Stichwort „Bibliothek“
Javi lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und stöhnte leise, während er sich durch die lockigen Haare fuhr. Er würde nie verstehen, warum es in Deutschland nicht üblich war, Klimaanlagen in Privatwohnungen einzubauen. Als ob nur Büroleute einen Anspruch auf angenehme Temperaturen hatten.
Gut, seine Nana hatte in Spanien ebenfalls kein klimatisiertes Haus, aber dieses war schon etliche Jahrzehnte alt. Und im Gegensatz zu Deutschland wehte an der spanischen Küste immer ein angenehmer Wind, der die Hitze erträglich machte. Hier hingegen war er froh, wenn er ein Lüftchen spürte, denn die meiste Zeit war es stickig. Stickig und schwül.
Kurz überlegte er, sich eine der kalten Wasserflaschen im Kühlschrank zu schnappen, verwarf diese Idee jedoch wieder. Elena hatte ihm erklärt, wie das mit Hitze und kalten Getränken lief. Nach dem ersten Mal hatte er es ihr geglaubt, denn die Temperaturen waren noch unangenehmer geworden.
Seine Gedanken flogen zu Valentin/Kristian, wie so oft in letzter Zeit. Elena und er hatten nicht weiter über das Thema gesprochen, doch er war nach wie vor neugierig. Umso mehr, seit sein Bruder die seltsamen Entdeckungen über ihn gemacht hatte. Vom Besuch dieses Typen, der sich als „Levin“ vorgestellt hatte, ganz zu schweigen.
Valentin mochte harmlos sein, seine Geschichte war es aber nicht. Und Javi war zu wissbegierig, um sich nicht mit dieser Geschichte zu beschäftigen. Ein Geheimnis umgab seinen Vorgänger und er würde nicht eher ruhen, bis er den Grund dafür erfuhr.
Mit einem Seufzen ließ er seinen Bürostuhl nach hinten rollen, weg vom Schreibtisch. Auf diesem stand ausnahmsweise kein Laptop, stattdessen lag dort ein Grafiktablet. Eine Anschaffung, die er sich vor einigen Wochen geleistet hatte, um seine verstaubte Kreativität wieder zu aus ihrem Winterschlaf zu holen. Früher, in der Schule, hatte er täglich gezeichnet. Doch zusammen mit seinem Studium war seine Kreativität erloschen, zu viel Zeit war in den Unterrichtsstoff geflossen. Und danach war er zu platt gewesen, um seinen Kopf noch irgendwie anzustrengen. Langsam rollte er sich wieder zu seinem Grafiktablet.
Doch das wollte er jetzt ändern. Er konnte sich beim Zeichnen super konzentrieren, hatte er in der Schule festgestellt. Und genau das wollte er jetzt nutzen, wenn es um Valentin ging. Vielleicht fiel ihm etwas ein, wie er mehr Informationen über ihn bekommen konnte, ohne direkt in die Kriminalität abzurutschen. Er war überrascht, dass sein Bruder keine Konsequenzen hatte spüren müssen, als er für ihn nach Valentin in den Datenbanken geschaut hatte. Immerhin war diese private Suche bemerkt und unterbunden worden, mit einem mündlichen Hinweis an Cisco. Doch vielleicht war es wichtiger, die Sache mit Valentin so wenig wie möglich aufzubauschen, damit keinerlei Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt wurde.
Javis Stift bewegte sich über das Grafiktablet, während er nachdachte. Cisco hatte den Verdacht von Agenten und dem Zeugenschutzprogramm geäußert. Eine Meinung, der Javi zustimmte, doch das konnte noch nicht alles sein. Wenn es anderswo keine Spuren gegeben hätte, wären die Aufzeichnungen nicht einfach verschwunden.
Mit einem Klappern fiel der Stift auf das Tablett. Die Bibliothek. Der Ort, an dem man derlei Informationen finden konnte. Wenn man Anhaltspunkte hatte und das hatte Javi. Er hatte den Namen von Valentin und Levin hatte etwas von einer Valerie erzählt. Dass sie gestorben war, weshalb sich Valentin verantwortlich fühlte. Doch das mit dem Decknamen hatte Levin nie ausführlich erzählt, nur auf „Umstände“ hingewiesen, die dies „nötig gemacht“ hatten.
Eine Stunde später saß Javi in der Universitätsbibliothek an einem der heiß begehrten Computerarbeitsplätze. Seinen Laptop hatte er zu Hause gelassen – aus Vorsicht, keine Spuren zu hinterlassen. Selbst wenn irgendwelche Behörden die Suchanfragen zu Valentin überwachen: Er saß an einem öffentlich zugänglichen Computer einer staatlichen Einrichtung. Der nicht durch ein Passwort gesichert war. Niemand würde ihn zurückverfolgen können und selbst wenn Levin eine Ahnung hatte, hatte er keine Beweise.
Und Javi hatte interessante Dinge gefunden. Dinge, die Levin nicht erzählt hatte. Valerie war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Überhöhte Geschwindigkeit, der falsche Ort zur falschen Zeit. Sie war am Rand des Gehwegs erfasst und mehrere Meter mitgeschleift worden. Der Erstkontakt hatte ihr bereits das Genick gebrochen, ihr Tod war schnell und schmerzlos gewesen nach dem Gerichtsmediziner.
Doch Javi bezweifelte, dass das für Valentin eine Rolle gespielt hatte. Dieser war in dem Bericht namentlich erwähnt worden, aber als Kristian. Also hatte er damals seinen Decknamen noch, das musste kurz vor seiner Namensänderung gewesen sein.
Valeries Tod war ein Unfall gewesen – Javi hatte sämtliche Zeitungsartikel gelesen. Da es hier um ein vermutetes illegales Rennen ging, hatten Zeitungen in ganz Deutschland über das Unglück berichtet. Doch irgendetwas in Javi bezweifelte das. Nicht das Geschehen, aber die Deklaration als Unfall.
Javi kaute auf der Unterlippe herum. Über den Unfallfahrer war nichts bekannt, das bestätigte seine These. Normalerweise stürzten sich die Medien als Erstes auf den Verursacher. Hier hingegen? Nichts. Nur eine kurze Mitteilung, es hätte sich um einen kaukasischen Mann mittleren Alters gehandelt.
Ein Entschluss formte sich in Javis Kopf. Elena würde davon nichts erfahren, das stand fest. Für sie war die Sache mit Valentin erledigt. Aber Javi würde nicht ruhen, bis er diese Sache für sich geklärt hatte. Etwas stimmte nicht und er würde herausfinden, was es war.