"Das darf doch nicht wahr sein!", murrte Marvin missmutig.
Der Weltenwanderer neben ihm grinste breit. "Ich finde es witzig."
Die Elben dieser Welt waren tatsächlich Elche.
"Dir gebe ich gleich witzig." Der Wolf sah sich nervös um. Sonderlich viel Zeit blieb ihm nicht. Die Elche marschierten gerade die Reihen der gefesselten Bären ab. Diese - ebenso wie der Weltenwanderer - waren etwas benommen und in etwa fingerdicke, weiße Fäden eingewickelt. Natürlich hatte der Wald auch mit Riesenspinnen aufgewartet. (Die Episode wird aber aus Rücksicht auf Phiobiker hier nur nacherzählt. Es sei gesagt, dass es sehr spinnig und krabbelig wurde, und Marvin die Achtbeiner in einem Rapbattle besiegen musste, um seinen Freunden die Chance zur Flucht zu ermöglichen. Alles also ganz unspektakulär! Doch natürlich war die Flucht zum Scheitern verurteilt, weil die Elb- ähh, Elche aufgetaucht waren.)
"Sag mir lieber, wie ich unsichtbar werde! Assyl ist doch der Ring, richtig? Aber er hilft mir nicht." Marvin warf einen finsteren Blick zu dem roten Kreaich, das ähnlich wie Lyssa sonst bei Marv über seiner linken Schulter schwebte. Anders als Lyssa war Assyl aber die meiste Zeit still und kicherte nur manchmal fies.
"Er ist ein Kreaich", murmelte der Weltenwanderer, nun hochkonzentriert, weil die Elche fast in Hörreichweite waren und Marvin zu entdecken drohten. "Er kann Illusionen erzeugen, oder nicht? Also zum Beispiel deine Umgebung, nur eben ohne Wolf."
"Assyl?" Marvin drehte den Kopf über die Schulter. "Komm schon! Irgendwer muss die Bären gleich befreien."
Die Schritte der Elche kamen näher. Auf den langen Beinen, die in großen Hufen endeten, wirkten die Hirsche ein wenig albern. Marvin kauerte sich an den Boden und sah zu dem Gehörnten auf, der spöttisch auf ihn herabsah.
"Wer will hier jemanden befreien?"
Marvin schluckte. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, ergriff der Weltenwanderer das Wort: "Befreien? Ich habe doch nicht von Befreien gesprochen, sondern von ... Laien."
Der Elch schnaubte. Er beugte den Kopf herab, über Marvin hinweg, und zog die Spinnfäden um den Menschen fester. "Du wirst jedenfalls niemanden befreien. Mitkommen! Ihr alle!"
Die Barthaare des Elchs berührten Marvins Rückenfell, und den Hufen konnte er nur mit Mühe ausweichen, als der Riesenhirsch sich drehte.
Den Grauwolf beachtete der Elch nicht. Er konnte ihn nicht sehen!
Ungläubig blieb Marvin noch einen Moment hocken, während sich die Bären und der Weltenwanderer im Gänsemarsch in Bewegung setzten. Dann riss er sich zusammen und eilte seinen Gefährten hinterher. Er dachte allerdings daran, Assyl ein leises 'Danke!' zuzuwerfen. Das Kreaich mochte zwar fies sein, aber man konnte sich auf es verlassen.
Die Elche führten ihre Gefangenen und den unsichtbaren Grauwolf immer tiefer in den Wald. Dieser ähnelte zunächst dem Wald, wie Marvin ihn aus den Filmen kannte: Moosüberwachsene, alte Laubbäume, knorrige, gedrungene Stämme und ein zerklüftetes, von Steinen beherrschtes Land. Doch dann bemerkte Marvin immer mehr Tannen, die sich klammheimlich in den Wald mischten. Das Gelände fiel erst steil, dann immer sanfter ab. Der Boden unter seinen Pfoten wurde noch moosiger, ein wenig feuchter und schließlich morastig.
