Stichwort „Musik“
Die ersten leisen Klänge der Wilhelm-Tell-Ouvertüre ertönten und Elena richtete sich von ihrer lockeren Pose auf dem Boden auf. Zwar war das nur eines der Aufwärmstücke für den bevorstehenden Auftritt, doch auch für diese galt volle Konzentration.
Mit einem Kopfschütteln versuchte sie, die Gedanken an ihren ehemaligen Mitbewohner Valentin zu vertreiben. Sie hatte sich auf einen Auftritt vorzubereiten und nicht über diesen Mann nachzudenken, der ihr immer mysteriöser erschien.
Dabei war Valentin von Anfang an sympathisch gewesen. Freundlich, höflich und zuvorkommend, hatte er sich als der perfekte Mitbewohner herausgestellt. Auch wenn Javi ebenso angenehm war – Valentin war ihr erster Mitbewohner gewesen und hatte von daher einen besonderen Platz in ihrem Herzen. Selbst wenn er sich als gesuchter Verbrecher herausstellen sollte.
Elena legte ihr linkes Bein auf der Ballettstange ab und beugte sich langsam nach vorne, bis sie die Dehnung im hinteren Oberschenkel spürte.
Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Valentin aufgrund einer kriminelle Karriere seine Identität gewechselt hatte und untergetaucht war. Normalerweise hatte sie eine gute Menschenkenntnis und sie wollte sich nicht bei Valentin zum ersten Mal täuschen. Auch wenn das eine Spezialität der begabteren Verbrecher war, wie sie durch unzählige Serien gelernt hatte.
Beinwechsel. Elena atmete zischend aus, als sie ihr linkes Bein kurz ausschüttelte, um die Muskeln schneller zu entspannen. Dann legte sie ihr anderes Bein auf die Stange und wiederholte die Beugung nach vorne.
Valentin war aufgeschlossen gewesen. Er ging gern abends aus, kam manchmal erst am Mittag des folgenden Tages wieder. Auch bei abendlichen Gesprächen hatte er frei heraus von seinem früheren Leben erzählt. Das einzig Merkwürdige war die fehlende Erwähnung seiner Familie gewesen, doch Elena hatte nicht nachbohren wollen. Als Kind von geschiedenen Eltern sprach sie auch nicht gern über ihre Familie, denn es war keine angenehme Trennung gewesen. Ein Grund, warum sie relativ früh ausgezogen war. Auf Distanz schien eine gesunde Beziehung zu ihren Eltern besser zu funktionieren. Oder es lag einfach daran, dass sich keiner der beiden mehr benachteiligt fühlte, weil sie beim jeweiligen Ex-Partner lebte.
Sie nahm ihr rechtes Bein von der Stange, schüttelte es ebenfalls aus und ließ sich auf den Boden sinken. Jetzt folgten die Dehnübungen der inneren Oberschenkel, um später einfacher in den Spagat rutschen zu können. Eine Bewegungsabfolge in ihrer nächsten Tanzaufführung, die sie über alles liebte. Doch heute stimmte sie noch nicht einmal dieser Gedanke fröhlich.
Vielleicht hatte Valentin seine Identität gar nicht wechseln wollen, sondern war dazu gezwungen gewesen? Sie kannte das aus Zeugenschutzprogrammen, aber dort hielten sich die Personen eher bedeckt. Auf keinen Fall gingen sie für eine Nacht mit einer Frau nach Hause, um am nächsten Tag wieder zu verschwinden. Denn das waren Valentins einzige Beziehungen gewesen in der Zeit, in der er bei ihr gewohnt hatte. Oder er hatte genau das damit bezweckt: Unauffällig zu bleiben, indem er auffällig blieb. In Kneipen und Bars hatte er immer schnell eine mögliche Begleitung gefunden, ohne sich groß anstrengen zu müssen. Irgendwie hatte er das gewisse Etwas ausgestrahlt, das auch auf Elena faszinierend gewirkt hatte. Dabei hatte er nichts mit einem Model gemeinsam, ganz im Gegenteil.
„Elena!“
Sie zuckte zusammen und riss den Kopf hoch, als sie die Stimme über sich hörte.
Jelisaweta Sacharjina, die Choreografie-Trainerin, blickte sie auffordernd an. Die letzten Töne der Trompeten erklangen, das Finale der Ouvertüre und Elena bemerkte, viel zu lang auf dem Boden gesessen und in die Luft gestarrt zu haben.
Rasch rappelte sie sich auf und murmelte eine Entschuldigung.
Jelisa, wie sie genannt werden wollte, lächelte nur kurz. „Nimm dir eine kleine Auszeit. Dir geht etwas im Kopf herum und etwas Luft hat noch niemandem geschadet.“
Elena überlegte kurz, doch dann nickte sie. Wenn sie bereits jetzt unkonzentriert war, wollte sie die komplizierten Schrittfolgen der eigentlichen Tänze nicht üben. Die Gefahr war dabei zu groß, erneut den Fokus zu verlieren und sich oder eine ihrer Mittänzerinnen zu gefährden. So kurz vor der Premiere konnte sie es sich eher erlauben, auf eine Probe zu verzichten, als eine Verletzung zu riskieren.
So nahm sie ihr Handtuch, ihren Rucksack und ihre Trinkflasche und verließ den Raum in Richtung Sonnenterrasse, um dort in Ruhe weiter nachdenken zu können.
Bis sie dort angekommen war, hatte sie bereits einen Entschluss gefasst. Javi und sie hatten nach dem Fund der Dokumente eine halbe Stunde überlegt, wie sie weiter vorgehen sollten. Ohne Ergebnis. Er hatte zur Polizei gehen wollen, sie hingegen hatte gezögert. Schlussendlich hatten sie sich darauf geeinigt, eine Nacht darüber zu schlafen und sich am heutigen Abend nochmals zusammenzusetzen.
Doch nichts sprach dagegen, es einfach mit einem Anruf bei Valentin zu versuchen. Vielleicht hatte er eine logische Erklärung dafür, auch wenn das unwahrscheinlich war. Alles würde sich von selbst entschlüsseln. Zumindest hoffte sie auf ein paar beruhigende Antworten, denn so kurz vor ihrem Auftritt konnte sie Ablenkungen dieser Art nicht gebrauchen.
Also zog sie ihr Smartphone aus dem Rucksack und rief Valentins Kontaktdaten auf. Nach einer gefühlten Ewigkeit sprang die Sprachbox an und sie hinterließ ihre Nachricht. Vielleicht würde er zurückrufen, wenn er ihre Nachricht hörte. An seiner Stelle würde sie das tun, denn niemand gab freiwillig offizielle Dokumente auf, gefälscht oder nicht.