Stichwort „Luft“
Valentin blickte nachdenklich aus dem Zugfenster, hinter dem er Felder, vereinzelte Bäume und ab und an ein paar Häuseransammlungen vorbeiziehen sah.
Die Rückkehr an diesen Ort war schwer gewesen, nervenzehrend. Doch jetzt war er froh, sich überwunden und diese angetreten zu haben. Erst jetzt fühlte es sich wie ein Abschied an. Ein richtiger, nicht wie die Flucht von damals, als er sich nicht anders zu helfen wusste.
Nun fühlte er sich befreit. Als ob eine Last von ihm abgefallen wäre. Er war bereit, den nächsten Schritt anzutreten und sich wieder im Süden zu melden. Dort, wo er vor über einem Jahr hätte sein sollen. Doch seit Valeries Tod hatte er vieles überdenken müssen und nun, während seiner Zeit an ihrem Grab, war er zu einem Entschluss gekommen. Keine weitere Flucht vor allem. Er war bereit, mit seinen Taten abzuschließen und sich den Konsequenzen zu stellen, die ihn im Süden erwarteten. Zwar bezweifelte er, dass es sonderlich viele sein würden – er war nicht der Erste, den dieses Schicksal ereilte – aber er war auf alles vorbereitet.
Einige Stunden später stand er in einer geschützten Ecke vor dem Bahnhof, in der ihn niemand beobachten konnte. In seiner Hand hielt er ein Handy. Ein altes Modell, eines ohne Internet. Es konnte nur per Anruf zurückverfolgt werden, dennoch hatte er es die gesamte Zeit ausgeschaltet gehabt. Immerhin hatte er es nicht benötigt, während er vergessen wollte. Valerie, sein blutiges Shirt, sein Versagen. Das Handy war die Erinnerung daran und seit diesem Ereignis hatte er es nicht mehr eingeschaltet.
Bevor er es sich anders überlegen konnte, drückte er die Schnellwahltaste. Wobei auf diesem Handy nur zwei Nummern gespeichert gewesen waren. Die von Valerie hatte er direkt nach ihrem Tod gelöscht, denn sie war die schlimmste seiner Erinnerungen gewesen. Sein letzter Anruf hatte in einem Streit geendet und er hatte nie die Gelegenheit gehabt, sich dafür entschuldigen zu können.
Nach dreimaligem Ertönen des Freizeichens wurde sein Anruf entgegengenommen.
„Kristian. Es wurde Zeit.“
„Ich heiße Valentin“, antwortete er der verzerrten Stimme, die daraufhin seufzte.
„In Ordnung. Komm einfach vorbei, wir haben viel zu besprechen. Du weißt die Adresse noch? Dein Code wurde nie geändert.“
„Bis bald.“ Mit rasendem Herzen beendete Valentin den Anruf und steckte das Handy in seine Jackentasche. Es war an der Zeit, sich weiteren Dämonen seiner Vergangenheit zu stellen. Vielleicht hatte er dann endlich wieder das Gefühl, befreit atmen zu können. Denn seit Valerie hatte er stets das Gefühl, eingekerkert zu sein. In seinen Gedanken, seinen Emotionen und seinen Erinnerungen. Er sehnte sich nach Freiraum, nach Luft, nach all den Gefühlen, die er früher verspürt hatte. Und er wusste, ein Besuch bei ihnen brachte ihn einen Schritt näher.
Der letzte Schritt, den er noch nicht bereit war zu gehen, war ein Treffen mit ihr. Doch auch das würde zu seiner Zeit geschehen, das wusste er.
Die Tür glitt lautlos zur Seite, nachdem Valentin seinen Code eingegeben und bestätigt hatte. Er trat mit einem prüfenden Blick in den normal aussehenden Gang. Zumindest so normal, wie ein schmuckloser, fensterloser Flur eben aussehen konnte. Diesen Flur war er mehrmals entlang gelaufen, um über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten zu werden. Das war anfangs nicht selbstverständlich gewesen, doch er hatte die Verantwortlichen überzeugt. Deshalb war nicht nur Valerie hie zu Besuch gewesen, sondern auch er. Bevor sie erneut umgezogen waren, weil sich die äußeren Umstände verändert hatten.
