Stichwort „Stift“
Entnervt raufte Javi sich die Haare. Vor ihm stand sein aufgeklappter Laptop, das Textdokument geöffnet. Und seit fast einer Stunde blinkte ihm der Cursor noch immer von der ersten Stelle aus entgegen.
Javi gähnte und streckte sich, dann wanderte sein Blick zum Fenster hinaus, an dem der Schreibtisch bei seinem Einzug gestanden hatte. Sein Vorgänger hatte einen ähnlichen Geschmack wie er gehabt, was Möbel und deren Position in einem Zimmer anging. Er hatte nichts verändert, als er eingezogen war. Deshalb stand der Schreibtisch noch immer vor dem Fenster und er konnte von dort auf das kleine Waldstück blicken, das zu dem Anwesen auf dem Hügel gehörte. Elena hatte erwähnt, ab und zu Rehe zu sehen, doch ihm war das Glück noch nicht vergönnt gewesen. Allerdings wohnte er seit kurzer Zeit hier, während Elena bereits ihr siebtes Jahr in dieser Wohnung lebte. Drei Jahre allein, drei Jahre mit Valentin und seit einem halben Jahr mit ihm.
Doch all das brachte ihn nicht im Mindesten weiter. Er hatte versprochen, bis morgen einen halbwegs anständigen Textentwurf vorzulegen. Etwas, das ihm normalerweise ohne Mühe gelang, doch heute schaffte er es nicht, auch nur ein Wort zu tippen.
Gedankenverloren griff er nach dem Bleistift, der noch von seiner letzten handgeschriebenen Nachricht auf dem Tisch lag und fing an, ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zu drehen. Nur um beim dritten Dreher die Konzentration zu verlieren, weshalb der Bleistift klappernd auf den Tisch viel, dann von der Platte hinunterrollte und unter seinem Bett verschwand.
Ein rüder Fluch kam über Javis Lippen und er klappte den Laptop entnervt zu. Vielleicht war das auch nur ein Wink des Schicksals, erst einmal eine Pause einzulegen. Wobei man kaum pausieren konnte, wenn man noch nicht einmal angefangen hatte.
Seufzend glitt er von seinem Stuhl, ging auf die Knie und beugte sich nach vorne, um ächzend nach dem Stift zu tasten, der natürlich bis an die Wand gerollt war. Ein Glück war er groß genug, um nicht vollständig unter das Bett robben zu müssen. Wobei er sein Oberteil vermutlich wechseln konnte, denn er musste trotzdem bis zur Hüfte unter das Bett krabbeln. Doch schließlich schaffte er es, mit den Fingerspitzen den Schaft des Stiftes zu berühren, und rollte ihn wieder in seine Richtung.
Zufrieden griff er nach dem Stift und drehte seinen Kopf leicht nach hinten, um sich beim Zurückrobben nirgends den Schädel anzuschlagen. Dabei sah er es. Ein weißer Briefumschlag, der mit Klebeband an der Unterseite der Bettkante festgemacht worden war.
Ruckartig robbte er nach hinten - und schlug sich seinen Hinterkopf mit einem dumpfen Knall an der Bettkante an. Stöhnend zog er sich die letzten Zentimeter unter dem Bett hervor, dann griff er mit der Hand an seinen Hinterkopf und tastete ihn mit schmerzverzerrter Miene ab.
„Javi?“ Elenas Stimme ertönte dumpf auf der anderen Seite der geschlossenen Zimmertür. „Alles in Ordnung?“
„Ja“, rief er mit zusammengepressten Zähnen, dann überlegte er es sich anders. „Warte, nein! Komm rein. Ich glaube, ich habe etwas gefunden.“
Eine Sekunde später öffnete sich die Tür und Elena streckte ihren Kopf in das Zimmer. Als sie seine Position sah, verzog sie mitfühlend das Gesicht. „Das tut ordentlich weh, nicht wahr? Wir haben Kühlpacks in der Gefrierschublade, falls du möchtest.“
„Nein, alles gut.“ Javi nahm die Hand wieder von seinem Hinterkopf, nachdem er keine nassen oder angeschwollenen Stellen ertastet hatte. Die Stelle pochte zwar noch, aber dieser Schmerz war erträglich.
Javi griff mit einer Hand unter die Bettkante und löste den Brief von dem lackierten Holz, um ihm Elena entgegenzustrecken. „Das habe ich gerade gefunden, als ich unter das Bett getaucht bin.“ Er hob den Bleistift in der anderen Hand als Erklärung empor, doch Elena achtete gar nicht darauf. Stattdessen hatte sie ihre Aufmerksamkeit dem Brief geschenkt, den sie mit einem Stirnrunzeln betrachtete. Sie setzte sich zu Javi auf den Boden.
„Das ist nicht von dir?“
„Nein. Das scheint von Valentin zu sein.“
Elena zog nachdenklich die Unterlippe zwischen ihre Zähne, während sie nach dem Brief griff und ihn kurzerhand öffnete. Dann drehte sie den Brief um und zwei Dinge fielen mit einem Klappern auf den Boden.
Javi beäugte beide entgeistert, denn diese Dokumente kannte er sehr gut. „Sollte man seinen Personalausweis und den Reisepass nicht mitnehmen, wenn man umzieht?“
Elena nickte langsam. „Ja, sollte man. Weshalb das wirklich merkwürdig ist.“ Sie drehte die kleine Plastikkarte um und stieß kurz danach einen überraschten Laut aus.
„Elena?“ Javi warf einen Blick auf den Namen, der auf der Karte stand. „Kristian Staab? Hieß dein Mitbewohner nicht Valentin Herzog?“
„Er hat sich unter diesem Namen vorgestellt“, erwiderte Elena tonlos. Sie nahm den Reisepass, öffnete ihn und ließ ihren Blick zwischen diesem und dem Personalausweis wandern. Dann lachte sie freudlos. „Offenbar hieß er nicht so. Denn das hier ist eindeutig das Passbild, das er auf seinem neuen Personalausweis verwendet hat. - Warte kurz, ich habe die Kopie noch, glaube ich. Ich musste mal etwas von ihm abholen, das ging nur mit Vollmacht und Ausweiskopie.“
Eine Minute später war sie wieder da und ließ wortlos das zusammengefaltete Blatt Papier zu den anderen beiden Dokumenten fallen. Javi griff danach und öffnete es - um das gleiche Bild wie auf dem Ausweis von Kristian zu erblicken.
Fassungslos hob er seinen Blick und starrte Elena an. „Wer zum Teufel war dein Mitbewohner?“
Was für eine Entwicklung. Dabei hatte er nur seinen Stift holen wollen.