Stichwort „Jahrestag“
Valentin stieg aus dem Zug aus und blieb ein paar Schritte von diesem entfernt stehen. Er atmete tief durch, während er das alte Bahnhofsgebäude betrachtete. Eines, das für ihn mit unendlich vielen Erinnerungen verbunden war. Viele waren wunderschön. Doch einige, ganz besonders die letzten, würde er am liebsten vergessen. Doch es ging nicht. Auch wenn er es seit über drei Jahren versuchte.
Die Menschen um ihn herum beachteten ihn kaum, schenkten im maximal einen genervten Blick, weil er mitten auf dem Bahnsteig stand. Wahrscheinlich waren sie in Eile und er zwang sie dazu, ein paar Zentimeter zusätzlichen Weg zurückzulegen, wenn sie um ihn herumlaufen mussten. Es war ihm ausnahmsweise egal. Er hatte in diesem Moment genug mit sich zu kämpfen, da stellte er die Gedanken an seine Mitmenschen hinten an.
Alles in ihm danach schrie, wieder in den Zug einzusteigen und das Weite zu suchen. So schnell, wie es nur ging. Fort von diesem bekannten Bahnhof, diesem Bahnhofsgebäude, dem länglichen Park davor. Am besten raus aus dieser Stadt, aus dieser Region und vielleicht aus diesem Landesteil. Aber er hatte es sich geschworen, dieses Mal nicht zu kneifen. Es war genug Zeit verstrichen, in der er sich vor diesem Augenblick gefürchtet hatte. Da er durch seine entdeckte Zweitidentität Gefahr lief, von der Polizei aufgegriffen und dazu befragt zu werden, konnte er das Risiko, wieder hier aufzutauchen, ebenfalls eingehen.
Langsam setzte er sich in Bewegung und nahm jede Einzelheit in sich auf wie ein Verdurstender. So hatte er sich die meiste Zeit gefühlt, nachdem er gegangen war. Wobei für ihn das Wort „geflohen“ deutlich besser passte, denn es war nichts anderes gewesen als eine Flucht. Eine Flucht vor seiner Vergangenheit, seinen Aktionen, deren Konsequenzen und die Flucht vor ihr.
Der kleine Blumenladen befand sich noch immer an der Ecke zur Hauptstraße, kurz vor der Innenstadt. Die kleine Glocke über der Tür klingelte, als er den Laden durch die waldgrüne Holztür betrat. Drinnen empfing ihn der typische Duft eines Blumenladens: Ein wilder Mix aus fruchtigen, süßlichen und etwas herberen Gerüchen, die vertretend für die vielen Blumen waren. Der Lavendel an der Tür sollte vermutlich die Fliegen fernhalten, weshalb es hier besonders stark nach der violetten Blume roch.
Valentin lief weiter in den Laden und bemerkte den Fliedergeruch, der sich angenehm süß von dem daneben stehenden Eukalyptusbäumchen abhob. Früher hätte er diese Pflanze nicht erkannt, doch Valerie hatte mehrere in ihrer Wohnung gehegt und gepflegt. Ihr Duft hatte sich stets in der gesamten Wohnung verteilt und ihn beruhigt, wann immer er unausgeglichen war. Bei seinem früheren Job im Einzelhandel kein Wunder, denn Kunden waren teilweise sehr anstrengend.
Er blieb beim Eukalyptus stehen, rieb sanft eines der Blätter und roch anschließend an seinen Fingerspitzen, während er die Augen schloss. Erinnerungen entfalteten sich vor seinem inneren Auge. Eine zierliche Frau mit warmen braunen Augen und widerspenstigen, braunen Ringellocken, die ihn mit einem strahlenden Lächeln nach einer weiteren Schicht begrüßte. Ihre begeisterten Armbewegungen, wenn sie ihm von ihrem Tag in der Schneiderei erzählte. Sie hatte es geliebt, stundenlang über Stoffen und Schnittmustern zu brüten, bis sie mit ihrer Auswahl für den Kunden zufrieden gewesen war.
Ein wehmütiges Lächeln glitt über Valentins Gesicht und er öffnete die Augen. Die anderen Bilder wollte er nicht wieder aus seiner Erinnerung hervorkramen. Der metallische Geruch von zu viel Blut, eine einzelne Haarsträhne in ihrem leichenblassen Gesicht, die er sanft hinter ihr Ohr strich. Dort sah er die Ohrringe, die er ihr geschenkt hatte. Blaulicht. Menschen, die ihm durcheinander zu viele Fragen stellten. Sein Oberteil, das er extra für diesen einen Abend gekauft hatte und dessen untere Hälfte vollkommen nass war. Nass von ihrem Blut. Aufgebrachte Stimmen, die ihm Vorhalte machten, ihn anschrien. Bis alles um ihn herum vollkommen ruhig gewesen war. Zu ruhig.
„Welche Blumen haben Sie denn im Sinn?“
Die freundliche, weibliche Stimme riss Valentin aus seinen Gedanken und er drehte sich zu der jungen Verkäuferin um, die wartend ein paar Schritte entfernt stand und ihn anlächelte.
„Rosen“, murmelte er heiser, bevor er sich räusperte. „Rosen. In Rot. Sie sollen Hauptbestandteil des Straußes sein.“
„Ah, ein Geschenk für Ihre Liebste?“
„Ja.“
„Was möchten Sie zu den Rosen dazu? Ein paar Chrysanthemen und Inkalilien? Damit der Strauß nicht langweilig wird.“
Er verbat sich einen schmerzvollen Blick und achtete darauf, seine Stimme normal klingen zu lassen. „Nein, das wäre falsch. Eine weiße Calla, zusammen mit Buchsbaum und Immergrün bitte.“
Der freundliche Gesichtsausdruck der Verkäuferin wechselte zu Schock, doch sie sammelte sich schnell wieder und nickte. „Ich werde Ihnen den gewünschten Strauß binden.“
Mit einem letzten, tiefen Atemzug stieß er die eisernen Tore auf und schritt den gepflasterten Weg entlang. Obwohl er nur einmal hier gewesen war, wusste er genau, zu welcher Stelle er musste. Langsam, fast bedächtig setzte er seine Füße voreinander, während ihn einmal mehr Erinnerungen durchfluteten. An die vielen, schönen Momente, die sie zusammen verbracht hatten.
Bis er an ihrem Grab stehen blieb und den grauweiß gesprenkelten Stein betrachtete. Ein frischer Strauß lag auf der Grabplatte und Valentin bückte sich, um seinen ebenfalls abzulegen.
Als er sich wieder aufrichtete, schien es ihm, als ob eine Last von seinen Schultern fiel und er spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. Er hätte schon viel früher zurückkehren sollen.
„Einen frohen fünften Jahrestag, Valerie.“
Auch wenn sie an ihrem zweiten Jahrestag gestorben war. Wegen ihm.