatte sich diese Vorahnung als korrekt erwiesen. Ohne ihn hätte Valerie ihren Gerichtstermin vermutlich nicht erlebt.
„Ein Heißsporn also. Hm, ich bin überrascht, ehrlich gesagt. Eigentlich hatte ich dich eher für den ruhigen, besonnenen Jugendlichen gehalten.“
Valentin lachte nur, als mit diesem einen Satz von Iza die düsteren Gedanken wieder verschwanden. Sie hatte mit ihrem Verhalten und ihrem Charakter eine heilende Wirkung auf ihn. Jens hatte das direkt erkannt und so langsam sah er es ebenfalls.