Stichwort „Dekoration“
Elena starrte auf ihr Smartphone, bevor sie es mit einem Kopfschütteln zur Seite legte. Javi hatte ihr empfohlen, Valentin anzurufen. Aber mittlerweile hatte sich ihr Schlafrhythmus wieder normalisiert und sie entsprechend Bammel, dass dem nach einem Gespräch mit Valentin nicht mehr der Fall wäre. Es war schrecklich gewesen, mehrere Wochen lang mit dem Schlaf zu kämpfen. Selbst auf der Arbeit hatten sie es gemerkt.
Kasia war diejenige gewesen, die ihr schweigend ein ominöses Fläschchen überreicht hatte, das sich als Baldriantropfen entpuppte. „Für deine Probleme. In meinem ersten Jahr konnte ich ohne diese Flasche keine Bühne betreten“, hatte sie gesagt und ihr zugelächelt. Den Funken Mitleid hatte Elena erkennen können, doch sie verstand die Geste.
Die Tropfen hatten etwas geholfen. Es war nicht perfekt gewesen anfangs, doch sie hegte die Vermutung, dass ihr Körper später einfach entschieden hatte, die Gedankengänge ruhen zu lassen, um sich erholen zu können. Und jetzt wusste sie nicht mehr, was genau sie tun sollte. Valentins momentanes Leben interessierte sie, aus rein freundschaftlichen Gründen. Er war überhastet von hier aufgebrochen, sodass sie nie einen richtigen Abschied feiern konnten. Vielleicht würden ihr ein paar Gespräche mit ihm seinen Fortgang vermitteln, indem sie über sein neues Leben informiert war. Es war zumindest eine Möglichkeit.
Javi hatte nie gefragt, ob sie seinen Rat mit dem Anruf befolgt hatte, und sie war froh darüber. Sie wollte ihn nicht anlügen – aber sich einzugestehen, nicht den Mumm gehabt zu haben, diesen Anruf durchzuziehen, war nicht einfach. Eigentlich war das eine Sache, die noch immer an ihr nagte und die ebenfalls ein Grund war, warum sie nach wie vor mit dem Gedanken spielte, diesen Anruf durchzuziehen.
Sie seufzte. Es war alles andere als einfach. Valentin, der unkomplizierte Mitbewohner, hatte sich als viel komplizierter herausgestellt als alle anderen vor ihm. Nicht, dass es davon viele gab, aber für einen dermaßen umgänglichen Mann hatte er ein großes Päckchen mit sich herumzutragen. Vielleicht war er auch deshalb so pflegeleicht, eben weil er selbst mit sich zu kämpfen hatte und deshalb Stress mit anderen lieber aus dem Weg ging.
Die ersten Töne von Schostakowitschs Walzer Nr. 2 ertönten. Elena zuckte zusammen, ehe sie zu ihrem Smartphone griff und auf den Bildschirm blickte. Als sie den Namen erblickte, nahm sie erleichtert den Anruf an.
„Elena, du musst mir helfen!“ Das war eine panisch klingende Alex. Sofort war Elena alarmiert, keine Spur mehr von der Erleichterung.
„Alex, was ist los? Ist irgendetwas passiert?“
„So kann man das sagen … Du kennst doch die Dekoration im Theater, direkt vor der großen Treppe?“
„Ja“, antwortete Elena mit einer dumpfen Vorahnung.
„Nun, vielleicht bin ich … Habe ich das Gleichgewicht verloren und nun … Die Dekoration ist etwas umdekoriert worden?“
„Sag mir bitte, dass die Statuen alle unversehrt sind.“ Elena schloss die Augen. Die Statuen waren nicht besonders groß, aber äußerst leicht zu zerstören durch ihre Körperhaltung. Es waren mehrere Balletttänzer, entsprechend ausgearbeitet waren die Beine, Arme und Hände.
„Was? – Ja, denen geht es gut. Aber den Blumen nicht! Elena, du hast doch einen grünen Daumen, wenn ich Javi richtig verstanden habe, du kannst da bestimmt etwas machen, dass sie nicht mehr … Naja, nicht mehr so aussehen wie jetzt!“ Alex klang vollkommen verzweifelt.
„Alex, wenn die Blumen zerdrückt worden sind, wird ihnen nur ein Wunder helfen können. Alles andere lässt sich hindrapieren.“
„Elena, ich flehe dich an, bitte komm. Ich bin vollkommen aufgeschmissen, wenn das jemand mitbekommt. Ich weiß, du hast heute deinen freien Tag – aber ich lade dich auch zum Abendessen ein als Dankeschön!“
„Okay“, seufzte Elena. Sie hatte ohnehin nichts gekauft, eine Einladung kam ihr also gerade recht. Und vielleicht entpuppten sich die angeblich zerstörten Pflanzen tatsächlich nur als etwas mitgenommen. Bei Alex‘ nicht vorhandenen Kenntnissen bezüglich der pflanzlichen Biologie war das durchaus möglich.
„ – und das war es bereits.“ Elena bog vorsichtig das letzte Blatt des mitgenommenen Gummibaums zurecht, sodass man den kleinen Riss im Blatt nicht mehr sah. Vielleicht würde das Blatt in dieser Position bleiben.
„Du bist meine persönliche Heldin“, murmelte Alex und fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht.
„Stolper das nächste Mal einfach die Treppe hoch, nicht in die Dekoration hinein. Warum bist du überhaupt gestolpert?“ Zu ihrer Überraschung lief Alex feuerrot an und wich ihrem Blick aus.
Elena hob die Hände. „Oder ich will es gar nicht wissen, verstanden.“
„Nein, so ist das nicht! Ich … hab mit Javi telefoniert und irgendwie war meine Aufmerksamkeit nicht mehr auf meine Umgebung gerichtet.“
„Ich will gar nicht mehr wissen! Was du mit Javi beredest, ist deine Angelegenheit!“
„Nein. Ich glaube, deine Gedanken sind gerade in eine vollkommen falsche Richtung abgedriftet. Ich mache Urlaub in Spanien und wer kann mir bessere Tipps geben als Javi? Nebenbei habe ich mir Notizen gemacht, das war das Problem.“
Elena grinste diabolisch. „Wie? Du, die uns immer ermahnt, ja nichts während dem Gehen zu tun, was unsere Aufmerksamkeit fesselt, tut genau das? Obwohl uns immer gesagt wird, auf den Weg vor uns zu achten, damit wir nicht stolpern und etwas in Mitleidenschaft ziehen? Ausgerechnet du zerstörst die Dekoration?“
„Elena! Die Dekoration ist nicht zerstört, wie du siehst! Und das Essen gibt es nur, wenn du nichts davon weitererzählst, vor allem nicht Kasia! Sie wird mich das nie vergessen lassen!“
Elena überlegte kurz. „Ein Essen und zwei Drinks danach.“
„Einverstanden. Und kein Sterbenswort über diesen Vorfall.“ Alex streckte ihre Hand aus und Elena schlug ein.