Stichwort „Sonne“
„Du bist früh dran.“ Das waren die Worte, mit denen Valentin begrüßt wurde, als er zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit am Eingang des Stadtparks auftauchte.
Iza saß auf einer der Bänke und lächelte ihn breit an, während er nur eine Augenbraue emporzog.
„Sagt diejenige, die bereits auf mich wartet. Obwohl ich zu früh bin.“
„Eine Angewohnheit, die ich aufgrund meines Berufs in mein Privatleben übernommen habe. Keine Angst, das passiert nur, wenn ich mich draußen treffe. Bei Besuchen achte ich darauf, nicht zu früh oder zu spät zu erscheinen.“ Iza stand auf und griff nach ihrer Tasche, die neben ihr auf der Bank stand. Dann blickte sie ihn auffordernd an, während sie die Umhängetasche über ihren Kopf und über ihre Winterjacke zog. „Bist du bereit?“
Valentin seufzte. „Nicht wirklich. Aber das wird sich nicht ändern, also vermutlich doch.“
„So fühlt sich jeder am Anfang. Es wird besser werden, versprochen. Wenn die gemeinsame Basis gefunden wurde, was normal nach ein paar Treffen passiert.“
„Warum treffen wir uns eigentlich im Park?“ Das war die Frage, die Valentin schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte. Seitdem Iza ihn zu diesem Treffen eingeladen hatte.
„Weil es besser ist, auf neutralem Boden anzufangen. Wenn du direkt bei mir aufgeschlagen hättest, wäre ich im Vorteil und das ist nicht gut für den Grundstein, den wir hier zu errichten versuchen. Ich weiß, das sehen nicht alle so – aber du wirst merken, dass ich nicht gerade konventionell bin, was das Errichten einer Basis angeht.“
„Normal sind Frauen nicht so erpicht darauf, sich im Winter draußen zu treffen. Selbst wenn der Himmel nach Tagen nicht grau ist, sondern teilweise blau. Zumindest an den Stellen, an denen keine Wolken vorhanden sind.“ Wie auf Kommando schob sich in diesem Moment die Sonne hinter einer der großen Wolken hervor und strahlte Valentin direkt ins Gesicht. Schlagartig war die Kälte vergessen, während er die Sonnenstrahlen auf seiner Haut spürte und unwillkürlich die Augen schloss.
„Und du hast eben erkannt, warum ich auch im Winter nach draußen möchte. Dieses Gefühl, die Sonne nach mehreren Tagen wieder zu sehen und zu spüren, ist besser als jedes tiefgründige Gespräch. Zumindest hilft es für den Moment ebenso sehr.“ Iza klang sehr zufrieden und Valentin konnte es ihr nicht verübeln, denn ihre Worte ergaben Sinn. Er fühlte sich bedeutend besser als noch vor dem Park, ohne überhaupt mit dem eigentlichen Thema ihres Treffens angefangen zu haben.
„Ich würde vorschlagen, wir laufen einfach herum, während du mir deine Probleme erzählst. Das ist die normale Vorgehensweise für das erste Therapiegespräch, auch wenn es unter der Hand läuft. Und dann können wir uns gegenseitig über schlechte Beziehungen austauschen – von denen hattest du mit Sicherheit auch welche, so wie ich dich einschätze. Es wird dir helfen, glaub mir.“
Valentin nickte. Natürlich war Valerie nicht seine erste Beziehung gewesen. Aber diejenige, mit der er sich eine Zukunft vorgestellt hatte. Die Freundinnen davor waren für den Moment die Richtigen gewesen, doch nie auf lange Sicht. Weshalb diese Beziehungen nicht allzu lange gehalten hatten und er sich gefragt hatte, ob er überhaupt eine ernsthafte Beziehung eingehen konnte. Nun, mit Valerie waren all diese Fragen beantwortet worden.
„Ich habe Valerie das erste Mal in einer Bar gesehen. Und es hat nicht lange gedauert, bis …“
***
Valentin hielt nach einer geschlagenen Stunde inne und blinzelte. Iza hatte ihn kein einziges Mal in seinem Redefluss unterbrochen, sondern stets aufmerksam zugehört und hin und wieder genickt. Noch nicht einmal Notizen hatte sie sich gemacht, was ihn überraschte. Die einzige Sache, die er Iza verschwiegen hatte, war sie. Das war ein Thema, über das er noch nicht bereit war zu reden. Und innerlich hoffte er, dass sie ihn nicht noch einmal finden würde. Auch wenn das ein anderer Teil seines Gehirns bezweifelte, denn immerhin hatte sie ihn trotz seiner eigentlichen Identität bei Elena gefunden. Obwohl sie ihn nur unter Kristian Staab kannte. Sie war zu hartnäckig, um sich von einem reinen Ortswechsel aufhalten zu lassen. Aber dieses Mal hatte er Levins Unterstützung, zusätzlich hatte er des Öfteren Gestalten in der Bar gesehen, die zu Levins Männern gehören mussten. Irgendwie hatten diese alle eine bestimmte Ausstrahlung, auf die er aufmerksam wurde. Er konnte es nicht genau beschreiben, doch er war sich sicher und auch Levins Schweigen zu diesem Thema bestärkten ihn in seinem Verdacht.
„Du bist auf einem guten Weg.“ Iza ergriff das Wort und lächelte versonnen. „Und weiter, als ich anfänglich gedacht hatte. Das Einzige, über was du dir im Klaren sein musst, ist deine Rolle bei ihrem Tod.“
„Sie ist nicht nur gestorben, sie ist ermordet worden.“ Valentins Stimme war schneidend, doch Iza ließ sich davon nicht beeindrucken.
„Es war ein Unfall.“
Valentin fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. „Es mag ein Unfall gewesen sein, aber dennoch …“ Er brach ab, als ihm die Stimme versagte.
Iza lächelte mitfühlend. „Du machst dir Vorwürfe. Das ist verständlich, das nennt man die Schuld des Überlebenden. Es war ein unglücklicher Zufall, dass das Auto genau in diesem Moment zu schnell um die Kurve kam, als Valerie mitten auf der Straße war. Aber es hätte genauso zwei Sekunden später kommen können, dann wärst du an Valeries Stelle gewesen.“
„Sie war wegen mir auf der Straße! Weil wir uns gestritten haben, hat sie nicht …“ Sie hatten beide nicht auf den Verkehr geachtet. Weil er mit der Diskussion angefangen hatte. Aufgrund seiner plötzlich emporkochenden Eifersucht, als er Valerie mit jemandem hatte sprechen sehen. Und bei ihrem strahlenden Lächeln war eine Sicherung in ihm durchgebrannt.
Deshalb fühlte er sich verantwortlich. Wenn er seine Emotionen besser unter Kontrolle gehabt hätte, wäre das nicht passiert. Dann wäre er nicht schuld an ihrem Tod, den er je nach Tageslaune noch immer als Mord ansah.
Valentin senkte den Kopf und spürte, wie ihm Iza eine Hand tröstend auf die Schulter legte. Die Sonne kam abermals zwischen den Wolken hervor und hüllte seinen Körper in eine tröstende Wärme.