Stichwort „Tintenklecks“
Mit gerunzelter Stirn blickte Javi auf die Schneeflocken, die vor dem geschlossenen Fenster in regelmäßigen Abständen vom Himmel herabfielen.
„Das schneit sich gerade richtig ein“, murmelte Albert und rollte auf seinem Schreibtischstuhl zurück, um ebenfalls aus dem Fenster zu blicken.
Johannes, der gegenüber von Javi an seinem Schreibtisch saß, blickte noch nicht einmal von seinem Bildschirm auf. „Schnee bedeutet nur Matsch auf den Straßen. Darauf kann ich verzichten.“
„Und Schneeschippen. Meine Frau weigert sich, also darf ich das machen.“ Hakan, der bei Albert saß, stöhnte und vergrub das Gesicht in den Händen.
„Vielleicht verschwindet der Schnee auch wieder?“ Javi blickte einer Flocke nach, die gerade so der Fensterbank entkam und weiter nach unten in Richtung der Straße fiel.
„Hoffentlich. Aber es reicht, um die Heimfahrt abenteuerlich zu machen. Egal ob Regen oder Schnee: Sobald auch nur ein Tropfen auf der Windschutzscheibe landet, muss man mindestens zwanzig Kilometer weniger schnell fahren. Am besten, man schiebt das Auto, um sicherzugehen“, sagte Johannes in abfälligem Tonfall und erntete zustimmendes Gemurmel.
„Sag mal Javi, wie steht es bei dir im Privaten so? Du hast kurzfristig eine Wohngelegenheit gefunden, oder? Irgendwie ist das vollkommen an mir vorbeigegangen.“ Hakan warf Javi einen fragenden Blick zu, den dieser mit einem breiten Lächeln erwiderte.
„Super. Perfekt. Es hätte nicht besser laufen können. Elena ist wundervoll als Mitbewohnerin. SIe backt gern, wisst ihr?“
„Ist sie Single? Oder hast du Interesse an ihr?“ Johannes zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
„Ja, ist sie. Und … nein. Ich habe darüber nie nachgedacht, irgendwie ist das eher eine familiäre Atmosphäre, versteht ihr?“
„Nein“, antwortete Albert trocken. „Aber wir kennen deine Mitbewohnerin auch nicht. Allein weil sie backt, wäre sie in meinen Augen perfekt für meinen Sohn.“ Alberts Sohn war Mitte zwanzig, wenn Javi sich richtig erinnerte.
„Elena ist zu alt für ihn, fürchte ich.“ Bei Javis Erwiderung zuckte Albert nur mit den Schultern.
„David ist sowieso glücklich vergeben. Seine Freundin kann zwar nicht backen, dafür aber kochen und David stellt sich gern als Versuchskaninchen zur Verfügung.“
Alle schwiegen für einen Moment, dann seufzte Johannes. „Ich bin froh, wenn dieses Projekt vorbei ist. Es zieht sich unglaublich und ich will es nicht mehr sehen.“
Javi konnte ihn verstehen. Wobei Johannes‘ Unlust weniger mit dem Projekt an sich als mit dem Auftraggeber zusammenhing. Die keifende Stimme, wann immer Johannes mit der Frau telefonierte, drang durch das komplette Büro und war so angenehm wie ein Stück Metall, das über einen Steingut-Teller kratzte.
„Ich drucke noch schnell das hier aus, dann mache ich Feierabend. Vielleicht schaffe ich es auch, noch vor dem großen Schneesturm nach Hause zu kommen.“ Albert stand mit einem Stöhnen auf und hielt sich den Rücken. „Dieser Stuhl bringt meinen Rücken um.“
„Es ist weniger dein Stuhl als dein Bauch, fürchte ich.“ Hakans freche Erwiderung entlockte Albert nur ein Lachen.
„Der war teuer, mein Freund! Und ich will dich sehen, wenn du in meinem Alter bist.“ Mit diesen Worten lief Albert aus dem Büro.
Für ein paar Sekunden herrschte einträgliche Stille. Dann wurde die Tür aufgerissen und Albert stürzte herein, mit einem feuerroten Gesicht. Und er lachte, dass ihm die Tränen liefen.
„Drucker … Tinte … Azubi“, keuchte er zwischen seinen Lachanfällen und hielt sich an der Türklinke fest.
Javi stöhnte. Nicht schon wieder der Azubi. Ein Glück gehörte er nicht zu ihrer Abteilung. Jonas war zwar fähig, aber Javi hatte noch nie zuvor einen größeren Schussel getroffen. Und als er seine drei Kollegen gefragt hatte, hatten ihm diese zugestimmt.
„Was hat Jonas jetzt schon wieder getan?“ Hakan stand auf und blickte Javi und Johannes auffordernd an. „Kommt ihr ebenfalls zum Druckerraum?“
Wenige Minuten später standen alle vier – Albert hatte sich wieder beruhigt – in der Tür und blickten entgeistert auf Jonas, der inmitten eines riesigen, schwarzen Tintenflecks saß. Wobei Fleck untertrieben war, das war ein halber See. Ein See von schwarzer Druckertinte. Auch Jonas selbst war der Druckertinte zum Opfer gefallen. Auf seinen Haaren befanden sich etliche, schwarze Punkte und direkt unter seinem rechten Auge befand sich ein großer Tintenkleks.
„Wie hast du das geschafft?“, fragte Johannes nach ein paar Sekunden entgeistert. „Das ist ein Laserdrucker, er arbeitet mit einem Toner! Also Pulver. Warum ist hier alles nass?“
Jonas zog hilflos die Schultern hoch und deutete wortlos auf den umgestürzten Eimer, der wohl einer Putzhilfe gehörte. „Der stand direkt hinter der Tür! Als ich die Patrone wechseln wollte, ist er umgefallen und ich bin im Putzwasser ausgerutscht. Und die Patrone …“ Er musste nicht ausführen, was mit der Patrone geschehen war. Das Ergebnis konnte man perfekt um ihn herum betrachten.
Albert fasste sich an die Nasenwurzel, dann seufzte er. „Steh auf, Junge. Du musst dich sauber machen. Ich bin nicht sicher, ob diese Farbe so gut auf blanker Haut ist. Wir geben der Putzhilfe Bescheid, dass wir ihren Eimer gefunden haben. Und dann überlegen wir uns, was wir mit dieser Sauerei hier machen.“