Stichwort „Geheimcode“
Valentin lief mit gesenktem Blick die Hauptstraße entlang, um sich vor den feinen Regentropfen zu schützen, die seit dem heutigen Morgen unaufhörlich auf die Straßen fielen. Seine erste Arbeitswoche war gut verlaufen. Jens hatte ihn bereits am zweiten Abend unbeaufsichtigt hinter der Bar hantieren lassen.
„Du weißt, was du tust, Junge. Deine Jobkenntnis war untertrieben“, hatte er gesagt und Valentin auf die Schulter geklopft, bevor er sich wieder ins Hinterzimmer aufgemacht hatte.
Valentin war zufrieden gewesen, denn er hatte kaum etwas aus seinen früheren Tätigkeiten als Barkeeper vergessen. In welcher Ecke seines Kopfes er die Mischungen für Cocktails abgespeichert hatte, konnte er nicht sagen. Seit Valeries Tod hatten sich seine Gedanken ausschließlich um sie gedreht – und um sich selbst. Er hatte alles hinterfragt, was hinterfragt werden konnte und doch war er zu keinem Ergebnis gekommen. Erst zu diesem Zeitpunkt hatte er begriffen, dass sich der Tod eines geliebten Menschen nicht mit Logik verarbeiten ließ. Und dann hatte er sich in seine Trauer ergeben. Er trauerte noch immer, auch wenn der Gedanke an Valerie keinen brennenden Schmerz mehr in seiner Brust auslöste. Es war ein dumpfer, pochender Schmerz nahe seinem Herzen, der wohl nie verschwinden würde. Doch es war erträglich.
Und nun würde er sich einem weiteren Teil seiner Vergangenheit stellen. Er war bei der Testamentslesung nicht anwesend gewesen, zu tief hatte der Schmerz gesessen. Levin war es gewesen, der ihm von Valeries letztem Willen berichtet hatte. Und dank einer unterschriebenen Vollmacht, an die er sich nicht hatte erinnern können, hatte Levin an seiner statt das Erbe von Valerie angenommen. Da Valerie noch keine dreißig gewesen war, hatte sie nicht allzu viel besessen, das vererbt werden konnte. Levin hatte nur von einer finanziellen Summe berichtet, die Valentin zu jenem Zeitpunkt egal gewesen war. So wie alles andere.
Seitdem hatte er nicht auf seinen Kontostand geblickt, auch die Auszüge waren einfach in den Müll geworfen worden. Da es niemals Post von Versicherungen oder anderen Unternehmen gegeben hatte, musste sein Konto nach wie vor gedeckt sein. Von welchem Geld auch immer, denn nur in der Zeit bei Elena hatte er ein geregeltes Einkommen gehabt.
Es war schade, dass er aus dieser WG so plötzlich hatte verschwinden müssen. Elena war der Grund gewesen, warum er überhaupt angefangen hatte, sich seiner Trauer zu stellen. Sie hatte täglich ihren Optimismus und ihre Lebensfreude versprüht. Anfangs war er verstimmt darüber gewesen, denn damit hatte sie ihn in seiner andauernden Melancholie gestört. Doch ihre Stimmung war ansteckend gewesen und nach wenigen Monaten hatte er bemerkt, wie er sich wieder an kleinen Dingen im Alltag erfreuen konnte. An Vogelküken, die in den Balkonblumen aufgezogen wurden, an den lachenden Kindern, die aus der Schule kamen und unter seinem Fenster vorbeiliefen. Selbst an den Arbeitern im Park, die in diesem regelmäßig die Sträucher schnitten und den Rasen mähten.
Elena war auch diejenige gewesen, die den Spruch „Ich brauche eine Vogelküken-Auszeit“ als Geheimcode eingeführt hatte, wenn er einen schlechten Tag hatte. Sobald sie ihm diesen Satz sagte, wusste er, dass sie über seinen Zustand Bescheid wusste. Dann folgten Unterhaltungen, die mal tiefgründig waren, mal alltäglich. Doch eines hatten sie alle gemeinsam: Elena riss ihn damit aus seiner Melancholie. Und dafür würde er ihr immer dankbar sein, denn sie hatte für den Beginn seiner richtigen Trauer gesorgt. Er war nur einen Monat nach Valeries Tod bei ihr eingezogen und sie hatte ihn anfangs nur „Gruftie“ genannt. Und darauf bestanden, dass er jeden zweiten Tag duschte – auch das hatte er anfangs vergessen. Alles schien so nebensächlich neben seiner Trauer.
Valentin lächelte versonnen, als er an die erste Auseinandersetzung mit Elena dachte. Das war das erste Mal gewesen, dass er etwas anderes als Leere in sich gespürt hatte, auch wenn die Wut kein positives Gefühl gewesen war. Doch sie war ein Gefühl. Und danach hatten Elena und er sich blendend verstanden.
Er betrat das kleine Gebäude, das die Bank beherbergte und ging zu einem leeren Schalter.
„Ich hätte gerne Einsicht in meinen Kontostand.“
Die Frau dort lächelte höflich. „Dafür können Sie Ihre Kontoauszüge zurate ziehen.“
„Die besitze ich nicht mehr. Ein Brand, verstehen Sie?“
Das Mitgefühl war sofort da. Wie immer, wenn er einen Brand erwähnte. Das war sein persönlicher Geheimcode für Valeries Tod. Dieser Verlust war ein Inferno gewesen, das sich an diesem Punkt seines Lebens breitgemacht hatte. Und mit dessen Auswirkungen er noch immer kämpfte, auch wenn allmählich die durch das Feuer zerstörten Pflanzen wieder nachwuchsen. So wie seine Lebensfreude.
„Entschuldigen Sie. Natürlich können Sie Ihr Konto einsehen, ich bräuchte nur Ihre Karte und Ihren Ausweis.“
Valentin hatte beides bereits hervorgeholt und blickte nur wenige Minuten später auf seinen Kontostand. Wobei sich bei dieser Summe Ungläubigkeit ausbreitete, als er die sechsstellige Zahl vor dem Komma erblickte. Valerie hatte offenbar doch mehr besessen, als er vermutet hatte. Denn von diesem Betrag waren vielleicht zehn Prozent von ihm, wenn er seinen Kontostand vor ihrem Tod als Vergleich nahm.
Die Frau räusperte sich. „Nun … Wir können einen Termin vereinbaren, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen. Wissen Sie, normalerweise hätten wir Sie längst kontaktiert, um Ihr Geld anderweitig anzulegen.“
Valentin winkte ab. „Ich möchte nichts anlegen, danke.“ Denn das bedeutete, Spuren zu hinterlassen. Das Konto war bereits ein Risiko, doch das ließ sich nicht vermeiden.
Die Frau setzte zu einer Antwort an, doch Valentin beendete das Gespräch mit einem höflichen „Einen schönen Tag noch“ und lief aus dem Gebäude. Ein paar Schritte weiter blieb er stehen und hob den Kopf gen Himmel, um die feinen Wassertropfen auf seinem Gesicht zu spüren. Seine eventuellen Geldsorgen hatten sich in Luft aufgelöst und das für einen langen Zeitraum. Dank der Person, die er mehr als jeden anderen auf der Welt liebte.
„Danke, Valerie.“