Stichwort „Sternstunde“
Valentin drückte mit der Schulter die Wohnungstür auf, lief mit den beiden Einkaufstüten in den Armen durch und kickte sie hinter sich wieder zu.
Mit einem Seufzen stellte er die Tüten auf dem Küchentresen ab, denn abgesehen von der kleinen Küchenzeile war der Raum leer. Das Wohnzimmer bestand aus einem alten Sofa und einem Fernsehtisch, auf dem kein Fernseher stand. Sein Schlafzimmer beinhaltete eine Matratze und ein paar Kleiderstangen, die er nach seinem Einzug dort montiert hatte.
Er war es gewohnt, spartanisch zu leben, auch wenn das hier extreme Züge angenommen hatte. Eigentlich verdiente er durch seinen Job hinter der Bar genug, um sich ein paar preisgünstige Möbel leisten zu können.
Doch er konnte sich nicht überwinden, das zu tun. Möbelkauf würde bedeuten, sich hier länger niederzulassen. Nach wie vor war er nicht sicher, wie lange dieses „länger“ andauern würde. Wenn es sich so verhielt wie seine Wohnzeit bei Elena, war es eine zu kurze Zeitspanne, um große Investitionen zu tätigen.
Andererseits konnte er nicht ewig davonlaufen. Irgendwann musste er sich stellen, ganz egal, wie es auch ausgehen mochte. Denn langsam war er müde. Müde vor dem Verstecken, der ständigen Vorsicht und der Nervosität, wann immer er seine Wohnung verließ. Vielleicht hatte sie sogar aufgegeben, auch wenn er das angesichts ihrer Hartnäckigkeit nicht glaubte. Doch Wunder konnten geschehen, das war ihm bewusst.
Valerie hatte immer an Wunder geglaubt und diese Einstellung hatte er übernommen. Auch wenn er, als er auf ein Wunder gehofft hatte, bitter enttäuscht worden war. Andererseits konnte er die gemeinsame Zeit mit Valerie nicht anders bezeichnen als ein Wunder, denn das war es gewesen.
Nach wie vor war er froh über seine Entscheidung in dieser Sternstunde. Damals, als er Valerie erst wenige Wochen kannte, unter einem anderen Namen. An diesem einen Abend hatte sie ihm alles gebeichtet und ihn vor die Wahl gestellt, weil sie gefunden worden war: Entweder er kam mit ihr oder er würde sie nie wieder sehen. Das war nicht ohne Tränen geschehen, sowohl von seiner als auch von Valeries Seite aus. Wenn Levin nicht gewesen und ihn aus seinem Schock gerissen hätte, hätte er sich vielleicht anders entschieden. Auch deshalb war er Levin nach wie vor dankbar und würde es immer bleiben.
Valeries Beschützer, denn das war Levin und ab diesem Tag auch der seine, hatte ihm damals angeboten, ein paar Beziehungen spielen zu lassen. Damit er mit Valerie mitgehen konnte, auch wenn es Konsequenzen geben würde.
Valentin hatte um eine Woche Bedenkzeit gebeten, Levin hatte ihm zwei Tage gewährt. Und am Ende dieser 48 Stunden stand seine Entscheidung fest. Ein Anruf bei Levin und wenige Stunden später war er in einem Auto gesessen, neue Papiere für einen „Kristian Staab“ in der Hand. Der Ehemann von Valerie Staab, auch wenn sie nie geheiratet hatten.
Er begann, seine Einkäufe in den Kühlschrank zu räumen, damit dieser wieder Lebensmittel zum Kühlen hatte. Da die Bar auch einfache Mahlzeiten anbot und man pro Schicht eine zugestanden bekam, war sein Lebensmittelkonsum zurückgegangen. Ganz zu schweigen davon verrutschte auch mal eine Bestellung oder wurde einmal zu viel ausgeliefert, diese Reste landeten dann hinter der Theke und standen der Belegschaft zur freien Verfügung.
Die Türklingel erklang und Valentin erstarrte. Niemand wusste, wo er wohnte, und Jens schlief um diese Zeit noch, hatte er gelernt.
Das schrille Klingeln tönte erneut durch seine kleine Wohnung und Valentin riss sich aus seiner Bewegungslosigkeit. Vorsichtig schloss er die Tür des Kühlschranks und schlicht zur Wohnungstür. Leider hatte er keinen Türspion, wobei er diesen vermutlich nicht benutzt hätte. Jeder wusste, dass der Bewohner der jeweiligen Wohnung oder des Hauses immer durch den Spion schaute, bevor sie die Tür öffnete. Also stand sie genau hinter der Tür und die meisten billigen Eingangstüren hielten keine Schüsse ab. Man war die perfekte Zielscheibe, wenn man den Türspion benutzte.
Beim dritten Klingeln war er neben der Tür angelangt und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, während er überlegte.
„Valentin, mach die Tür auf.“
Sofort entspannte sich Valentin und er öffnete die Tür, um Levin begrüßend zuzunicken. Dieser wartete nicht ab, sondern trat direkt in die Wohnung ein und blickte sich prüfend um.
„Ein wenig kahl, findest du nicht?“
Valentin zuckte mit den Schultern. „Es ist ausreichend.“
Ein Seufzen ertönte. „Ich habe es dir damals auf der Beerdigung gesagt. Du musst die Vergangenheit ruhen lassen und wieder anfangen, ein Leben zu führen. Valerie hätte es so gewollt, das weißt du.“
„Erzähl das ihr. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich erneut findet. Sei es per Post oder erneut durch ein Päckchen.“ Valentin verschränkte die Arme und sah zufrieden, wie Levin die Augen von ihm abwandte.
„Es hätte nicht geschehen sollen. Wir sind noch einmal alles durchgegangen, du solltest nun wirklich unauffindbar sein. Sämtliche Spuren wurden gelöscht, auch alle Verbindungen zu Valerie. Nach wie vor steht das Angebot, dir eine neue Id…“
„Nein.“ Valentins Stimme war nicht harsch, aber bestimmt, als er Levin unterbrach. „Valentin ist mein Geburtsname. Ich werde keine neue Identität annehmen, eine hat mir gereicht. Und bei Valerie hat es nicht viel gebracht, warum sollte es bei mir anders sein? – Habt ihr das Päckchen mittlerweile zurückverfolgen können?“
Levins Gesichtsausdruck sagte alles. „Das Paket wurde bar bezahlt und die Filiale hatte keine Videoüberwachung. Aber wir überprüfen sämtliche Post, die an dich adressiert ist und der Postbote ist einer unserer Leute. Sei also nett zu ihm. Und du solltest dich hier wirklich niederlassen. Jens ist ein Guter und seine Bar läuft super, wie du selbst bemerkt haben solltest. Du kannst ihm vertrauen.“
Valentin nickte stumm. Offenbar war dieses Gespräch hier die Einleitung zu einer weiteren Sternstunde in seinem Leben. Doch auch diese Entscheidung würde er überlegen und dieses Mal hatte er keinen Zeitdruck.