Stichwort „herzallerliebst“
Javi seufzte, als er die Haustür aufschloss. Der Besuch seiner Familie war ein absoluter Reinfall gewesen. Nicht, dass es irgendjemandes Schuld gewesen wäre. Die Hälfte seiner Familie war an der Grippe erkrankt und er hatte seinen Besuch vorzeitig beendet, weil er bemerkt hatte, wie anstrengend sein Besuch für sie gewesen war. Seine Mamá, die ebenfalls kränkelte, war zunächst niedergeschlagen gewesen. Aber nachdem er versichert hatte, einfach in zwei Wochen noch einmal vorbeizukommen, hatte sie erleichtert gewirkt. Natürlich, denn drei kranke Familienmitglieder zu umsorgen, während man selbst nicht fit war, war keine leichte Aufgabe. Vor allem nicht, wenn man dabei noch Besuch bekam.
Immerhin hatte er Proviant von ihr erhalten, für die „lange Zugfahrt“, wie sie es nannte. Die eine Stunde betrug. Aber manche Dinge änderten sich nie, ganz egal, wie alt man wurde. Und er wusste, Elena würde sich über die sechs Stücke Tarta de Santiago, einen spanischen Mandelkuchen, ebenso sehr freuen wie er. Und die Tarta seiner Mamá war die beste, die Javi in seinem Leben je gegessen hatte.
Javi summte leise das Lied, das er im Zug nonstop gehört hatte. Er die schloss die Wohnungstür auf und zog diese mit einem Seufzen hinter sich zu. Achtlos schlüpfte er aus seinen Schuhen, die Stofftasche mit der Tarta sorgfältig auf seinen Armen balancierend. Die Schuhe konnte er später aufräumen. Die Tarta sollte schnellstmöglich gekühlt werden, um länger haltbar zu sein.
Gerade als er die Plastikbox mit der Tarta aus der Tasche geholt und in den Kühlschrank gestellt hatte, räusperte sich jemand hinter ihm. Jemand, der eindeutig nicht Elena war, denn die Stimmlage war männlich.
Erschrocken wirbelte Javi herum und erblickte einen großen, breitschultrigen Mann mit hellblonden Haaren, der ihn prüfend musterte.
„Du bist also Javi Noguerra.“
Javi nickte stumm, während seine Augen hinter den Mann zur Wohnzimmertür glitten, in der Elena erschien und ihn beobachtete. Der Gesichtsausdruck, den sie zur Schau stellte, gefiel ihm überhaupt nicht. Irgendetwas war vorgefallen und er verwettete alle sechs Stücke der Tarta darauf, dass dieser Mann etwas damit zu tun hatte.
„Wer sind Sie?“, fragte er herausfordernd, während ihm das Herz bis zum Hals schlug.
Zu seiner Überraschung lächelte der Mann leicht. „Nicht leicht einzuschüchtern. – Ich bin Levin.“ Er zog eine Plastikkarte aus der Jackentasche und streckte sie Javi entgegen, der seine Bewegungen argwöhnisch beobachtete.
Javi las diese mit einem Stirnrunzeln, dann blickte er Levin erneut an. „Das Bundeskriminalamt?“ Ihm kam eine Idee und er schüttelte den Kopf. „Was auch immer Valentin oder Kristian getan hat, wir haben keine Ahnung davon.“
Levin lachte schallend. „Ihr habt nur seine gefälschten Papiere gefunden, nicht wahr? Und euch nichts dabei gedacht und auch keine Nachforschungen angestellt. Valentin war nicht besonders begeistert über eure Entdeckung, von mir ganz zu schweigen.“
„Ich habe sie gefunden. Ich, nicht Elena.“ Javi wusste selbst nicht, warum ihm genau diese Worte über die Lippen kamen. Doch er wollte Elena aus der Sache heraushalten, wenn es ging. Er konnte sich nicht unwissend stellen, immerhin waren die Pässe in seinem Zimmer gewesen.
„Du willst Elena also beschützen? Das ist wirklich herzallerliebst von dir, aber nicht nötig.“ Levin steckte seinen Ausweis wieder in die Tasche und klopfte sich auf die andere Jackentasche. „Die Papiere von Valentin habe ich bereits, Elena hat sie mir gegeben. Nach etwas Überzeugungsarbeit meinerseits.“
Javi wurde kalt. Überzeugungsarbeit? Er kannte diese Art des Überzeugens aus Berichten über andere Länder. Aber in Deutschland?
„Nicht so, wie du denkst.“ Elena trat rasch neben Levin und lächelte Javi an. Es war ein ehrliches Lächeln und Javi entspannte sich wieder etwas. „Er hat mir die Umstände in Bezug auf Valentin erklärt. Valentin ist einer von den Guten, um es zusammenzufassen. Das BKA beschützt ihn, die Pässe wurden von Levins Mitarbeitern ausgestellt.“
„Mh“, erwiderte Javi, während seine Gedanken rasten. Das erklärte zumindest, warum Cisco nicht auf Valentins Akte hatte zugreifen können.
„Dein Bruder wurde darüber ebenfalls informiert. Mit der Bitte, weitere Nachforschungen in diese Richtung sein zu lassen“, sagte Levin ergänzend. „Es wird zwar eine Untersuchung bezüglich seiner Nachforschungen ohne Genehmigung geben, aber ehrlich gesagt, ist er einer der Besten auf seinem Gebiet und entsprechend wird er keine Konsequenzen befürchten müssen. Vermutlich wird er in den nächsten Monaten häufiger überprüft, aber das war sein erster Verstoß. Noch dazu einer ohne große Folgen, immerhin ist Valentins Akte gesperrt.“
„Darf ich dann wenigstens erfahren, was das mit Valentin auf sich hat? Oder ist das streng geheim?“ Javi wusste nicht, woher er den Mut beziehungsweise die Aufsässigkeit nahm, Levin derart herauszufordern. Elenas Augen wurden groß, doch Levin schien ungerührt.
„Das darfst du tatsächlich. Wenn ich einen Kaffee bekomme, denn die sechs Stunden Anfahrt machen sich langsam bemerkbar. Doch ich habe Valentin versprochen, mich selbst um die Pässe zu kümmern. Außerdem kannte ich Elena vorher durch unsere Überprüfungen, als Valentin hier eingezogen ist.“
„Wer ist Valentin eigentlich?“ Javis Neugier wuchs ein weiteres Mal. Valentin war mehr als nur interessant, er war mysteriös. Vom Bundeskriminalamt beschützt zu werden und dessen höherrangigen Mitarbeitern Versprechen abnehmen zu können, war nicht alltäglich.
„Wenn ich meinen Kaffee habe. Aber wir sollten mit einer anderen Erklärung anfangen: Wer ist Valerie? Denn eigentlich ist sie der Mittelpunkt, wenn es um Valentin und uns geht.“