Es war am Abend des nächsten Tages. Marvin Grauwolf hatte die unliebsame Begegnung schon längst wieder verdrängt. Immerhin fühlte er sich in diesem Refugium sehr sicher. Niemand konnte ihn hier stören. Gut, dass Nick aufgetaucht war, hatte ihn gewundert. Aber mit einer Ausnahme kam er klar.
Er hatte den Tag wie üblich verbracht. Dazu gehörte ausgiebiges Faulenzen, er hatte den Vögeln gelauscht und war am Nachmittag auf die Pirsch gegangen, um sich ein Reh zu erlegen.
(Das Tier war, keine Sorge, nur ein geschriebener Nebencharakter ohne Familie oder Gefühle.)
Mit seiner Beute hatte sich der Grauwolf wieder in seine gemütliche Höhle verkrochen. Draußen stieg der Abendnebel aus den weitläufigen Wiesen. Die Vögel gingen zu Bett und im Wald breitete sich eine herrliche Stille aus, Balsam für die Seele eines introvertierten, wegen Reizüberflutung geflüchteten Wolfes. Nicht ein Ton war zu hören. Der kalte Wind schwieg, kein Blatt raschelte, kein Vogel sang ...
Etwas quotschte im Schlamm.
Irritiert öffnete der Wolf ein Auge. Was hatten diese trampelnden Schritte hier zu suchen?
Im nächsten Moment erklang auch schon eine Stimme. "Hallo?"
Der Wolf erstarrte. Wer konnte es wagen, in seinen geheimen Wald zu stolpern, und besaß auch noch die Dreistigkeit, 'Hallo' zu rufen?
Der Grauwolf tat, was jeder vernünftige Protagonist in so einer Situation tut, und erstarrte einfach. Als wäre er gar nicht da.
Leider half das wenig, denn kurz darauf hörte er, wie etwas in seinem gemütlichen Wolfsbau raschelte. Jemand kam herein! Vor Entsetzen war unser armer Grauwolf wie gelähmt. Vollkommen entgeistert harrte er des Dings, das da kam.
Es war ein Bär. Ein vergleichsweise kleiner Braunbär, der sich mit viel Mühe in Marvins gemütlichen Bau quetschte und den Wolf dann angrinste. "Ihr müsst Herr Grauwolf sein!"
"Ja ..." Marvin war zwar für gewöhnlich ein großer Bärenfan, aber er zog es vor, diese zu kennen, bevor sie sich in seinen Bau zwängten.
"Zjerl, zu Euren Diensten", stellte sich der Bär vor. "Gibt es was zu essen?"
"Ähh, also ..." Zögerlich machte der Grauwolf Platz, damit sein Gast die frische Beute sehen konnte.
"Hmm, das wird nicht reichen."
"Reichen? Wofür?"
Marv erhielt seine Antwort, weil direkt wieder draußen jemand durch den Schlamm patschte. Erschrocken streckte er den Hals in den Gang, durch den eben der Braunbär gekommen war. Nun kam ein zweiter!
"Zjerg."
"Marvin ... Grauwolf. Ähh. Kennen wir uns?"
"Nein", sagte der Bär und warf dem Wolf einen merkwürdigen Blick zu. Dann erblickte er den anderen Gast. "Zjerl! Ich freue mich, dich zu sehen, Bruder."
Marvin runzelte die Stirn. Wie kamen denn nun die Bärenbrüder in seine abgeschiedene Ruhewelt?
Die beiden begrüßten sich mit tiefem Brummen, als hätten sie sich ewig nicht mehr gesehen. Dabei waren sie nicht zu kurz nacheinander in den Bau marschiert. Womöglich, überlegte der Grauwolf, waren sie kurzsichtig. Ja, das musste es sein. Zufriedenheit breitete sich in ihm aus, da er wenigstens dieses Rätsel gelöst hatte.
Sie hielt nicht lange vor.
"Hallo?"
