Stichwort „Vertrauen“
Valentin atmete tief durch, dann trat er aus dem schattigen Bahnhofsgebäude hinaus in das Sonnenlicht. Er blinzelte ein paar Mal, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Kurz blickte er sich um, doch niemand schien ihn zu beobachten und er konnte befreiter atmen.
Das hier war die sechste Stadt in vier Monaten. Und hoffentlich die, in der er bleiben würde. Zumindest, bis er wieder gefunden wurde und weiterziehen musste. Es war anstrengend, seitdem er bei Elena ausgezogen war, doch jetzt sollte diese Phase ein Ende haben. In dieser Stadt mit knapp einer Million Einwohner würde ihn niemand so schnell finden.
Er holte aus seiner Jackentasche den zusammengefalteten Zettel, auf dem seine neue Adresse stand. Es war zwar nur zur Untermiete, aber für zwei Jahre. Und er konnte das Klingelschild sowie den Briefkasten unverändert lassen, denn er plante weder mit Besuch noch mit Post. All seine notwendigen Versicherungen liefen über seinen Online-Kontakt und das würde er nicht ändern.
Eine halbe Stunde später stand er in seiner neuen Bleibe und blickte sich zufrieden um. Nicht besonders groß, aber gemütlich und hell. Genau das, was er bevorzugte. Den Schlüssel hatte er bei der Hausverwaltung abgeholt, nachdem er sich ausgewiesen hatte. Diese hatte ihm auch direkt die generellen Regeln erläutert, die eigentlich nur die Mülltrennung umfassten. Alles andere – die Pflege des Vorgartens, die Reinigung des Treppenhauses und das Hinausstellen der Mülltonnen – übernahm der Hausmeisterdienst. Mit anderen Worten konnte sich Valentin vollkommen auf seine Arbeit als freischaffender Komponist konzentrieren. Und darauf, nicht aufzufallen und unentdeckt zu bleiben.
Sein Handy klingelte und er zuckte zusammen. Sein Herz raste, während er wie versteinert stehen blieb. Niemand rief ihn an. Zusätzlich hatten nur eine Handvoll Personen die Nummer seines Privathandys. Für geschäftliche Zwecke hatte er ein eigenes Smartphone, sein privates Handy hingegen war alt. So alt, um nicht geortet werden zu können. Er wurde immer mitleidig beäugt, wenn er es aus der Hosentasche holte, doch er war für ihn perfekt.
Der Klingelton verstummte und er atmete erleichtert aus. Nur, um beim neuen Einsetzen abermals zusammenzuzucken. Wer auch immer ihn anrief, ließ nicht locker.
Valentin griff mit zitternder Hand in seine vordere Hosentasche und holte das Klapphandy heraus. Ein banger Blick auf das Display und seine aufsteigende Panik wurde von Erleichterung, dann von Verwirrung abgelöst. Elena. Was wollte Elena jetzt, nach etlichen Monaten, von ihm?
Noch während er auf das Display starrte, verstummte das Handy erneut. Nach zehn Minuten wurde ihm klar, dass es vorerst stumm bleiben würde. Entschlossen klappte er es auf und sah eine Nachricht von seiner Sprachbox. Also hatte Elena offenbar eine Nachricht hinterlassen. Ohne darüber nachzudenken, rief er die Nummer seiner Sprachbox an und wartete auf Elenas Stimme.
„Valentin, ich habe keine Ahnung, ob du gerade nicht erreichbar bist oder nicht erreicht werden willst. Auf jeden Fall … Wir – mein neuer Mitbewohner und ich – haben etwas gefunden. Unter deinem Bett. Einen Personalausweis und einen Reisepass mit deinem Bild, aber anderem Namen. Ich … ich weiß nicht, was ich machen soll. Sie verbrennen? Aufheben? Bei der Polizei abgeben? Eigentlich melde ich mich auch nur, weil ich dir vertraut habe und nicht gedacht hätte, so etwas zu finden. Also: Melde dich. Bitte. Am besten mit einer Erklärung.“
Valentin durchlief es eiskalt. Seine alten Papiere. Die hatte er vergessen. Und nun waren sie gefunden worden.
Ein lauter Fluch kam über seine Lippen. Auch wenn Elena noch nicht zur Polizei gegangen war, sie wusste über seine wahre Identität Bescheid. Dass er diese seit fünf Jahren nicht benutzte, war dabei egal. Sie existierte.
Kurzerhand rief er Elena zurück und war wenig überrascht, als direkt die Sprachbox ansprang. Der Uhrzeit nach hatte sie in ihrer kurzen Pause angerufen und war jetzt wieder im Training.
„Elena, ich kann das erklären. Nicht jetzt, aber irgendwann. Ich kann nur versichern, nicht von den Behörden gesucht zu werden und auch in nichts Illegales verwickelt zu sein. Abgesehen von meinen Dokumenten zumindest. Vertrau mir bitte. Wenn sich meine Spur im Sand verlaufen hat, melde ich mich wieder und hole die Dokumente ab.“
Er legte auf, bevor er noch mehr von sich preisgeben konnte und atmete durch. Vertrauen. Elena sollte ihm vertrauen.
Ein bitteres Lachen entfuhr ihm. Die letzte Person, der er vertraut hatte, hatte ihn auf die schlimmste Art und Weise betrogen, die man sich nur vorstellen konnte. Doch Elena war nicht so, das hatte er direkt am Anfang gemerkt. Sie war lieb. Lieb, hilfsbereit und mental normal. Nicht so wie … Er verbat sich diesen Gedanken wieder. Denn nur deshalb war er überhaupt auf der Flucht. Damit er nicht wieder gefunden wurde. Damals hatte er blauäugig vertraut, das Richtige zu tun. Jetzt wusste er, wie falsch das gewesen und wie erpressbar er geworden war. Alles aufgrund einer einzigen Fehlentscheidung. Aufgrund von naiv verschenktem Vertrauen.