Stichwort „Treppenwitz“
Elena wickelte sich den Schal vom Hals, zog die Mütze von ihrem Kopf und schüttelte sich.
„Eine Eiseskälte, nicht wahr?“ Alex blickte sie mitfühlend an, während sie ihre hautenge Leggins zurechtzupfte.
„Das ist noch nett ausgedrückt. Ich weiß nicht, warum der Winter in Deutschland so schlimm ist. In Russland wirken die Temperaturen nicht so kalt, auch wenn sie eigentlich noch kälter sind.“ Elena schälte sich aus ihrer Jacke, hing diese auf und ging zu dem hohen Heizkörper, der an der Wand gegenüber der Umkleidebank befestigt war. Sie lehnte sich dagegen und seufzte glücklich auf, als sie die Wärme auf ihrer Rückseite spürte.
„Lass mich für die nächsten Stunden einfach hier“, murmelte sie und schloss die Augen. „Dann bin ich vielleicht wieder aufgewärmt.“
„Ist in eurer Wohnung die Heizung defekt? Und wie geht es Javi eigentlich?“
Elena öffnete die Augen und blickte Alex misstrauisch an. „Javi geht es gut, wieso fragst du? Und nein, unsere Heizung funktioniert perfekt. Nur könnte die in meinem Auto etwas schneller arbeiten, damit ich nicht erst nach zehn Minuten Fahrt die Wärme spüre.“
„Vielleicht solltest du dir auch ein neues Auto kaufen. Eines mit Sitz- und Lenkradheizung? Seit ich mein neues Auto habe, liebe ich diese beiden Ausstattungen. Da kommt einem die Kälte auch nicht mehr so schlimm vor, einfach weil einem weder Hintern noch Hände abfrieren.“
„Mein Auto fährt, mehr soll es nicht können. Gibt es da nicht dieses deutsche Sprichwort? ‚Was nicht umbringt, macht einen stärker‘ oder so?“
„Sinngemäß schon, nur heißt es ‚was nicht umbringt, härtet ab‘. Aber ich verstehe dein Argument.“ Alex, inzwischen in kompletter Montur für das heutige Training, stellte sich vor den bodenlangen Spiegel und fing an, sich ihre braunen Locken zu einem Chignon zu drehen.
Elena beobachtete sie dabei von ihrem Platz an der Heizung aus, dann warf sie einen Blick auf die Uhr und seufzte. Wenn sie pünktlich im Trainingsraum sein wollte, musste sie sich von der Heizung lösen, so ungern sie das auch tat. Immerhin wusste sie, beim Training innerhalb kürzester Zeit wieder zu schwitzen. Und die Heizung hatte sie mittlerweile aufgewärmt. Also ging sie zu ihrem Bankbereich, über dem ihre Trainingssachen fein säuberlich gestapelt lagen. Einmal mehr war sie um den Wäschedienst des Theaters froh, der auch die Trainingskleidung wusch und den Tänzern in ihre Fächer legte.
„Wo sind eigentlich die anderen?“
Alex zuckte mit den Schultern. „Yvonne hat sich krank gemeldet, die Grippe hat sie umgehauen. Mary und Judith sind bereits im Trainingsraum, ansonsten ist heute nur noch Kazia eingetragen.“
Elena nickte, während sie ihr Oberteil wechselte. Es war vollkommen normal, nicht mit der vollen Besetzung zu proben. Momentan bereiteten sie das nächste Stück vor, das sie ihm Frühjahr aufführen wollten. Da sie dafür in Gruppen eingeteilt wurden, um die jeweiligen Tanzszenen zu üben, machte es keinen Sinn, alle Tänzer dafür zum Training zu beordern.
Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen und Kazia stürmte herein, keuchend und mit klatschnassen Haaren.
„Wo kommst du denn her?“, fragte Alex verblüfft, denn heute hatte es in der Gegend weder geregnet noch geschneit.
Kazia schnaubte. „Ob ihr es glaubt oder nicht, von draußen. Woher soll ich bitte wissen, dass die Hausverwaltung ausgerechnet heute auf die Idee kommt, ihre Sprinkleranlage in der unteren Tiefgaragenetage zu testen? Und feststellt, dass sie sich nicht wieder abschalten lässt?“
Alex prustete los, doch Elena schaffte es, ihre Erheiterung unter Kontrolle zu haben. Stattdessen schnalzte sie mit der Zunge.
„Es gab aber keine Ankündigung, oder?“
„Nein, das ist der Witz an der Sache. Offenbar ist der neue Facility Manager übermotiviert und hat festgestellt, dass der Feuerschutz dringend wieder überprüft werden sollte.“
„Wie sieht er denn aus? Ist er jung?“ Natürlich waren das die Dinge, die Alex interessierten, doch Kazia schnaubte nur.
„Und wenn er das Aussehen eines Topmodels hätte, wäre mir das egal. Ich bin vollkommen durchnässt! Mein Wollmantel ist nicht wasserdicht, verdammt! Ich bin aus meinem Auto ausgestiegen, habe es abgeschlossen und bin zum Treppenaufgang gelaufen. Und auf der Hälfte des Weges fangen diese Sprinkler an, Wasser von sich zu geben. Ein richtiger Treppenwitz.“
„Treppenwitz?“, fragte Elena verwirrt. Offenbar war das eines der deutschen Wörter, die sie nicht kannte, obwohl sie dank ihrer deutschen Mutter die Sprache perfekt beherrschte. Doch manche Dinge lernte man erst, wenn man länger hier lebte.
„Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet.“ Immerhin war auch Alex ratlos, weshalb sie beide Kazia anstarrten, die kurz die Mundwinkel verzog.
„Das Wort benutzt man, wenn einem etwas passiert, das an einen schlechten Scherz erinnert. Wie meine unfreiwillige Dusche in meiner einzigen, wasseraufsaugenden Jacke, die ich heute ausnahmsweise trage. Man kann das Wort auch verwenden, wenn einem ein Gedanke erst kommt, wenn man bereits aufgebrochen ist, also gewissermaßen auf der Treppe steht.“
„Dann hoffen wir, dass dir heute keine weiteren Treppenwitze passieren, nicht wahr?“
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Alle drei blickten sich überrascht an, denn niemand aus der Gruppe klopfte.
Alex war diejenige, die zur Tür lief und sie öffnete. Elena reckte den Hals und sah einen jungen, gut aussehenden Mann, der in einer Arbeitshose vor ihnen stand und ein Handtuch in seinen Händen hielt. Welches er Alex entgegenstreckte, sobald sie die Tür geöffnet hatte.
„Hier … Wegen der Sprinkler. Es ist nicht viel, aber hilft. Und Verzeihung, es kommt nicht wieder vor.“ Mit diesen Worten flüchtete er regelrecht in Richtung Treppe, noch ehe eine der drei Tänzerinnen etwas antworten konnte.
Alex pfiff leise, als sie die Tür wieder schloss und Kazia das Handtuch zuwarf. „Fleißig und dazu noch gut erzogen. Der kann mich gern auch mal mit Sprinklern nassmachen, dann muss er mich zum Essen einladen.“
„Alex!“