Stichwort „Erinnerung“
„Kristian!“
Er schlug die Augen auf und blinzelte mehrmals, bis er den Namen zuordnen konnte. Kristian war er. Nicht Valentin. Und die Stimme gehörte Valerie. Die Frau, die ihn so glücklich wie noch nie machte, wenn er nur an sie dachte. So wie jetzt. Doch Valerie war in der Nähe. Vermutlich in der Küche, schätzte er – sie stand immer früher auf als er.
„Kristian!“ Schon stand sie im Türrahmen und Kristian genoss den Anblick, genau wie jeden Morgen. Es war ihm ein Rätsel, wie jemand um diese Uhrzeit schon eine derartige Lebensfreude ausstrahlen konnte. Doch Valerie tat es. Ihre braunen Augen funkelten, ihre Lippen waren zu einem strahlenden Lächeln verzogen und sogar ihre lockigen Haare schienen vergnügt ihr Gesicht zu umrahmen.
„Bist du auch endlich wach?“
Kristian setzte sich auf und gähnte, was Valerie ein helles Lachen entlockte.
„Du bist unmöglich. Wie kannst du jetzt noch müde sein?“
„Ich bin länger wach als du“, erwiderte Kristian. Das stimmte, denn Valerie war die Sorte Mensch, die um neun Uhr abends schlafen ging. Sie hatte einfach einen anderen Tagesablauf als er. Während er um neun noch einmal richtig wach wurde, fielen Valerie die Augen zu. Ganz egal, wo sie war. Im Kino, im Restaurant oder bei ihnen auf dem Sofa.
„Vergiss nicht, wir wollen heute in den Park gehen!“ Valeries Lächeln wurde um eine Spur breiter und Kristian spürte, wie sich seine Laune schlagartig besserte. Sie hatte einfach diese Wirkung auf ihn.
„Bist du sicher, dass der Park eine gute Idee ist?“ Dennoch musste er fragen. Levin hatte es ihnen eingeschärft, wachsam zu sein, auch wenn alles unauffällig wirkte.
Valerie rollte mit den Augen. „Natürlich bin ich das. Das ist heute der erste Tag seit dem Winter, an dem der Park offen hat! Die Winterpause ging lange genug, findest du nicht auch?“
„Darum geht es aber nicht, Val.“
Valerie seufzte. „Ich habe es schon damals gesagt: Ich werde mich nicht die ganze Zeit verstecken. Dank Levin habe ich eine neue Identität und das Gerichtsverfahren läuft noch. Meine Aussagen als Kronzeugin hat das Gericht bereits aufgenommen. Es würde ihnen nichts bringen, mich jetzt umlegen zu lassen.“
Unwillkürlich zuckte Kristian zusammen, als ihm einmal mehr die Tragweite von Valeries Situation bewusst wurde. Sie mochte sich daran gewöhnt haben, ihren drohenden Mord nebensächlich zu erwähnen. Er hingegen nicht. Genau genommen hatte er panische Angst davor, dass genau dieser Moment eintrat. Und deshalb würde er alles dafür tun, um diesen Moment nicht erleben zu müssen.
„Kristian“, murmelte Valerie behutsam. Sie war näher getreten und ließ sich neben ihm auf dem Bett nieder. „Wir haben darüber geredet. Ich werde mich nicht verstecken, das habe ich noch nie. Wenn sie mich jetzt noch zum Schweigen bringen, dann sollte es so sein.“
„Wie kannst du so etwas dem Schicksal überlassen wollen?!“ Wie jedes Mal explodierte Kristian, denn er kam nicht damit klar.
Valerie umfasste ihre Kreuzkette und lächelte leicht. „Weil ich daran glaube, dass Gott mein Schicksal lenkt. Er hat mich damals nicht sterben lassen, damit ich bei diesem Verfahren aussage. Wenn das meine Lebensaufgabe ist, dann soll es so sein.“
Dieses Urvertrauen in höhere Mächte war ein weiterer Teil von Valerie. Der einzige Teil, den Kristian niemals verstehen würde. Denn auch wenn er dem Glauben an eine höhere Macht nicht abgeneigt war, so war er der Meinung, selbst über sein Leben und sein Schicksal bestimmen zu können. Das in die Hände eines anderen zu legen, war furchteinflößend. Doch Valerie hatte genau das getan und bisher war sie nicht enttäuscht worden. Sofern man sie überhaupt enttäuschen konnte, denn sie sah hinter allem einen höheren Sinn. Und vielleicht war das nicht verkehrt.
„Also: Gehen wir heute in den Park?“ Valerie blickte ihn mit großen, bittenden Augen an.
Drei Sekunden verstrichen, dann seufzte Kristian und kapitulierte.
„Einverstanden. Aber trag zumindest eine Mütze. Für mich.“
Valerie lächelte, dann beugte sie sich vor und gab ihm einen langen Kuss auf die Lippen. „Für dich.“
Valentin schreckte aus dem Schlaf hoch. Schweißüberströmt presste er eine Hand auf sein rasendes Herz, während sein Blick unwillkürlich zur anderen Bettseite schweifte. Die leer war. Wie immer, seitdem Valerie gestorben war.
Der Ausflug in den Park war ihr letzter gewesen. Eine Woche später war das Urteil verkündet worden. Und keine 24 Stunden später war Valerie tot.