Stichwort „Sonne im Herzen“
Es schneite. Dicke, weiße Schneeflocken fielen lautlos vom Himmel und bedeckten allmählich die Straße sowie den Gehweg, auf dem Javi gerade lief. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt und er beeilte sich, rasch nach Hause zu kommen.
Zitternd vergrub er die Hände in den Manteltaschen, darauf bedacht, seine Einkaufstasche nicht von der Schulter rutschen zu lassen. Hätte er gewusst, dass es ausgerechnet heute schneit, hätte er keinen Mantel aus Schurwolle angezogen. Dieser hielt zwar warm und war windfest, aber Nässe war pures Gift für ihn. Und der Mantel war nicht billig gewesen.
Elena hatte heute einen weiteren Auftritt, der dritte für diese Woche. Zusammen mit dem Aufwärmtraining und den Nachbereitungen ging sie am frühen Nachmittag aus dem Haus und kam erst gegen Mitternacht zurück. Javi gönnte es ihr, sie hatte lange für diesen Auftritt gearbeitet. Und nachdem er ihre Tanzgruppe kennengelernt hatte, verstand er auch, warum sie sich diesen Stress und die vielen Schmerzen beim stundenlangen Tanzen antat. Elena wurde von ihrer Tanzgruppe geliebt, das hatte er bei dieser Feier sehen können. Ebenso sehr, wie sie wiederum ihre Mittänzer liebte.
Javi lächelte. Er hatte versprochen, sich die Woche unter um den Einkauf zu kümmern, um Elena etwas von der Last zu nehmen. Normal wechselten sie sich dabei ab, aber durch die vielen Auftritte hatte sie kaum Zeit und war zudem körperlich zu erschöpft, um noch groß aus dem Haus zu gehen. Und er hatte das Glück, gerade Urlaub zu haben. Was nicht geplant gewesen war, doch das Jahr neigte sich zum Ende und seinem Chef waren die vielen, unverbrauchten Urlaubstage seines Teams ausgefallen. Die gesamte Abteilung war das Jahr über zu beschäftigt gewesen, um groß Urlaub nehmen zu können, und auch die Bitte um eine Übertragung in das nächste Jahr war abgelehnt worden.
Also hatte Max kurzerhand beschlossen, die Abteilung für zwei Wochen komplett zu schließen, da es anders nicht ging. Es standen keine wichtigen Projekte an und deshalb war es in Ordnung, hatte er gemeint. Javi und seine vier Kollegen hatten nicht protestiert, denn sie alle waren froh gewesen, endlich die Aussicht auf ein paar arbeitsfreie Tage zu haben. Und es hatte funktioniert, auch wenn der oberste Chef nicht begeistert gewesen war. Doch die Alternative hatte ihm noch weniger gefallen, weshalb er diesen Abteilungsurlaub zähneknirschend bewilligt hatte.
Endlich bog Javi um die letzte Ecke und erblickte das große Altbauhaus, in dessen zweitem Stock die Wohnung von Elena und ihm lag. In der zu seiner Überraschung Licht brannte.
Javi warf einen Blick auf die Uhr. Es war noch zu früh für Elena, ihr Auftritt war gerade einmal seit einer halben Stunde vorbei. Unwillkürlich huschten seine Gedanken zu Valentin. Vielleicht hatte er seinen Schlüssel nachmachen lassen, bevor er ihn abgegeben hatte? Holte er sich gerade seine Papiere?
Als Javi im dritten Stock angekommen war, raste sein Herz nicht nur aufgrund der Treppen. Lautlos schloss er die Tür auf und drückte sie langsam mit der Schulter auf, während er sich suchend umblickte. Es standen keine fremden Schuhe im Flur, aber das musste nichts bedeuten. Und er hörte rauschendes Wasser. Wie von einem Wasserkocher.
Langsam lief er den dunklen Flur entlang bis zur Küche, aus der Licht drang. Im nächsten Moment stieß er einen mädchenhaft hohen Schrei aus, als plötzlich eine Person neben ihm stand. Diese stieß einen noch höheren Schrei aus und presste sich die Hand auf die Brust.
„Javi!“ Elena klang atemlos. „Warum zum Teufel läufst du durch den dunklen Flur? Ist die Glühbirne doch kaputt gegangen?“
Javi stieß zischend die Luft aus, während er sich von seinem Schock erholte. „Ich dachte … Warum bist du schon hier? Ich hatte erst in zwei Stunden mit dir gerechnet.“
Elena lächelte. „Da ich bisher immer nach dem Auftritt geholfen habe, wurde ich heute direkt danach nach Hause geschickt, um mich auszuruhen. Es wurde darauf bestanden, ehrlich gesagt.“
Javi nickte. Das klang nach Elena. Sie war liebenswert und hilfsbereit, ohne jedoch aufdringlich zu wirken. Dazu kam ihr unerschütterlicher Optimismus. Als sie Valentins Papiere gefunden hatte, war sie sofort von seiner Aufrichtigkeit überzeugt gewesen. Mittlerweile stimmte er ihr zu, dank der Nachforschungen seines großen Bruders. Doch Elena war ohne diese Informationen zu dem Entschluss gekommen, Valentin als einen der Guten zu betrachten. Wenn er ehrlich war, hatte sie ihn mit dieser Einstellung schon vorher ins Grübeln gebracht, ansonsten hätte er Cisco gar nicht um diesen Gefallen gebeten.
Seine Mamá hatte immer gesagt, er wäre jemand mit „Sonne im Herzen“. Er hatte nie verstanden, was sie damit meinte. Doch seit er Elena kannte, wusste er, was das bedeutete. Elena und er waren sich sehr ähnlich, das hatte er festgestellt. Und auch sie war ein Sonnenkind: stets optimistisch, weltoffen und fähig, ihre Mitmenschen mit ihrer positiven Ausstrahlung zu beeinflussen.
„Ich habe übrigens eingekauft. Eine Packung American Cookies ist aus Versehen in die Tüte gefallen.“ Er zwinkerte Elena zu, auf deren Gesicht sich ein Strahlen ausbreitete.
„Javi, du bist der Beste!“ Mit diesen Worten nahm sie ihm die Tüte ab, um sie nach der Kekspackung zu durchwühlen.