Mit schlafwandlerischer Sicherheit lief er den Gang entlang bis zur dritten Tür auf der rechten Seite. Wie früher stand diese offen und er hörte eine männliche Stimme. Ein leichtes Lächeln glitt über sein Gesicht. Er hatte sich mit Levin immer gut verstanden, egal wie angespannt die Situation auch gewesen war. Levin war es zu verdanken, dass er damals Valerie in diese Räumlichkeiten begleiten durfte, um nicht ahnungslos zu bleiben.
Letztendlich hatte es dennoch nichts genutzt, aber das war seinem Versagen zuzuschreiben. Eine falsche Entscheidung und alles war zerstört. Valeries Blut hatte sein Oberteil durchtränkt, das er an Ort und Stelle zurückgelassen hatte.
„Valentin. Was verschafft uns die Ehre?“ Levin blickte ihn aus intelligenten Augen an. Valentin bemerkte, dass Levins Haar lichter geworden war, doch anhand des Stresses hier konnte er es ihm nicht verübeln. Trotz allem war Levin noch immer ein attraktiver Mann, selbst wenn sein Gesicht etliche Falten mehr hatte. Die letzten Jahre waren für alle nicht einfach gewesen.
„Ich brauche eure Hilfe. Sie hat mich gefunden. Und wird nicht locker lassen, bis sie mich ebenfalls erwischt.“
Sofort wurde Levins Gesichtsausdruck ernst. „Das ist nicht gut. Hast du deshalb deine ursprüngliche Identität wieder angenommen?“
Valentin zuckte mit den Schultern. „Teilweise.“ Der andere Grund war die Ähnlichkeit seines Geburtsnamens zu Valeries gewesen, aber da ging Levin nichts an. Falls er es nicht schon vermutete, was durchaus möglich war.
„Was benötigst du?“
„Einen Beobachter. Ich habe eine Wohnung zur Untermiete und arbeite ab nächster Woche in einer Autowerkstatt. Solange man sich nicht in die Datenbank der Behörden einklinkt, wird man mich nicht finden.“
„Und genau deshalb sollen wir da ein Auge drauf haben. Das ist kein Problem. Immerhin sind wir dir das schuldig. Valerie …“ Levin schüttelte langsam den Kopf, die Augenbrauen zusammengezogen. „Wir haben versagt. Du warst nur ein Zivilist, wir hätten dir das nicht zumuten sollen. Es war ein Fehler und wir werden ihn nie wieder ausbügeln können. Deshalb hast du jede Unterstützung, die du benötigst. Bis wir sie endlich zu fassen bekommen, damit du in Sicherheit bist.“
Valentin nickte, plötzlich müde. Er wusste selbst, wie gut sie darin war, sich unauffällig im Land zu bewegen und dabei sämtlichen Behörden zu entgehen. Es war kein Zufall, dass sie es geschafft hatte, über ein Jahrzehnt ihren Aktivitäten nachzugehen. Und bisher wusste immer noch niemand, wie sie aussah.
Eine halbe Stunde später stand Valentin vor dem Gebäude und atmete erleichtert aus. Die Luft in diesen Räumen hatte er schon immer als unerträglich empfunden. Jedoch weniger aufgrund der Qualität, sondern aufgrund der Themen, die in diesen besprochen wurden.
Eines hatte dieser Besuch gebracht: Er fühlte sich sicherer. Denn jetzt war er nicht mehr auf sich allein gestellt. Er wusste, Levin würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, sollte er in Gefahr sein. Allein aufgrund von seinem Pflichtgefühl und den Schuldgefühlen, die ihn noch immer sichtlich plagten.