Nach einer weiteren Nacht im Wald führte der Weg Marvin und die dreizehn Bären an den Fuß eines hohen Gebirges. Die schroffen Klippen bestanden aus schwarzem Gestein. Gerade, als Marvin den Blick zu den Klippen hob, donnerte es, und der ohnehin verhangene Himmel wurde noch etwas dunkler.
"Ein Sturm zieht auf", murmelte Nick besorgt und verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. "Ich denke, da gehen wir besser nach einem schönen, heißen Tee hin."
"Tee?" Der Grauwolf an Nicks Seite spitzte erfreut die Ohren. Er mochte das Wort. Es versprach kuschelige Wärme und leckere Getränke. Und sicher würde es auch Brotchips geben!
"Hier müssten eigentlich Elben leben, die einen wirklich herrlichen Tee machen."
"Es gibt hier also doch Elben?" Marvin war beleidigt. Nick hatte ihn angelogen!
Nick streckte sich. "Ich gehe besser alleine. Sie sind sehr scheu. Aber ich bringe uns einen guten Tee mit."
Marvin nickte bei der Aussicht begeistert. Er konnte sogar damit leben, eine Weile mit den Bären allein zu sein, während Nick den Tee holte.
Der einäugige Mensch rief Herbert zu, was er vorhatte, dann marschierte er in den Wald hinein. Marvin folgte den Bären, die langsam weiterzogen - um einen trockenen Rastplatz zu finden, wie er dachte. Doch nach einer Weile fand er, dass sie schon ziemlich weit gelaufen waren.
Er wieselte zwischen den Bären hindurch nach vorne. "Herbert? Sollten wir nicht warten?"
Der große Höhlenbär sah verdutzt auf ihn herab. "Wieso?"
"Na, auf Nick? Mit dem Tee? Sonst findet er uns ja nicht."
Herbert schnaubte. "Ich warte doch nicht auf einen, der nicht mehr zurückkommt."
"Nicht mehr zurück?" Marvin sah nach hinten. "Nick meinte doch, dass er nur kurz zu den Elben geht, um uns Tee zu holen! Er ist gleich wieder da."
Herbert schüttelte den Kopf und klang beinahe mitleidig, als er sagte: "Marvin. 'Er hat sich zu den Elben aufgemacht' ist das neue Zigarettenholen. Nick hat einen Blick auf das Gebirge geworfen, und auf den aufziehenden Sturm, und hat entschieden, dass ihm das zu anstrengend wird. Er hat uns im Stich gelassen."
"Das würde Nick nicht tun!", brachte der Grauwolf winselnd hervor.
"Das tun sie alle", widersprach Herbert Bienenspeer. "Weißt du, für uns Bären ist das normal. Wir sehen einen anstrengenden Aufstieg und wissen, dass wir ihn wagen müssen. Immerhin, welche andere Wahl haben wir? Wenn wir jemals nach Hause wollen, müssen wir dem Weg folgen, so beschwerlich er auch sein mag.
Aber für Nick ist das anders. Er denkt an seine gemütliche Raumstation oder seine riesige, moderne Geheimbasis und fragt sich, wieso er nicht lieber dort ist, als sich im strömenden Regen durch ein menschenverseuchtes Gebirge zu kämpfen! Dann wägt er diese beiden Vorstellungen ab und das Zuhause gewinnt. Ich kann es ihm nicht einmal verdenken."
Herbert seufzte schwer. "Alle lassen sie uns im Stich. Selbst unser eigenes Volk. Diese hier", er wies mit der Schnauze zu den zwölf übrigen Bären, "sind die einzigen, denen ich vertrauen kann. Sie folgen mir, durch alle Mühsal."
Nachdenklich sah der Höhlenbär auf Marvin herab, als fragte er sich, was der Grauwolf zwischen diesen tapferen Bären zu suchen hatte. Marvin fragte sich das in diesem Moment auch. Nick hatte ihn einfach ungefragt auf dieses Abenteuer eingeladen. Er war nicht einmal freiwillig hier! Und jetzt hatte sich Nick auch noch davongemacht.
