Stichwort „Naschkatze“
Mit einem durchdringenden „Ping“ gab der Backofen das Ende der geplanten Backzeit bekannt. Elena, die im Wohnzimmer über ein paar Choreografien für die nächsten Stücke gebrütet hatte, stand auf und eilte in die Küche.
Prüfend blickte sie durch das Glas in das Innere des Backofens, dann nickte sie zufrieden. Die Kekse sahen perfekt aus. Genau so, wie sie sein sollten. Jetzt musste nur noch die Konsistenz stimmen. Außen hart, in der Mitte aber noch weich. Doch sie buk diese Kekse nicht zum ersten Mal mit diesem Ofen und wusste genau, wann dieser gewünschte Backgrad erreicht war.
Sie zog die Backhandschuhe an, öffnete nach dem Abschalten des Ofens dessen Tür und wich gekonnt der Hitzewelle aus, die in die Küche drang.
Das Blech mit den Keksen stellte sie auf die Herdplatte und sog zufrieden den schokoladigen Geruch ein, der sich ausbreitete.
Die Kekse würden nach dem Auskühlen zu den anderen vier Sorten kommen, die sie heute gebacken hatte und die bereits ausgekühlt und in Blechdosen verpackt waren.
Elena stach mit einem Spieß prüfend in einen der Kekse und nickte zufrieden. Sie waren noch sehr weich, doch die Restwärme ließ sie noch etwas nachbacken. Nicht viel, aber genug, um perfekt zu sein.
Da hörte sie das Kratzen eines Schlüssels im Schloss der Wohnungstür. Das musste Javi sein. Und er war es auch, denn sie hörte ein verzücktes Seufzen und nur wenige Sekunden später stand ihr dunkelhaariger Mitbewohner in der Küche und schnupperte.
„Das riecht verdammt gut, Elena“, murmelte er und beäugte mit glänzenden Augen die verschiedenen Dosen auf dem Küchentisch. „Für wen sind die Kekse denn?“
Elena lachte. „Hauptsächlich für uns, du Naschkatze. Ich hatte Lust, ein paar Kekse zu backen.“ Diese Phasen hatte sie ab und zu, aber dann stand sie einen gesamten Nachmittag in der Küche und probierte verschiedene Rezepte aus. Für Javi war es das erste Mal, wenn sie darüber nachdachte. Aber er schien nichts dagegen zu haben, was sie bei seinem süßen Zahn auch gewundert hätte. Die Benjamin-Blümchen-Torte war noch Tage später ein wichtiges Gesprächsthema für ihn gewesen.
„Machst du so etwas öfters?“ Javi öffnete eine der Dosen und grinste breit. „Mh, Triple Chocolate! Du kannst gern jede Woche Kekse backen!“
„Damit du nach sechs Monaten in der Wohnung herumrollst und Diabetiker bist? Nein danke.“ Doch Elena lachte, während sie diese Worte von sich gab.
Javi blickte sie treuherzig an. „Ich spüle auch alles!“ Dann schien er sich an etwas zu erinnern, denn er verschwand für kurze Zeit wieder im Flur, nur um mit einem Brief zurückzukommen. „Der hier lag vor unserer Wohnungstür. Er ist an dich adressiert.“
Elena nahm den Brief entgegen und drehte ihn um. Die Rückseite entlockte ihr ein Stirnrunzeln, denn er war nicht gestempelt. Wenn ihr die Schrift nicht bekannt vorkommen würde, wäre sie vermutlich nervös. Doch so war sie nur neugierig, als sie den Brief mit einem Ruck aufriss.
Sie überflog die wenigen Zeilen und ihre Verwunderung wuchs noch etwas mehr. „Er ist von Valentin. Ein Freund würde diesen Brief überbringen – nun, offenbar nicht direkt, wie es aussieht. Aber er meint, wir sollen seinen Pass einfach wegschließen und vergessen. Sobald er Zeit hat, kommt er vorbei und holt das Zeug ab. Oh, und wir sollen keine Päckchen öffnen, die für ihn bestimmt sind, sondern direkt weiterschicken. Die Adresse steht hier.“
„Vergessen? Eine komplette Identität einfach vergessen? Und was ist das für eine Adresse?“
Elena las sie vor und sah, wie Javi bereits sein Handy gezückt hatte und die Adresse eingab. Dann wurden seine Augen groß. Langsam hob er den Kopf und blickte sie an.
„Weißt du, was das für eine Adresse ist?“
Elena schüttelte den Kopf. „Nein. Aber du offenbar und es scheint keine Gewöhnliche zu sein.“
„Das kann man sagen. Es ist angeblich ein Bauernhof, der seit Jahren nicht mehr in Betrieb ist.“
„Ein stillgelegter Bauernhof?“
Wortlos hielt ihr Javi das Handy hin und Elena erkannte eine baufällige Scheune. Im Hintergrund konnte man sogar ein Mühlenrad erkennen, offenbar Teil einer Windmühle.
„Das kann nicht sein. Valentin muss sich verschrieben haben. Gibt es in der Umgebung andere Gebäude, die etwas lebendiger sind?“
Javi tippte ein paar Mal auf seinem Display herum, doch dann schüttelte er den Kopf. „Nein, da ist gar nichts.“
Elena griff gedankenverloren nach einem Schokoladenkeks und ließ ihn fluchend wieder los, als er ihr fast die Finger verbrannte.
„Vielleicht ist das gar kein Bauernhof, sondern soll nur diesen Eindruck erwecken.“
„Und was soll er dann sein? Das Geheimversteck der Men in Black?“ Eigentlich hatte sie ihre Aussage ironisch gemeint, doch Javi schien zu überlegen.
„Es würde einiges erklären.“
Elena schüttelte entgeistert den Kopf. „Unmöglich. Wenn Valentin so etwas wie ein Geheimagent gewesen wäre, hätte ich das bemerkt.“
„Der Sinn von Agenten ist eben, nicht aufzufallen. Und ich glaube, Valentin hat da ganze Arbeit geleistet.“ Javi zuckte mit den Schultern. „Mir gefällt diese Variante auf jeden Fall besser als die mit einem Verbrecher, der hier gelebt hat. Und sie macht Valentin um Welten sympathischer. Im Dienst seiner Majestät – oder eher im Dienst der Regierung, das hat doch was?“
Elena musste lachen. „Okay, dann ist Valentin von mir aus der deutsche James Bond. Auf jeden Fall möchte ich jetzt auf diesen merkwürdigen Brief ein paar Kekse essen. Und du bestimmt ebenfalls, wie ich dich kenne.“
Javi nickte begeistert, nahm ihr den Brief aus der Hand und legte ihn auf die Küchentheke. „Natürlich! Ich will einen Triple Chocolate Keks versuchen, die sehen schon lecker aus, vom Geruch her ganz zu schweigen.“
Während er sich einen Teller aus dem Schrank holte, glitt Elenas Blick zu dem geöffneten Brief zurück. Javis Theorie war verrückt. So verrückt, um vielleicht der Wahrheit zu entsprechen. Aber darüber würde sie sich Gedanken machen, wenn sich Valentin erneut meldete. Jetzt galt es, ihre heimlichen Bedürfnisse nach Süßigkeiten zu befriedigen. Javi war nicht die einzige Naschkatze im Haus, auch wenn sie es weitaus besser verbergen konnte.