Stichwort „Luftschloss“
Das Wohnzimmer wirkte durch die neuen Möbel wohnlich. Wohnlicher, als Valentin es gewohnt war, weshalb diese Umstellung etwas Zeit benötigen würde. Das hieß aber nicht, dass ihm seine eingerichtete Wohnung nicht gefiel.
Er seufzte, während er sich in den senfgelben Sessel sinken ließ, den Levin verabscheute. Levin hatte recht gehabt, was die Wohnung und seinen Lebensstil betraf. Es war an der Zeit, die Trauer hinter sich zu lassen und wieder nach vorn zu blicken. Früher hatte er diese Phrase als abgedroschen abgetan, doch mittlerweile verstand er, was damit gemeint war. Und um wie viel schwieriger das war, als er immer angenommen hatte. Weil einen die Erinnerungen in den überraschendsten Momenten einholten, wenn man nicht auf sie vorbereitet war.
Es klopfte an der Wohnungstür und er stand auf, um zu dieser zu laufen. Mittlerweile erkannte er Jens an dem Hämmern an seiner Tür.
„Valentin, wir bräuchten ganz dringend deine Hilfe. Ich weiß, du hast eigentlich erst in zwei Stunden Dienst, aber der Getränkelieferant kam sehr knapp und Frank fällt dank einer Grippe mindestens eine Woche aus. Eigentlich hätte ich unseren neuen Werkstudenten angerufen – Adrian, ihn lernst du morgen kennen – aber er hat den ganzen Tag Vorlesung.“
„Kein Problem, gib mir einen Moment.“ Valentin zog sich Schuhe und eine Jacke an, denn mittlerweile war es erheblich kälter geworden. Das Jahresende rückte näher und im Norden waren die Temperaturen deutlich niedriger als im Süden, wie er festgestellt hatte. Merkwürdigerweise kam es ihm gar nicht so kalt vor, was durchaus an der trockenen Kälte liegen konnte. Das Nasskalte im Süden hatte ihn regelmäßig verzweifeln lassen und deshalb vermisste er dieses Wetter nicht.
„Es ist nicht viel, nur die bestellten Fässer Bier, ein paar Flaschen mit diversen Alkoholen und etliche Kisten Softdrinks. Oh, und Tonic Water. Weiß der Geier, was diese Leute an Gin Tonic so toll finden, aber er geht weg wie kaltes Bier. Noch besser, wenn ich ehrlich bin.“
„Das Getränk ist in Mode, warum auch immer. Du weißt, die Leute wollen immer mitreden können. In diesem Fall bedeutet das, regelmäßig diesen Drink zu konsumieren, egal wie er ihnen schmeckt. Und wenn es nur für die Social-Media-Seiten ist, auf denen man etliche Fotos damit posten kann.“
Jens schüttelte den Kopf. „Diese jungen Leute, ich verstehe sie nicht.“
„Ich auch nicht. Die, die ich kenne, hatten andere Sorgen als den neuesten Beitrag ihres Onlineprofils.“
Mittlerweile waren sie bei dem kleinen LKW angekommen, auf dessen heruntergefahrener Laderampe bereits die ersten Kästen Tonic Water standen.
„So wie du, nicht wahr? – Keine Sorge, Levin hat mir nichts erzählt. Nur weiß ich, was sein Job ungefähr beinhaltet und wie ihr euch kennengelernt habt. Wenn du Dreck am Stecken hättest, hätte er dich mir nicht empfohlen.“
Valentin, der mitten in der Bewegung erstarrt war, richtete sich mit einem vollen Getränkekasten wieder auf und warf Jens einen langen Blick zu.
Dieser hob entschuldigend die Hände. „Wenn du nicht darüber reden möchtest, ist das vollkommen in Ordnung. Nur merkt selbst ein Blinder, dass dir irgendetwas Schreckliches widerfahren ist. Glaub mir, als Barbesitzer und Barkeeper kann man Menschen gut genug lesen, um so etwas zu erkennen. Du bist verschlossen und lächelst kaum, das ist sogar manchen Studentinnen aufgefallen. Nur sehen sie das eher als Herausforderung, als kleine Warnung.“
Valentin schnaubte. „Menschen, die Desinteresse ignorieren, können mir sowieso gestohlen bleiben.“
Die beiden arbeiteten eine Weile schweigend weiter.
„Sie hieß Valerie“, sagte Valentin unvermittelt, ohne in seinen Bewegungen innezuhalten. Irgendwie war es einfacher, über sie zu sprechen, wenn er körperlich beschäftigt war. „Wir kannten uns nicht lange, bevor sie mir Levin und den Grund seiner Anwesenheit vorstellte. Eines kam zum anderen und wir blieben zusammen. Mit Levin als Wachhund. Doch es war eine wunderschöne Zeit. Wir stellen uns unsere gemeinsame Zukunft vor, irgendwo auf einer einsamen Insel, entfernt von allen Personen, die ihr schaden wollten. Sie war Kronzeugin, weißt du? Und diese Luftschlösser, die wir uns bauten, lenkte sie von ihrer ständigen Angst vor einem Attentat ab. Ebenso wie meine Anwesenheit, weshalb Levin mir überhaupt erst erlaubte, Valerie zu begleiten, während sie ständig unterwegs war. Um kein einfaches Ziel abzugeben. Ich weiß bis heute nicht, gegen wen sie aussagen sollte, aber es waren mächtige Personen. Mit viel Geld und noch mehr Gehilfen. Auch wenn der Unfall, der sie das Leben gekostet hat, nur ein Unfall gewesen war.“ Und er trug die Schuld daran, als ob er selbst am Steuer gesessen hätte. Ganz egal, wie sehr Levin ihm das auch auszureden versuchte, er wusste es. Als Valeries lebloser Körper auf dem Boden gelegen hatte, er wie betäubt nach ihr gegriffen und nur Blut gespürt hatte. Die nasse, rote Flüssigkeit, die er auch Tage danach auf seinen Händen gesehen und auf seiner Kleidung gefunden hatte. Bis er sie weggeworfen hatte, weil diese Flecken nie wieder ganz verschwanden. Nun, das Oberteil hatte er dank des Päckchens zurückbekommen.
„Scheiße“, murmelte Jens und klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. „Es klingt abgedroschen, aber ich verstehe dich. Meine Ex ist im Krankenhaus gestorben. Krebs, wie so oft. Deshalb hatte sie auch von mir getrennt. Aber es hat nichts an meinen Gefühlen und meiner Trauer geändert. Ich habe Jahre gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Und erst mit dieser Bar habe ich es tatsächlich überwunden.“
Valentin nickte stumm. Vielleicht verstand Jens ihn wirklich, nicht wie so viele andere, die nur Verständnis heuchelten. Er wollte kein Mitleid oder Beileidsbekundungen. Jens‘ Geste, begleitet von den ehrlichen Worten, hatte bereits jetzt viel mehr Wert für ihn als viele andere, leere Floskeln.