Stichwort „Feier“
Elena beobachtete, wie sich der Vorhang endgültig vor ihr schloss. Doch noch immer konnte sie sich das breite Grinsen nicht vom Gesicht wischen. Das hier war die Premiere gewesen und dem Applaus des Publikums nach war diese mehr als gelungen. Natürlich war es nicht ihre erste Aufführung – aber die erste, in der sie die wichtigste Nebenrolle ergattert hatte.
„Gut getanzt, El“, murmelte Alex, die die weibliche Hauptfigur getanzt hatte, zu ihr und Elena nickte.
„Du ebenfalls. Dein finaler Tanz war noch nie so gut wie heute.“
Alex lächelte. „Das stimmt wohl. Irgendwie habe ich das Gefühl, bei Auftritten noch mehr geben zu können als in all den Proben vorher.“
„Das kann ich nur unterschreiben. – Aber ich glaube, wir müssen wirklich von der Bühne.“ Elena blickte sich um und sah, dass sich die meisten Tänzer bereits auf den Weg hinter die Bühne gemacht hatten. Denn ihr heutiges Abendprogramm war noch nicht beendet: Die Premiere war erfolgreich absolviert worden, nun wartete die Feier danach auf sie.
Herr Schmitt, der Betreiber des Stadttheaters, hatte einen Saal angemietet und sich um alles für die Feier gekümmert. Elena konnte sich nicht vorstellen, welche Summen er investiert hatte, doch Herr Schmitt hatte zwei große Vorteile: Er war sehr vermögend und ein ausgesprochener Kulturliebhaber. Deshalb tat es ihm nicht weh, ein paar Euro für eine Feier locker zu machen. Auch die Bezahlung sämtlicher Angestellter des Theaters, einschließlich der Tanz- und Schauspielgruppen, war überdurchschnittlich. Weil er es sich leisten konnte, hatte ihr Alex erzählt, als sie hier vor vier Jahren als Tänzerin angefangen hatte.
Dabei merkte man Herrn Schmitt seinen Reichtum nicht an. Er trug zwar Hemd und Anzughosen, aber keine von entsprechenden Marken. Elena hatte ihn mehr als einmal in der Fußgängerzone getroffen, wo er sich in normalen Läden neue Schuhe gekauft hatte.
Elena lief mit Alex zurück in die Umkleidekabine, die sie sich zu zweit teilten. Diese Aufteilung war zufällig gewesen, da Elenas Vorgängerin sich schon mit Alex diese geteilt hatte. Und Elena war anfangs froh über ihre Kabinengenossein gewesen, denn Alex‘ unbekümmertes, offenes Wesen hatte ihr ihren Anfang erleichtert. Denn sie hatte mit Heimweh zu kämpfen gehabt. Zwar sprach sie dank ihrer deutschen Mutter akzentfrei, doch aufgewachsen war sie in Russland, wo sie auch ihr Studium absolviert hatte. Mehrere Tausend Kilometer entfernt von ihrer Familie zu sein, war auch mit Ende zwanzig nicht einfach gewesen. Doch sie hatte diese Entscheidung nie bereut und auch ihre Eltern waren überzeugt gewesen, als sie sie nach einem halben Jahr zum ersten Mal besucht hatten.
„Kommt dein süßer Mitbewohner ebenfalls zur Feier?“ Alex zwinkerte Elena zu und diese lachte. Sie wusste, Alex hatte einen Narren an Javi gefressen.