Die Bäume wichen zurück und stattdessen sah Marvin ein Moor vor sich, bewachsen mit rötlichem Gras und niedrigen Sträuchern, mit flachen Wassertümpeln zwischen kleinen Erdhügeln und Pflanzenpolstern. Im Hintergrund war ein größerer See zu erkennen, der nahezu am Fuß eines einsam stehenden, großen Berges lag.
"Seestadt", murmelte der Wolf. "Und der Einsame Berg." Er sah zu Assyl. "Viel übersichtlicher als im Original, denkst du nicht?"
Das Kreaich schwieg beharrlich.
Marvin plauderte trotzdem weiter. Die Reise hierher hatte etwa zwei Stunden gedauert und nach der langen Zeit unter Bären war er auf Lärm-Entzug. "Ich frage mich, wo die Elche sie einsperren wollen. Zellen oder ein Waldlandschloss sehe ich jedenfalls nicht. Das wird vermutlich ein Klacks. Wir beide gegen eine Horde Elche ... Wir sind ein gutes Team!"
Assyl schwieg noch immer.
"Jedenfalls können sie ja nichts machen. Hier sind nicht mal Zäu..."
Der Rest der selbstbewussten Aussage kleckerte in die entsetzte Stille, als Marvin sah, wie die Elche ihr Geweih hinter den Bären in den Boden rammten und dann eine Art geflochtenen Zaun aus der Erde hoben. Ein paar Seile wurden festgezurrt, und vor Marvin erhoben sich mit einem Mal Gänge, Zimmer, eine große Halle und vor allem eine Menge bewachter Flure.
"Das darf doch nicht wahr sein!", wimmerte er. "Das ist völlig unfair!"
Assyl kicherte hämisch.
Leise schlich Marvin durch die Moosgänge. Die Wände aus Seetang waren erstaunlich stabil. Sie erinnerten an Fischernetze, waren sogar noch ein bisschen dichter, und würden auch dem Schlag einer Bärenpranke standhalten. Wind und Regen hielten sie nicht ab, aber das brauchten Elche ja auch nicht. Deren Köpfe ragten übrigens leicht über die Wände hinaus, vielleicht, damit sich ihre Geweihe nicht verfingen.
Durch die Gitterwände erblickte Marvin einen großen, urzeitlich anmutenden Hirsch, der zu den gefangenen Bären stolzierte. Das war, ohne Frage, der Elchkönig, auch wenn er eher aussah wie das Reittier, das Thranduil im Film gehabt hatte. Die genauen Fragen, die er Herbert und seinem Gefolge stellte, verstand Marvin nicht, wohl aber den wütenden Ruf: "Lasst sie hungern! Mal sehen, wie störrisch sie in zwei Wochen noch sind!"
"Mistkerl", murrte Marvin. "Ich will auf keinen Fall zwei Wochen in dieser Welt festhängen!"
"Und deine Bärenfreunde wirken jetzt schon halb verhungert", warf Assyl so unvermittelt ein, dass Marvin einen Satz machte. "Nach dem Spinnengift waren sie schon ganz schön groggy. Die halten das ohne Nahrung nicht lange aus." Das Kreaich fügte ein hämisches Lachen hinzu.
"Dann werde ich sie eben vorher befreien!", knurrte Marvin. Er sah zu den Elchen, die zu zehnt um den Käfig der Bären standen, und verdrängte die Sorge, weil er keine Ahnung hatte, wie er unbemerkt an den zehn Wachen und noch dazu allen anderen Elchen vorbeikommen sollte. Mit dem Hinweg hätte er keine Probleme, aber wie sollte er zusammen mit den Bären entkommen?
"Dann such mal besser den Weinkeller", riet Assyl ihm.
"Weinkeller? Wo soll es denn hier einen Weinkeller geben? Das ist ein Sumpf! Sümpfe haben zwar oft Affinität zu Wein, besonders die guten, aber hier ..."
"Und mach vielleicht nicht alle Elche auf uns aufmerksam", setzte Assyl hinzu.
Marvin klappte das Maul zu. Er war unsichtbar, nicht unhörbar - hatte er vergessen.