Wieso sollte er also bei den Bären bleiben und sich Mühen stellen, die selbst die meisten Bären nicht auf sich nehmen würden?
Marvin dachte intensiv darüber nach, einfach umzukehren. Während er nachdachte, trugen seine Pfoten ihn jedoch vorwärts, und ehe er sich versah, befand er sich zwischen den Bären auf einem Gebirgspfad und strömender Regen setzte ein, der ihre Pelze bis auf die Knochen durchweichte.
Ab da ging es eigentlich nur noch darum, eine Pfote vor die andere zu setzen, ohne abzurutschen. Marvin klapperte ordentlich mit den Zähnen, während sie durch schmale Wege marschierten, bis zum Bauch - im Falle des Grauwolfs bis zur Schulter - in strömenden Bächen der Regenflut. Dann ging es über einen ungesicherten Pfad an einer Stielklippe weiter, der Marvins Höhenangst ganz neue Nuancen verpasste. Der Grauwolf war sich sicher, sterben zu müssen, wenn Blitze über ihm zuckten und Gerölllawinen auf die durchnässte Truppe regnen ließen. Ab und zu polterte es, als wären sie mitten in einer Schlacht von Titanen.
Endlich entdeckte Herbert eine Höhle, in die sie sich zurückzogen.
"Sucht alles ab!", befahl er den Bären. "Wir sind hier im Menschengebiet. Da ist kein Flecken Erde unbewohnt."
Hwirg und Zwirg, die beiden Eisbären, zogen auch sogleich los, um jeden Winkel abzusuchen, während sich der Rest den Regen aus dem Pelz schüttelte und die Pfoten vertrat.
"Hier ist nichts", berichteten die Eisbären wenig später. "Alles sauber."
"Hoffen wir, dass das so bleibt. Ich brauche keine Begegnung mit Menschen", brummte Herbert und ließ sich schwer auf den Boden fallen.
Die erschöpften Bären setzten sich oder legten sich gar hin, wo sie standen. Innerhalb von Minuten hatten sie einen dichten Pelzberg gebildet und dösten erleichtert.
Marvin hockte etwas abseits und zitterte vor Nässe. Elendig sah er zum Ausgang, wo der Regen strömte, als sich ein Bär neben ihn setzte. Es war Zmerk, der Brillenbär. Er war allgemein ein rechter Scherzkeks, aber jetzt musterte er den Wolf ernst. "Alles gut?"
Marvin nickte. "Ja, ich habe nur ... Heimweh." Er wich dem Blick des Bären aus.
"Heimweh. Muss ein schönes Gefühl sein."
"Nicht wirklich", sagte der Wolf leise.
"Aber der Gedanke, ein Zuhause zu haben, in das du zurückkehren kannst? Das ist doch viel wert."
"Ja, schon. Natürlich! Aber der Gedanke, dass ich vielleicht nie mehr zurückkommen kann, macht mir Angst."
"Was hast du denn zu befürchten? Ich denke, du bist ein mächtiger Held. Wir müssten viel mehr Angst haben."
Marvin schwieg - genau darum kreisten seine Gedanken seit einer Weile. Er wusste, dass er in einer Hobbit-Parodie war. Und im Hobbit würden drei Personen sterben ... Musste er das hier auch befürchten? Würde er Herbert, Hwirg und Zwirg eines Tages sterben sehen?
Und wenn ja, wie sollte er das verkraften? Schon jetzt mochte er diese brummigen Bären irgendwie. Wenn er mit ihnen zog und sie starben, würde ein Teil von ihm bei ihnen bleiben. Selbst wenn er den Weg zurück nach Belletristica finden würde - was nicht gesagt war, da Nick ihn ja zurückgelassen hatte - würde er nicht derselbe Wolf sein, der von dort fortgegangen war.
'Das ist dann wohl Charakterentwicklung', dachte er sich in dem Moment, als der Boden unter ihnen nachgab und sie in die Tiefe stürzten.