„Ja, er hat es versprochen. Außerdem saß er bereits in der Premiere, da lässt er sich eine Feier nicht entgehen. Das spanische Blut, weißt du?“
„Ich wusste doch, dass er südländisch aussah! Sag, ist er so gut im Tanzen wie die meisten von ihnen?“
Elena prustete los. „Nein. Absolut nicht. Javi hat das Rhythmusgefühl eines tauben, fünfbeinigen Regenwurms. Dafür ist er mit einem beachtlichen Zeichentalent gesegnet, falls du Interesse hast, dich von ihm malen zu lassen.“
„Das ist sehr interessant … Betätigt er sich auch in der Aktmalerei?“
„Alex! Das ist mein Mitbewohner, ich möchte ihm noch in die Augen schauen können!“ Dafür bekam Elena Alex‘ verschwitztes Kostüm ins Gesicht. „Urgh, Dankeschön.“
„Sei nicht so eine Spielverderberin. Du weißt, wie ich es meine.“
Mit spitzen Fingern hob Elena das Kostüm von Alex auf und warf es in den Kleidersack, in dem sie bereits ihr Kostüm verstaut hatte. „Ja. Aber Javi ist noch süß und unschuldig, er soll nicht gleich bei der ersten Feier traumatisiert werden. Ich würde ihn gern wieder mitbringen, weißt du?“
„Stehst du auf ihn?“ Auch das war typisch für Alex, sie sprach alles direkt an.
„Nein. Überhaupt nicht. Aber er ist hilfsbereit und nett, ich kann mir keinen besseren Mitbewohner vorstellen. Und ich vermute, er denkt das Gleiche über mich. Denn eigentlich hatte er den Einzug bei mir nur vorübergehend geplant, bis er eine eigene Wohnung gefunden hat. Das ist jetzt fast ein halbes Jahr her und er hat noch nicht einmal nach den normalen Mietpreisen in der Umgebung gefragt.“
Alex überprüfte ihr Aussehen noch einmal im Spiegel, dann hakte sie sich bei Elena unter und zog sie aus der Kabine. „Vielleicht macht er das, ohne dich zu fragen?“
Elena prustete kurz. „Es ist Javi. Er fragt mich über alles aus. Sogar über Backrezepte, wenn ich neue Kekse gemacht habe. Aber ich wäre dir sehr verbunden, wenn ich jetzt in Ruhe duschen könnte.“
Nach einer knappen halben Stunde standen Elena und Alex im Foyer, wo sie auf ein paar der anderen Tänzerinnen warteten.
„Elena!“
Freudestrahlend drehte sich Elena um und wollte Javi in die Arme fallen. Doch beim Anblick des riesigen Blumenstraußes in seinen Händen stockte sie und blinzelte gerührt.
„Die sind für dich. Ich hab gelesen, dass man nach einer Premiere Blumen verschenkt oder so?“ Javi streckte ihr den Strauß entgegen und Elena nahm ihn an sich.
„Ja. Und du hast sogar die richtigen Blumen ausgesucht.“
Javi grinste. „Das war nicht ich, sondern die Blumenverkäuferin. Falls du in dem Strauß eine Telefonnummer finden solltest – das ist ihre. Ich habe zwar abgelehnt, aber man weiß nie.“
„Du Herzensbrecher.“ Alex mischte sich ebenfalls in das Gespräch ein und musterte Javi gründlich. Dann grinste sie. „Du bist also Elenas Mitbewohner Javi. Ich bin Alex, ihre Vorgesetzte im Tanzen, wenn du so willst.“
Javi lachte und ergriff Alex‘ ausgestreckte Hand, um sie zu schütteln. „Freut mich. Elena hat sich auch schon oft über dich … Hat über dich berichtet.“
„Ich weiß genau, dass sie sich über meinen Hang zur Perfektion beschwert hat, du musst nicht höflich sein.“ Alex zuckte mit den Schultern, dann hakte sie sich bei Javi unter. „Aber jetzt bist du da und kannst mir alle unschönen Dinge über Elena erzählen, damit ich etwas gegen sie in der Hand habe.“
Javi warf einen hilflosen Blick zu Elena, die nur breit grinste, bevor sie sich ebenfalls in Bewegung setzte. „Vergesst nicht, dass wir auf eine Feier müssen. Dort gibt es sehr viel Essen.“
Sofort sah Elena, wie Javi eine Spur schneller lief und sie schmunzelte. Natürlich war Javi bei Essen ganz vorne dabei. Aber auch das war eine Charaktereigenschaft, die sie sehr an ihm mochte.