Stichwort „Das Buch des Lebens“
„Wir tauschen die Plätze, einverstanden? Dann kannst du mit ihr sprechen. Wenn du sie noch länger anstarrst, fängt sie vielleicht Feuer.“
Valentin warf Adrian einen genervten Blick zu, doch tauschte mit dem neuen Barkeeper den Platz.
„Glaub mir, du bist wirklich auffällig. Und wenn die Frau nicht so beschäftigt wäre, düster in ihr Glas zu starren, hätte sie es ebenfalls bemerkt.“ Adrian zwinkerte ihm zu und strich sich eine Strähne seiner schulterlangen, roten Haare aus der Stirn.
Valentin brummte nur eine undeutliche Erwiderung, dann warf er abermals einen Blick auf die Frau, die dort saß. Und wie Adrian gesagt hatte, sah sie nicht besonders glücklich aus.
Er überlegte, während er zwei weitere Bestellungen annahm und zubereitete. Dann fasste er sich ein Herz und füllte ein Schnapsglas mit Tequila und stellte es der Frau wortlos neben ihr leeres Glas.
Dunkle Augen starrten ihn überrascht an und er zuckte mit den Schultern. „Geht auf‘s Haus. Du scheinst den jetzt zu brauchen.“ Er deutete auf das Schnapsglas.
Die Frau zögerte nur einen Moment, dann griff sie nach dem Glas und kippte den Kopf nach hinten. Nachdem sie das Glas wieder abgesetzt hatte, seufzte sie. „Danke. Der heutige Tag ist einfach beschissen, um es kurz zu machen.“
Valentin nickte nur und wandte sich einer Gruppe Männer zu, die eine neue Runde Bier bestellten. Dann hatte er etwas Luft, weshalb er sich daran machte, den Arbeitsbereich vor sich etwas zu säubern.
„Hast du dich jemals gefragt, was du verbrochen hast, um dieses Kapitel im Buch des Lebens beenden zu müssen?“ Die Frage der Frau ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten und er spürte, wie er sich versteifte.
„Die letzten Monate stündlich“, antwortete er knapp und machte sich daran, die angeschnittene Zitrone zurück in den Kühlschrank unterhalb des Tresens zu legen. Zu den anderen drei, wie er wenig begeistert feststellte. Er hasste es, wenn mehr als eine davon angeschnitten war. Aber die Nacht war noch jung und sämtliche Zitronen würden verbraucht werden, das wusste er.
„Oh fuck. Ich wollte jetzt keine Wunden aufreißen oder so.“
Valentin blickte auf. Die Frau hatte einen ehrlich betroffenen Gesichtsausdruck aufgesetzt, den er ihr abkaufte. Deshalb verzog er die Mundwinkel zu etwas, das einem Lächeln ähnelte. „Ist okay. Es ist schon länger her.“
„Und du bist noch nicht darüber hinweg, das sehe ich. Glaub mir, als Psychologin erkenne ich so etwas. Auch wenn mich meine Menschenkenntnis offensichtlich im Stich gelassen hat, als es für mich wichtig wurde.“ Mit jedem Wort verfinsterte sich ihr Blick, dann schnaubte sie. „Weißt du was? Gib mir noch einen Tequila und einen Long Island Ice Tea. Ich habe mir beides redlich verdient nach diesem Tag.“
Valentin zögerte, denn das war nicht ihr erster Cocktail.
Sie bemerkte seinen Blick und seufzte. „Oder mach aus dem Long Island etwas weniger Mächtiges. Ist vermutlich eine gute Idee.“
Er nickte, dann entschied er sich für einen Tequila Sunrise. Und dem leichten Lächeln der Frau nach dem ersten Schluck schien er die richtige Wahl getroffen zu haben.
„Ich bin Izabella. Die Psychologin, die auf das größte Arschloch in dieser Stadt hereingefallen ist. Weißt du, normal betrügen Leute ihren Partner mit einer Person. Nicht meiner. Oder mein Ex, besser gesagt. Nein, er schläft direkt mit zwei anderen Frauen gleichzeitig! In dem von mir frisch bezogenen Bett! Und genau das ist das Schlimmste an allem! Ich habe dieses blöde Bett bezogen! Ich! Und er verdreckt es!“ Izabella atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. „Dummerweise regt mich dieses Bett mehr auf als sein Verhalten. Ich hasse es, Betten zu beziehen, verstehst du? Und im Endeffekt zeigt mir sein Verhalten, wie egal ich ihm bin. Oder war.“
„Hast du ihn überhaupt geliebt?“, fragte Valentin vorsichtig. Zwar sagte ihm seine Menschenkenntnis, hier nicht direkt einen Drink ins Gesicht geschüttet zu bekommen, aber man konnte nie zu vorsichtig sein.
Izabella fuhr sich durch die gelockten, schwarzen Haare. „Nein. Auch das habe ich erst heute Morgen gemerkt. Also sollte ich ihm eigentlich dankbar sein – wenn es nicht um das Bett gehen würde. Ich meine, es ist seine Wohnung. Deshalb frage ich mich erst recht, warum ich in seiner Wohnung sein Bett bezogen habe. Gut, ich habe mich geweigert, dort noch eine Nacht zu verbringen, nachdem er drei Monate seine Bettwäsche nicht gewechselt hat. Und … oh Dios, was ist, wenn er mit diesen beiden schon mehrmals…?“ Die Situation war zwar nicht komisch, doch angesichts von Izabellas panisch-angewidertem Gesichtsausdruck musste Valentin lachen. Kurz wurde ihm dafür ein wütender Blick zugeworfen, doch dann zuckten auch ihre Mundwinkel und sie seufzte. „Das waren heute mehrere Lektionen für mich, fürchte ich.“
„Immerhin bist du in bester Gesellschaft, um dich auszukotzen.“ Wie aus dem Nichts schlang sich der Arm von Jens um Valentins Schultern. „Und dafür hast du dir einen zweiten Tequila aufs Haus verdient. – Valentin, kümmere dich um unseren besonderen Gast. Izabella, ich habe dir schon vor Monaten gesagt, dass er ein Idiot ist.“
Izabella rollte mit den Augen. „Ich weiß. Barkeeper haben immer recht, nicht wahr?“
„Ja“, antworteten Valentin und Jens zusammen.