Stichwort „Abend“
„Bist du dir sicher, dass das da eine gute Idee ist?“ Levin deutete mit leidender Miene auf den senfgelben Sessel, den sich Valentin im Möbelhaus ausgesucht hatte und der das neue Herzstück des Wohnzimmers bildete, zusammen mit einem beigen Sofa. Sie hatten den gesamten Tag im Möbelhaus verbracht und jetzt, um kurz nach neun, standen die gekauften Möbel endlich in den jeweiligen Räumen.
„Senfgelb ist eine schöne Farbe.“
„Ansichtssache“, murmelte Levin, aber er seufzte geschlagen. „Gut, es ist dein Wohnzimmer und nicht meins. Außerdem gefällt mir dieser Sessel besser als die Leere, die vorher in diesem Raum herrschte. Auch wenn eine andere Farbe für meine Augen deutlich angenehmer wäre.“
„Es ist nicht dein Wohnzimmer.“ Valentin grinste kurz, bevor er sich seinem neuen Sessel zuwandte. Er war wuchtig, breit und damit perfekt für ihn.
„Immerhin richtest du dir jetzt deine Wohnung ein. Was eine enorme Steigerung zu den letzten Monaten ist.“
„Du kommst jede Woche vorbei und drängst mich, mich hier häuslich einzurichten. Irgendwann gebe sogar ich nach.“ Außerdem fühlte sich Valentin hier wohl. Bei Jens in der Bar und seiner kleinen Wohnung, die ihm Jens vermietete. Sogar noch wohler, als er es bei Elena getan hatte.
„Jetzt, da du in unserer Nähe wohnst, können wir dir auch schneller zu Hilfe eilen, falls etwas sein sollte. Dein Zweittelefon trägst du noch immer bei dir?“
Wortlos zog Valentin das alte Handy aus der versteckten Tasche an seinem Hosenbund und Levin nickte zufrieden.
„Nur zur Sicherheit. Es ist unwahrscheinlich, dass dich hier jemals irgendjemand finden, wenn du dich bei niemandem meldest.“
Valentin rollte mit den Augen. Genau das hatte ihm Levin bereits eingeschärft, als Valerie noch gelebt hatte. Und sie war trotzdem gestorben. Aber er wusste, wie sehr Levin das mitgenommen hatte, deshalb sprach er seinen Gedankengang nicht aus. Levin war mit Leib und Seele das, was er nun einmal war: ein Beschützer. Niemand hatte Valeries Tod vorausahnen können – es war ein Unfall gewesen. Ein dummer, vermeidbarer Unfall. Trotzdem hatte Levin in seiner Funktion versagt und Valentin wusste besser als jeder andere, wie sehr es diesen noch immer beschäftigte.
„Du hast doch zu niemandem Kontakt, oder?“
Valentin seufzte, als er den Argwohn in Levins Stimme hörte. „Nein, habe ich nicht. Nicht, seit …“ Er brach ab, als ihm etwas bewusst wurde. Denn er hatte durchaus Kontakt zu Leuten, abgesehen von Levin.
Dieser bemerkte sein Stocken und stöhnte. „Bitte Valentin. Nicht schon wieder. Eine neue Freundin ist das letzte, was du gebrauchen kannst. Du kannst dich mit Sex ablenken, so viel du willst – aber wir können nicht noch jemanden in diese Sache mit hineinziehen.“
„Sex? Glaub mir, der ist mir momentan so was von egal“, sagte Valentin abschätzig. „Nein, Elena hat mich angerufen. Meine alte Mitbewohnerin, erinnerst du dich?“
„Elena … Russin, Tänzerin und blond? Ja, ich erinnere mich. Hast du mit ihr was am Laufen? Oder willst es haben?“
„Kannst du deine Gedanken einmal von Beziehungen und Sex lösen? Es ging um etwas vollkommen anderes … Aber flippe bitte nicht aus. Vorher sage ich gar nichts.“
„Du weißt, dass diese Bitte alles andere als beruhigend für mich ist?“ Levin schwankte zwischen Neugier und Vorahnung, das erkannte Valentin anhand des Tonfalls.
Er atmete tief durch, dann beschloss er, die Katze aus dem Sack zu lassen. „Elenas neuer Mitbewohner hat meine falsche Identität gefunden. Die, die ich nach deinen Tipps unten am Bettkasten befestigt hatte? Sie ist nicht mehr so geheim, wie sie sein sollte.“
Schlagartig verlor Levins Gesicht an Farbe und er ließ sich auf den verhassten, senfgelben Sessel sinken. „Du … Du hast sie dort gelassen? Deine Papiere?“
„Ich habe sie vergessen. Nach dem Päckchen musste ich schnell aufbrechen, wie du weißt. Und ja, ich habe die Papiere vergessen und bisher keine Gelegenheit gehabt, sie zurückzuholen. – Keine Angst, Elena vertraut mir und ich ihr. Sie wird die Angelegenheit auf sich beruhen lassen.“
Levin lachte tonlos. „Ja, wird sie das? Gut, sie vielleicht schon, denn sie kennt dich. Aber weißt du, wer ihr neuer Mitbewohner ist?“
Valentin schüttelte den Kopf, während ihn eine dunkle Vorahnung beschlich.
Als Levin ihn anblickte und sein Gesicht sah, zuckte er mit den Schultern. „Er ist vollkommen unauffällig. Ja, wir haben ihn bereits geprüft, weil Elena ebenfalls unter unserem Schutz steht. Nur weiß sie nichts davon. Ihr neuer Mitbewohner hat eine blütenreine Weste. Und sein Bruder auch, er arbeitet bei der Staatsanwaltschaft. Und jetzt rate, welche Akte vor einigen Wochen aufgerufen wurde? Unsere Techniker konnten sie gerade noch verschließen, bevor alles ans Licht gekommen wäre.“
Nun waren auch Valentins Knie weich und er ließ sich auf das äußerst gemütliche Sofa sinken. „Sein Bruder ist Staatsanwalt? Und warum hat er Zugriff auf meine Akte?“
„Das ist es ja, er hat es eigentlich nicht. Offenbar ist der Staatsanwalt nicht nur mit Gesetzen, sondern auch mit Computern und vor allem mit kleinen, nicht ganz legalen Hintertürchen aus. Unsere Techniker sind nur noch besser.“
„Was passiert jetzt mit dem Staatsanwalt?“ Valentin wollte nicht, dass weitere Personen zu Schaden kamen. Ein Staatsanwalt stand auf der richtigen Seite des Gesetzes, das stand fest. Sich in Akten einzulesen, gehörte zu ihrem Job und Valentin wollte auf keinen Fall der Grund für das Karriere-Aus eines Staatsanwalts sein.
„Nichts. Offiziell hatte er keinen Zugriff, also weiß er offiziell auch nichts von der verschlossenen Akte. Sozusagen eine Patt-Situation, aber wir können damit leben. Seitdem hat er auch nicht wieder versucht, in diese Akte zu kommen, und wir wissen auch nicht, ob er seinen Bruder informiert hat. Selbst wenn, kann es nur zum Vorteil für dich sein, denn die Techniker haben unser Siegel hinterlassen. Er ist darüber im Bilde, von wem die Akte versiegelt wurde.“
Valentin nickte langsam. „Und was ist mit meinen Papieren?“
Levin lächelte humorlos. „Ich werde Elena einen Besuch abstatten, an einem Abend in den nächsten Wochen, wenn ihr Mitbewohner nicht da ist. Du weißt, ich kann sehr überzeugend sein.“