Stichwort „Déjà-vu“
Valentin klappte den Kragen seiner Jacke hoch und zog die Schultern nach oben, während ihm ein kalter Wind um die Ohren pfiff.
Nie hätte er gedacht, wie kalt es um diese Jahreszeit werden konnte. Dabei war gerade einmal Ende September. Zugegeben war er ein Kind des Südens und hier, im nördlichen Teil des Landes, war es generell ein paar Grad kälter. Von diesem Wind ganz zu schweigen, der in seiner ursprünglichen Heimat offenbar von den Bergen zurückgehalten wurde.
Er lief die Straße entlang und wich den entgegenkommenden Passanten aus, denen der Wind und die Kälte nicht so viel auszumachen schienen. Zumindest ließen ihre offenen Jacken darauf schließen, manche hatten sogar auf eine Jacke verzichtet.
Sein Ziel war eine versteckte Kneipe an der Straßenecke, zu der man nur kam, wenn man durch den Eingang des davorstehenden Hauses lief. Der Besitzer der Kneipe war ein alter Freund von Levin und hatte Ausschau nach einem Barkeeper gehalten. Was Valentins Glück war, denn er hatte in seiner Studentenzeit als Barkeeper gejobbt und dank seines fordernden Chefs sogar einige Schulungen gemacht. Für die er jetzt dankbar war, denn ansonsten hätte er dieses Angebot gar nicht wahrnehmen können. Es wurde ausdrücklich nach einer Person mit etwas Erfahrung verlangt und Valentin verstand, warum. Demnächst begann das neue Semester – das bedeutete viele neue Studenten, die am Anfang des Semesters weniger Lernen als vielmehr Feiern im Sinn hatten. Er kannte das aus eigener Erfahrung. Auch wenn er ab dem dritten Semester zu beschäftigt mit dem Studium und den beiden Nebenjobs gewesen war, um sich die Nächte um die Ohren zu schlagen.
Außerdem hatte er Valerie kennengelernt. Ihm war die kleine, zierliche Brünette sofort ins Auge gestochen, als sie mit einer Freundin – die keine war, wie sie ihm später gebeichtet hatte – am Tresen gesessen und die Umgebung beobachtet hatte. Damals hatte er vermutet, sie würde nach Männern Ausschau hlten, was nicht verkehrt gewesen war. Nur war es ein Mann gewesen und ihr Interesse war nicht von romantischer Natur gewesen.
Valentin hatte die Ecke erreicht und öffnete das schmiedeiserne Tor, das mit einem leisen Quietschen aufschwang. Ihm war gesagt worden, einfach durch das stets offene Tor zu gehen und an die dunkelblaue Tür zu klopfen, die im Innenhof auf der rechten Seite lag. Dort wohnte Jens, der Besitzer des „Déjà-vu“, wie die Kneipe hieß. Eine typische Studentenkneipe, in der aber auch viele Büroarbeiter abends ihre freie Zeit genossen. Das hatte ihm Levin erzählt. Sie lief gut, weshalb er hier einen sicheren Job erwarten konnte. Sogar eine Wohnmöglichkeit konnte ihm Jens anbieten, der wusste, dass Valentin nicht aus der Gegend kam und frühestmöglich ein Dach über dem Kopf benötigte. Spätestens bei Valentins leichten Dialekt hätte er es gemerkt. Valentin konnte vieles, aber nicht wie ein echtes Nordlicht reden, was war ihm bereits am Bahnhof aufgefallen. Sie sprachen die Worte härter und deutlicher aus als er, der aus einem „t“ gern ein „d“ machte und Schlusssilben gern verschluckte. Das typische Redeverhalten, wenn man aus dem südlichen Teil des Landes stammte, in seiner Heimat wurden Nordlichter irritiert angeschaut, wenn sie zum ersten Mal den Mund aufmachten.
Es dauerte einige Sekunden, bis auf sein Klopfen hin die Tür geöffnet wurde. Valentin blinzelte überrascht, als er den breitschultrigen, dunkelhäutigen Mann sah, der ihn überragte.
„Ah, Valentin? Levin hat gemeint, du würdest heute vorbeikommen.“ Jens‘ breites Lächeln ließ ihn sofort weniger einschüchternd wirken und Valentin entspannte sich.
„Ja. Die Stelle als Barkeeper ist noch frei?“
Jens nickte. „Levin hat erwähnt, dass du früher als Barkeeper gejobbt hast? Dann sollte das für dich kein Problem sein. Im Prinzip geht es erst einmal darum, Frank – den anderen Barkeeper – zu entlasten. Wahrscheinlich wirst du dich erst einmal um Longdrinks kümmern, wie ich Frank kenne. Er will seine neuen Schützlinge erst einmal schonen. Im ‚Déjà-vu‘ wird es ab nächster Woche voller, wenn die neuen Studenten kommen. Aber das weißt du mit Sicherheit.“
Valentin nickte. Bis jetzt klang Frank nach jemandem, mit dem er gut zusammenarbeiten konnte. Ironischerweise hatte sein ehemaliger Arbeitskollege in der Bar ebenfalls Frank geheißen, auch wenn das nichts sagen musste. Männer mit dem Namen Frank gab es schließlich häufiger. Auf jeden Fall häufiger als Valentin, vermutete er.
„Kommen wir zu deiner Wohnung: Ich habe neben diesem Gebäude hier ein weiteres, fünf Blocks entfernt. Dort wäre eine kleine Wohnung frei. Zwar hatte ich bereits einen Studenten als Mieter, der hat sich kurzfristig jedoch für eine andere Uni entschieden und mir wieder abgesagt.“ Jens verzog kurz das Gesicht.
Valentin nickte. „Klingt gut. Ich brauche nicht viel. Solange Strom und vor allem Heizung funktionieren.“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, zog ein Windhauch durch den Hofeingang zu ihnen herein und er fröstelte.
Jens lachte. „Etwas kälter als im Süden, nicht wahr? – Komm rein, dann können wir direkt die Verträge besprechen und unterschreiben. Damit alles in trockenen Tüchern ist, wenn du übermorgen anfängst zu arbeiten.“