Stichwort „Morgen“
Elena fuhr sich mit der Hand erschöpft über die Stirn. Das war die zweite Nacht, in der sie kaum geschlafen hatte und so langsam machte sich der Schlafmangel bemerkbar. Ihr fielen bei Unterhaltungen die einfachsten Worte nicht ein, sie hörte inmitten ihrer Tätigkeiten auf und starrte ins Leere. Sogar im Theater war ihre geistige Abwesenheit aufgefallen, von ihrer grauen Haut und den dunklen Ringen unter ihren Augen ganz zu schweigen.
Sie beneidete Javi, dem die Enthüllungen von Levin nichts auszumachen schienen, zumindest nicht in Bezug auf seinen Schlaf. Jedenfalls hatte sie ihn nachts noch nicht gehört, während sie in ihrem Bett gelegen und an die Decke gestarrt hatte.
Oder es lag einfach daran, dass Javi Valentin nicht gekannt hatte. Nicht so wie sie. Zwar wusste Javi jetzt ebenso viel über Valentins Vergangenheit wie sie, aber im Gegensatz zu ihr ging er nicht jede Aussage durch, die Valentin jemals getätigt hatte. Um sie in den Zusammenhang mit seiner Vergangenheit und den Erlebnissen mit Valerie zu setzen. Etwas, das sie die letzten beiden Nächte getan hatte, weil ihr immer mehr Gespräche einfielen, die sie glaubte, vergessen zu haben. Insbesondere seine ausweichenden Antworten, wann immer das Thema die vergangenen Beziehungen waren, fielen ihr wieder ein. Zusammen mit seiner verkrampften Körperhaltung, die sie damals für Einbildung gehalten hatte, während sie jetzt wusste, dass Valentin damals mit Valeries Verlust gekämpft hatte.
Elena lief zur Kaffeemaschine und ließ sich den fünften Kaffee für diesen Tag von dieser zubereiten. Sie war nur froh, heute einen freien Tag zu haben. So konnte sie sich in ihrer Wohnung verkriechen, vielleicht einen Kuchen zur Beruhigung backen und vielleicht sogar etwas dösen. Leider gehörte sie zu den Personen, die trotz eines massiven Mangels an Schlaf tagsüber kein Auge zubrachten. Was für eine durchfeierte Nacht sehr stressig war und bei Nächten wie die letzten beiden grausam. Aber vielleicht konnte sie heute Nacht endlich wieder den ersehnten Schlaf finden und war morgen wieder fit?
„Das glaubst du doch selbst nicht“, murmelte sie für sich und seufzte. Sie hatte noch pflanzliche Einschlafhilfen in ihrem Zimmer, die sie vor ihrem ersten großen Auftritt benötigt hatte. Zwar wusste sie nicht sicher, ob diese auch in der jetzigen Situation halfen, aber einen Versuch war es wert.
Sie hörte die Wohnungstür aufgehen, begleitet von Javis vergnügtem Summen. Unwillkürlich lächelte sie, denn Javi kam fast immer auf diese Weise nach Hause. Das war Zeichen genug, wie viel Spaß ihm seine Arbeit machte und wie wohl er sich in seiner Abteilung fühlte. Sie hatte seine Arbeitskollegen bereits kennengelernt und konnte Javi verstehen, denn die anderen Männer waren äußerst sympathisch.
Javi stoppte in der Küchentür und blickte sie mit gerunzelter Stirn an. „Schläfst du momentan eigentlich? Du siehst noch blasser aus als gestern Morgen.“
Elena schnitt eine Grimasse. „Nicht wirklich. Ich hoffe, es legt sich wieder.“
„Es geht um Valentin, nicht wahr?“ Javi wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern redete direkt weiter. „Wenn es dich deinen Schlaf kostet, ist das schlecht. Ich weiß, Levin hat gesagt, wir sollen Valentin in Ruhe lassen, damit er sich von der Geschichte mit Valerie erholen kann. Aber vielleicht wäre es doch besser, wenn du ihn anrufst. Einfach, um dich zu überzeugen, ob Levin die Wahrheit gesagt hat. Du kannst mich ruhig misstrauisch nennen, aber es ist zu deinem eigenen Besten. Und wenn es dir zu Schlaf verhilft, ist es eine gute Lösung, finde ich.“
„Meinst du?“ Der Gedanke, Valentin einfach anzurufen, war Elena bereits mehrmals gekommen. Sie hatte sogar bereits den Kontakt ausgewählt, bevor sie sich umentschieden und das Handy zur Seite gelegt hatte. Levin war ihr vertrauenswürdig erschienen und sie hatte keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Nicht bei seinem Ausweis und der Geschichte, die er ihnen über Valentin und Valerie erzählt hatte. Und doch …
„Du denkst darüber nach, nicht wahr? Dann solltest du es auch tun. Ein Gedanke weniger, der dich beschäftigt und dir den Schlaf raubt.“
„Ich … vielleicht … Wenn es nicht besser wird, rufe ich ihn morgen an.“
Javi verschränkte die Arme. „Was soll sich denn heute noch ändern? Elena, du denkst seit Levins Besuch über nichts anderes mehr nach als Valentin. Weiß der Geier, was sich genau in deinem Kopf abspielt, aber es tut dir nicht gut. Und wenn du eine Möglichkeit hast, dem ein Ende zu bereiten, solltest du diese auch nutzen.“
Auf einmal war alles zu viel. Elena spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Das lag an ihrer Übermüdung, den Gedanken an Valentin, dessen traurige Vergangenheit und nicht zuletzt an Javis offensichtlicher Sorge um sie.
„Komm her.“ Javi breitete die Arme aus und Elena stellte ihre Kaffeetasse beiseite, um die wenigen Schritte auf Javi zuzugehen. Als sich seine Arme um sie schlossen, fühlte sie sich sofort ein Stück besser. Javis Umarmung war tröstend.
„Morgen“, murmelte sie dumpf in Javis Oberteil.
Er seufzte. „Okay, morgen.“