Stichwort „Burggraben“
Die Burg sah von Weitem unscheinbar aus. Ein rustikales Bauwerk aus dem rötlichen Stein, der damals im Mittelalter für so viele Gebäude in der Region verwendet wurde. Kirchen, Burgen, Stadthäuser – sie alle waren mit dem Sandstein erbaut worden, den man in den Steinbrüchen der Region abgebaut hatte.
Nicht, dass das für Javi relevant wäre, doch Jonas, der schusselige Azubi, hatte sich in dieser Hinsicht als wahrer Quell des Wissens erwiesen. Etwas, das niemand von ihm gedacht hatte. Doch offenbar war Jonas sehr interessiert, was die Vergangenheit der Region anbetraf und konnte daher immer nützliche Fakten beisteuern. Sei es über Bauwerke wie die Burg oder über die verschiedenen Unternehmen, die sie mit den Projekten beauftragten.
Deshalb war Jonas trotz der regelmäßigen Unfälle im Büro (der Tintenvorfall war jedem im Gedächtnis geblieben) bei den anderen Arbeitnehmern hoch angesehen. Wenn er etwas nicht wusste, informierte er sich innerhalb von wenigen Stunden über alles Mögliche, das auch nur ansatzweise das Thema betraf. So konnten Javi und die anderen ihre Aufträge perfekt auf das jeweilige Unternehmen ausrichten, was positiv für alle Beteiligten war. Der Auftraggeber war glücklich über die Leistung und sie waren glücklich über das Lob, das ihnen der Auftrag einbrachte. Von der Bezahlung ganz zu schweigen.
„Ursprünglich besaß die Burg auch einen Burggraben, der jedoch nie mit Wasser gefüllt war. Das wäre auch unmöglich gewesen, immerhin sitzt die Burg auf der Bergspitze, fernab von irgendwelchen Gewässern. Das einzige Wasser, das sich in den Burggraben verirrte, war Regenwasser und das versickerte immer nach ein paar Tagen. Deshalb wurde irgendwann beschlossen, den Graben einfach mit allem Möglichen aufzufüllen, das nicht benötigt wurde. Sand und Erde von den ausgehobenen Baugruben für die neueren Häuser, Waldabfälle, die von den Bäumen übrig waren, nachdem diese als Baumaterial auserkoren wurden. Kurz gesagt, der Burggraben ist bis obenhin voll mit Müll. Natürlichem Müll, aber es ist noch immer Müll. Und da einfach alles hineingeschüttet wurde, sollte man dort auch nicht drüber laufen. Es sind schon etliche bei dem Versuch, das zu tun, eingebrochen und mussten durch die Feuerwehr wieder herausgeholt werden.“ Jonas machte an dieser Stelle eine Pause.
Javi sortierte seine Gedanken, während er weiterhin auf das Foto mit der Burg starrte, die der Auftraggeber irgendwie in seinem Auftrag verarbeitet haben wollte.
„Und wie soll ich eine Burg in eine Webseite integrieren, ohne dass das zusammenhanglos aussieht?“ Er warf Jonas einen fragenden Blick zu, doch zu seiner Überraschung grinste dieser breit.
„Ich kann ein paar Nachforschungen anstellen. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, hätte ich sogar eine Idee, wie man die Burg einbinden kann.“
Javi wusste, dass Jonas‘ Gedächtnis in dieser Hinsicht nahezu perfekt war und er nickte. „Gut. Dann überlege ich mir eine Farbkombination, die einigermaßen mit der Burg zusammenpasst. Und mit dem Logo des Unternehmens.“
Jonas nickte, dann eilte er aus der Tür. Als Azubi saß er im Großraumbüro bei den Verwaltungskräften, die sich mit den Anfragen der Kunden und gegebenenfalls mit der Problemlösung beschäftigten, wenn etwas nicht funktionierte. Javi als Webseitenersteller saß mit seinen Kollegen in einem eigenen Büro, um von den Telefonaten nicht abgelenkt zu werden.
Kaum als Jonas aus dem Büro verschwunden war, kam Albert hineingeschlendert, einen verwunderten Ausdruck auf dem Gesicht.
„War das gerade Jonas?“
Javi nickte bestätigend. Albert war die letzten drei Wochen in Urlaub gelesen, er hatte noch nichts über die wundersamen Fähigkeiten des Azubis erfahren. Aber er würde es jetzt herausfinden, das stand fest. Jonas‘ Talent war nützlich für sie und Hakan, Johannes und Javi hatten sich darauf geeinigt, Jonas ab sofort alles mit Humor durchgehen zu lassen, was seine Ungeschicklichkeit betraf. Sein Wissen war zu nützlich, um ihn wegen unbeabsichtigter Zwischenfälle zu vergraulen.
„Jonas ist nützlich, haben wir in den letzten Wochen festgestellt.“
Alberts Fassungslosigkeit war ein Bild für die Götter. Sein Mund klappte aus und seine Augen quollen hervor, sodass er einer Kaulquappe nicht unähnlich war.
Javi brach in wildes Gelächter aus, während Alberts Kopf zusätzlich noch rot anlief, weil ihm augenscheinlich der Sauerstoff ausgegangen war.
„Atmen“, stieß Javi hervor und Albert holte tief Luft. Seine Hautfarbe normalisierte sich, ebenso wie seine Augen und schließlich klappte er seinen Mund hörbar wieder zu.
„Nützlich?“
Javi nickte bestätigend. „Jonas ist ein wandelndes Lexikon, was die Region und die Unternehmen angeht. Und alles, was er nicht weiß, findet er bis ins kleinste Detail innerhalb von Stunden heraus. Er hat Hakan mit dem Malerbetrieb geholfen – zufällig kennt er den Sohn des Inhabers – und jetzt sucht er gerade für mich etwas, das er meint, gehört zu haben. Das heißt bei Jonas normal, dass es wirklich so ist, wie er glaubt.“
Albert schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Jonas? Unser Jonas?“
Beide zuckten zusammen, als Jonas zur Tür hereingeeilt kam, einen Stapel ausgedruckter Blätter in der Hand und mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck. „Ich wusste es! Der Burggraben ist die Verbindung! Hier, ich habe alles herausgesucht, was nützlich ist.“
Ohne Umschweife wurden Javi die Blätter in die Hand gedrückt, auf denen fein säuberlich ein chronologischer Ablauf aufgelistet war. Und bereits beim ersten Datum fiel Javi der Nachname auf, der der Gleiche war wie der Firmenname des Unternehmens, für das er die Webseite erstellen sollte. Und „Lagrini“ war kein allzu gewöhnlicher Name in dieser Region, das stand fest.
„Vielen Dank, Jonas. Du hast mir eben den Auftrag gerettet“, sagte Javi.
Jonas lächelte verlegen. „Kein Problem. Ich bin froh, dass mein ‚nutzloses Wissen‘, wie es meine Eltern immer nennen, doch nicht so unnötig ist wie gedacht.“ Mit diesen Worten ging er abermals aus dem Büro, dieses Mal in einem gemäßigten Tempo.
Albert schüttelte den Kopf. „Das glaub ich einfach nicht.“