Stichwort „Fest"
Javi stieß mit dem Fuß die Tür zum Büro auf und summte vergnügt. Jonas, der Auszubildende, den Javi seit seiner entdeckten Recherchefähigkeiten mehr wertschätzte, blickte ihn fragend an.
„Warum so gut gelaunt?“
Javi grinste. „Es ist Herbst.“
„Das ist mir durchaus bewusst – es ist schweinekalt draußen und gefühlt regnet es stündlich für ein paar Minuten. Einfach widerlich. Ich hasse nasskaltes Wetter, es ist jedes Mal so deprimierend.“
Javi schüttelte den Kopf. „Nein, du verstehst nicht. Es ist Herbst, das bedeutet, das Erntedankfest steht bevor.“
„Erntedank? Das wird noch gefeiert?“ Jonas blickte überrascht drein, dann zuckte er mit den Schultern. „Ich bin nicht wirklich religiös, habe also keine Ahnung. Vielleicht haben wir das mal in der Schule besprochen, aber mein Wissen ist sehr begrenzt.“
Javi nickte. „Wie so ziemlich überall. Meine Familie in Spanien legt großen Wert auf das Fest – wir sind seit etlichen Generationen Landwirte, weißt du? Und dort wird Erntedank richtig groß gefeiert in der Kirchengemeinde. Jeder Landwirt bringt etwas von seiner Ernte mit und das wird auf dem Altar ausgebreitet. Weißt du, meine Eltern sind zwar nach Deutschland gezogen, aber mein Onkel wird den Hof unserer Großeltern weiterführen. Er ist bereits dabei, er und mein Großvater teilen sich im Moment die Aufgaben.“
„Meine Eltern sind in der Industrie. Mein Vater in einer Produktionshalle, meine Mutter im Büro des gleichen Betriebs. So haben sie sich auch kennengelernt. Da ist ein Erntedankfest nur ein weiterer Gottestdienst, zu dem man nicht geht.“
„Gut, da hat man wenig mit Ernte zu tun, das stimmt. Aber der Herbst ist farblich gesehen auch wundervoll, ganz ohne Erntebezug. Die sich verfärbenden Blätter, Drachensteigen, die allgemein einkehrende Ruhe, weil es kühler wird …“
Jonas blickte ihn nur skeptisch an. „Die Blätter sterben, deshalb verfärben sie sich. Der Wind ist kalt und die Ruhe ist keine Ruhe, sondern Müdigkeit wegen der kürzer werdenden Tage.“
„Ich sehe, du siehst den Herbst nicht als romantisch an.“
„Natürlich nicht! Alles stirbt, es ist nass, kalt und dunkel. Und im Winter wird es noch schlimmer.“
Javi fing an zu lachen, während er seinen Computer herunterfuhr. Jonas hatte ihm die letzten beiden Stunden mal wieder mit seinem Wissen weitergeholfen. Der Auftraggeber mit der Burg war so begeistert gewesen, dass er direkt einen neuen Auftrag erteilt hatte, für die Tochtergesellschaft. Zum Glück ohne Burg, aber auch mit dem alten Fabrikgebäude hatte Javi seine Schwierigkeiten gehabt. Jonas hingegen hatte innerhalb von einer halben Stunde ein Konzept entworfen, das Javi überzeugte. Weshalb er überhaupt erst hier saß und mit ihm über den Herbst sinnierte, denn die Farbgestaltung der Webseite in Ocker, dunklem Orange und Beige hatten ihn an diese Jahreszeit erinnert. Zusätzlich war das Wetter in den letzten Tagen auf den Herbst umgeschwenkt, weshalb Javi auch mit einem dicken Pullover im Büro saß, in dem noch die Klimaanlage lief.
Jonas hingegen hatte nach wie vor ein T-Shirt an und sah nicht im Mindesten beeindruckt durch die Temperaturen aus. Genau deshalb amüsierte es Javi, dass er trotz Frierens den Herbst bevorzugte, Jonas offenbar andere Jahreszeiten.
„Du bist wohl eher der Frühlingsmensch, Jonas?“ Johannes hatte ihren kleinen Austausch mitbekommen und zwinkerte dem Auszubildenden zu, der mehrmals nickte.
„Ja. Alles blüht, es wird wärmer und bleibt länger hell …“
„Die Pollen fliegen und Allergiker wissen nicht mehr, von wo sie noch Papiertaschentücher herbekommen sollen, während die Augen tränen, die Nase läuft und der Hals kratzt.“ Bei Johannes‘ Aussage lachte Javi auf, denn Johannes kannte dieses Problem aus persönlicher Erfahrung.
Jonas verzog das Gesicht. „Hat man nicht fast das ganze Jahr über Probleme, wenn man Allergiker ist?“
„Kommt drauf an, auf was man reagiert. Ich sterbe zum Glück gefühlt nur im Frühling, alle anderen Jahreszeiten sind in Ordnung. Also bin ich trotz der kalten Temperaturen eher ein Herbst-Winter-Fan, einfach weil dort nichts fliegt, um das ich mir Sorgen machen muss. – Aber das Erntedankfest ist tatsächlich schön, allein aufgrund der Gabentische in den Kirchen. Wenn du Interesse daran hast, solltest du in die örtliche Kirche gehen, Jonas. Dort ist der Gabentisch nicht nur mit Gemüse bestückt, sondern auch mit örtlichen Industrieprodukten.“
„Also Computern, Autoreifen und Keramik?“ In Jonas‘ Tonfall hörte man die Skepsis ohne Probleme.
„Vielleicht. Wenn du hingehst, wirst du es selbst sehen“, antwortete Johannes mit einem Augenzwinkern und Jonas stöhnte.
„Warum weiß hier jeder, wie neugierig ich bin?“
Javi und Johannes blickten sich nur vielsagend an, bevor Javi etwas Wichtiges einfiel. „Jonas, hättest du nicht noch etwas machen müssen? Hakan hat etwas in der Richtung verlauten lassen.“
Jonas wurde blass. „Fuck! Eh, sorry. Aber das habe ich vollkommen vergessen – ich muss leider los. Bis dann!“ Und schon war er aus dem Büro verschwunden. Kaum als die Tür hinter ihm zufiel, konnte Johannes nicht mehr an sich halten und brach in lautes Gelächter aus.
„Weißt du“, sagte er und japste nach Luft. „Irgendwie … ist er putzig. So … unbedarft und schusselig.“
Javi prustete los. „Ja. Aber seine Recherchefähigkeiten sind beeindruckend. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich diese Webseite nicht heute fertig bekommen. Und ich denke, der Kunde wird abermals zufrieden sein.“
„Ich bin nach wie vor fasziniert, wie jemand mit dieser Schusseligkeit so gut in einem anderen Bereich sein kann.“
„Nicht nur du, nicht nur du.“