Marvin erstarrte. Die beiden Braunbären sahen ihn an.
"Da ist jemand am Eingang", wies ihn Zjerg freundlich hin.
"Äh, ja ... Hallo?" Marvin steckte den Kopf wieder in den Gang.
Diesmal kamen gleich zwei Bären herein, allerdings waren es keine Braunbären, sondern Eisbären. Marvin biss sich verdattert in die Pfote, aber er wachte nicht aus diesem merkwürdigen Traum auf.
"Hwirg."
"Und Zwirg", stellten sich die beiden vor.
Marvin klappte das Maul auf, brachte ein Winseln hervor und klappte es wieder zu.
"Sehr erfreut", sagte Zwirg.
In Marvins Gehirn ratterte es. "Moment mal! Sind eure Namen einfach nur Varianten von 'Zwerg'? Vielleicht mit alphabetischen Änderungen? Zwerg-mit-a, Zwerg-mit-b ... Also Zwarg, Bwerg, und so weiter? Das Hyphurion macht so was für die Gegner im P&P. Es fühlt sich damit immer so witzig, aber es ist einfach nur Faulheit. Ich finde jedenfalls ... hey!"
Die Eisbären waren längt an dem verdatterten Grauwolf vorbei und begrüßten die beiden Braunbären freudig. Marvins Ohren zuckten, als er was in der Richtung von "Wir müssen mehr Platz schaffen, sonst kriegen wir hier niemals alle rein!" hörte. Entsetzt wirbelte er herum, um zu erblicken, wie die vier Bären sich mit kräftigen Tatzenhieben an der Höhlenwand zu schaffen machten.
"Mein Bau!", wimmerte er, als er draußen wieder ein "Hallo!" hörte.
Mit angelegten Ohren wetzte er durch den Höhleneingang, der von den Bären bereits deutlich verbreitert worden war.
"Oh nein!", schimpfte Marvin. "Es kommen mir nicht noch mehr Bären in meinen Bau! Genug ist genug! Und das meine ich ..."
Er verstummte, als er vor seinem Bau angelangt war. Dort erwartete ihn nämlich ein gutes Dutzend verschiedener Bären. Darunter waren viele Schwarzbären, doch einige hatten eine helle Zeichnung, die vermutlich bedeutete, dass sie irgendeiner Unterart angehörten. Die Menge überragte ein riesiger Panda, der Marvin freundlich mit einer Tatze winkte.
"Es ist hier, richtig?", fragte ihn ein grinsender Brillenbär.
"Es ist ... was ist hier?", stammelte der Wolf verwirrt.
"Na, das Treffen!" Der Bär drängelte sich an ihm vorbei in den Wolfsbau. "Ich hoffe, es gibt ordentlich was zu essen. Ich bin am verhungern!"
"Wer ...?", murmelte Marvin.
"Ich bin Zmerk!", rief der Brillenbär über die Schulter. "Und das da sind meine Brüder Zwerk und Dwerk. Dwerk ist der Große." Der Panda winkte erneut. Ein größerer, brauner Bär nickte Marvin zu.
"Wir sind Zwarg, Zwarb und Zwarc", stellten sich drei schwarze Bären mit und ohne Zeichnung vor.
"Und wir sind ...", setzte ein Lippenbär an, da kippte der Wolf ihm gegenüber in Ohnmacht.
"Oh", meinte Gwerg. "Na egal, gehen wir rein, Gwerf."
Als Marvin einige Minuten später blinzelnd zu sich kam, beugte sich ein Schatten über ihn. Der Grauwolf hob den Kopf. "Nick ... Ich hatte einen wirklich merkwürdigen Traum."
"Du hast jetzt aber keine Zeit, um zu träumen. Du musst deine Gäste bewirten."
"Gäste?" Marvin sah durch den Eingangstunnel in den Bau. Dort balgten sich zwölf Bären um Knochen, Honig und Beeren. "Dann war es also kein Traum ..."