Stichwort „Das Spiel ist aus"
Sie starrte aus dem Zugfenster und hing ihren Gedanken nach. Er hatte es dieses Mal besser geschafft, seine Spuren zu verwischen. Aber genau wie beim letzten Mal hatte sie ihn wieder gefunden, auch wenn es ein paar Monate gedauert hatte. Doch ihre Ausbildung im technischen Bereich, spezialisiert auf Datenanalysen, half ihr in dieser Verfolgungsjagd weiter. Es war nicht schwer gewesen, das Netz nach digitalen Spuren von ihm zu durchforsten, nachdem sie der Reihe nach die einzelnen Regionen in Deutschland durchgegangen war. Zu ihrem Glück hatte er sich in einer niedergelassen, die im Alphabet weit vorne stand, so wurde einiges an Zeit gespart.
Vielleicht schaffte sie es dieses Mal, ihn zu konfrontieren, bevor er wieder spurlos verschwand. Wie auch immer er das anstellte, es funktionierte. Zu gut für jemanden, der keine Hilfe hatte. Was einer der Gründe war, warum sie ihn zur Rede stellen musste. Wer bekam als Mörder schon Schutz und Unterstützung? Außer er war bei einer größeren Organisation tätig, was die Sache nicht besser machte. Ihre Schwester war von ihm begeistert gewesen, hatte in ihren seltenen Anrufen sogar eine mögliche Hochzeit angedeutet. Valerie war bis über beide Ohren verliebt und das hatte sie das Leben gekostet. Und sie ihre Zwillingsschwester.
Cornelia blinzelte die Tränen weg, die ihr bei dem Gedanken an ihre zweite Hälfte in die Augen traten. Valeries Tod hatte sie gespürt, so seltsam das klingen mochte. Sie hatte zu Hause auf der Couch gesessen und auf einmal war da dieses Gefühl gewesen, das sie nach wie vor nicht beschreiben konnte. Nur war es das Schlimmste, was sie je verspürt hatte.
„Valerie ist tot.“ Mit diesem einen, bestimmten Satz hatte sie ihre Familie in die Schockstarre getrieben, in der sie sich seither befand. Nur machte niemand Valeries mysteriösen Freund, den keiner kennengelernt hatte, verantwortlich. Außer ihr. Sie wusste, er hatte mit ihrem Tod zu tun. Autounfälle passierten, aber Valerie war zu vorsichtig, um einfach so auf die Straße zu laufen. Er musste sie auf die Fahrbahn gestoßen haben, weil ... Hier hörten ihre Gedankengänge auf und aus diesem Grund musste sie diesen Valentin finden, der sich damals als Kristian ausgegeben hatte. Allein das war Anlass genug, um misstrauisch zu werden. Er musste ihre Schwester vor das Auto befördert haben, um irgendetwas zu vertuschen. Es gab keine andere Erklärung. Valerie konnte nicht einfach so gestorben sein, es musste einen Grund geben. Und sie würde diesen herausfinden, koste es, was es wolle.
Also hatte sie sich einmal mehr auf den Weg gemacht, um Valentin zu finden. Das letzte Mal war sie unvorsichtig gewesen und hatte ihn durch ein Päckchen vorgewarnt. In welchem das blutverschmierte Oberteil ihrer Schwester gewesen war, das diese bei ihrem Tod getragen hatte. Sie war eine Woche später vor der Wohnung gestanden, doch die Mitbewohnerin hatte ihr nur sagen können, dass Valentin spontan ausgezogen war. Einen Tag vor ihrer Ankunft. Das hatte sie gelehrt, sich nicht mehr anzukündigen.
Der Zug hielt und sie warf einen Blick auf die digitale Informationstafel, durch die gerade der Bahnhofsname lief. Eilig stand sie auf und ging in Richtung der Türen. Das hier war ihr Ziel. Der Ort, an dem sich der Mörder von Valrie aufhielt und weiterhin ein unbeschwertes Leben hatte. Doch das würde sie ihm nehmen, das hatte sie sich geschworen. Egal wie, sie würde ihn für ihre Schwester büßen lassen. Es war ihr egal, ob Valerie das gewollt hätte oder nicht, sie wollte es. Er hatte ihr ihre zweite Hälfte genommen, seit Valeries Tod fühlte sie sich unvollständig. Als ob ein großer, wichtiger Teil von ihr fehlte und niemals zurückkam. Was der Wahrheit entsprach, denn Tote konnten nicht wiederauferstehen. Leider. Sie hätte dafür sogar die Hälfte ihres Lebens geopfert, nur um Valerie wieder bei sich zu haben. Ihre sanftmütige, liebenswerte Schwester, die nur drei Minuten nach ihr geboren worden war und trotzdem einen Beschützerinstinkt ausgelöst hatte.
Mit einem letzten Durchatmen schulterte Cornelia ihren Rucksack und trat auf den Bahnsteig. „Das Spiel ist aus“, murmelte sie zu sich, aber in Hinblick auf den Menschen, wegen dem sie überhaupt hier war. Sie würde nicht eher aufgeben, ehe der Tod ihrer Schwester gerächt worden war. Das hatte sie sich an ihrem Grab geschworen – zur Beerdigung war er natürlich nicht erschienen, trotz eindrücklicher Einladung – und sie würde das durchziehen. Ihre Eltern mochten dem Gerede über den unglücklichen Unfall Glauben geschenkt haben, aber sie wusste es besser. Und sie würde sich rächen für all das Leid, das er ihrer Familie angetan hatte.