Nick tauchte nicht wieder auf. Marvin begann, sich im Kreise der dreizehn Bären höchst unwohl zu fühlen. Das müsst ihr euch einmal vor Augen führen! Marvin war ja ein eher kleiner, schmächtiger Grauwolf, und nun saß er mitten in einem fremden Wald mit riesigen Bären und ihren wilden Geschichten von Kämpfen gegen Menschen. Wer würde sich da nicht etwas einsam fühlen?
Je weiter die Nacht voranschritt, desto deutlicher schimmerte ein ferner, oranger Schein durch die Tannen. Nach einer Weile wurde Marvin unruhig und ging zu den einzigen Bären, denen er halbwegs vertraute: Hwirg und Zwirg, den beiden kleineren Eisbären, die lieber herumalberten als grimmig dreinzublicken.
"Seht ihr das auch?", fragte er sie besorgt.
Die beiden weißen Bären spähten zum Wald. "Oh. Ja, das sollten wir uns ansehen." Hwirg ging los.
Marvin atmete auf, erleichtert, dass sich um die Sache gekümmert werden würde. Da klopfte Zwirg ihm auf den Rücken. "Kommst du, Wolf?"
"W-wer, ich?"
Zwirg packte den entsetzten Grauwolf kurzerhand im Nacken und trug ihn mit sich.
Sie pirschten sich in einem Bogen an den Lichtschein heran und erblickten schließlich drei wahrlich grausige Gestalten, die um ein Feuer herumsaßen und lärmten.
"Was ist das?", flüsterte Marvin mit bebender Stimme.
"Trolle", brummte Hwirg finster - Zwirg hatte das Maul voll gesträubtem Wolfsfell. "Finstere Kreaturen."
Geduckt lauschten sie den dreien.
"Das liegt an diesen ganzen Chemtrails", erklärte der erste. "Die werden von denen da oben versprüht, um unsereins ruhig zu halten!"
"Das ist genau wie in diesem einen Film, Soylent Green, wo am Ende ...", setzte der zweite an. Ein heftiger Windzug brauste plötzlich durch die Blätter und zensierte diesen fiesen Spoiler.
"Diese Zicke will nur Aufmerksamkeit", befand der dritte Troll und seufzte. "Sie war ja eh nicht hübsch! Hat ihr Aussehen nur ausgenutzt, um sich Leistungen zu erschleichen, aber wenn man nett zu ihr war, hat sie sich nicht auf dich eingelassen. Und wie die sich angezogen hat!"
"Genau, Bruder. Das war nicht die Richtige. Das wollten die Reptiloiden dir nur einreden", erklärte wieder der erste Troll.
Hwirg und Zwirg warfen einander einen ernsten Blick zu. "Trolle. Die verpesten noch den ganzen Wald. Wir müssen sie ausschalten."
Dann sahen die beiden Eisbären Marvin an und grinsten. "Das wäre doch eine tolle Übung für dich!"
"M-mich?"
"Ja, so als Kämpfer und so." Zwirg hatte ihn abgesetzt und nickte ermutigend.
"Herbert wirft dich sonst noch raus", bekräftigte Hwirg.
Marvin schluckte. Er wollte auch sicherlich nicht von den Bären alleine in einem trollversuchten Wald zurückgelassen werden. Er machte vorsichtig ein paar Schritte vor.
"Trolle sind dumm", gab ihm Hwirg noch mit auf den Weg. "Und du bist so klein. Du kannst dich sicher leise an ihnen vorbeischleichen."
Marvin schluckte und beschloss, extra leise zu schleichen. Und so robbte er im Schutz der Büsche voran.
Als er fast bei den Trollen angekommen war, fiel ihm auf, dass er gar nicht wusste, was er jetzt tun sollte. Die Trolle konnte er ja nicht allein besiegen!
Diese unterbrachen ihren Streit - ob das Ende von Game of Thrones von den Feministen oder den Illuminati so schlecht gemacht worden war - und blickten den Wolf an.
"Äh. Hallo", sagte Marvin, während ihm Entsetzen von der Nasen- bis zur Schwanzspitze durch den Körper jagte.
"Was is'n das?", fragte der Sexisten-Troll.
"Ein verkleideter Reptiloid!"
"Ein Werwolf!"
Marvin blinzelte die Trolle an. "Genau, ich bin ... ähh ... ein Wer-Reptiloid! Füüürchtet mich!"
Die Trolle streckten ihre Klauen nach ihm aus. Marvin machte mit einem panischen Japsen einen Sprung zurück, doch er war nicht schnell genug.
"Sind hier noch mehr von deiner Sorte in der Nähe?", fragte der Verschwörungs-Troll und hob ihn an den Hinterbeinen hoch.
"Ja. Also nein!" Panisch und kopfüber sah Marvin sich um. "Hört mal, könnt ihr mich nicht einfach runter lassen? Dann vergessen wir das hier alles."
"Vergessen?", holt der Spoiler-Troll aus. "So wie der Psychiator in", Blätterrauschen, "vergessen hat, dass er eigentlich", eine sehr laute Haselnuss fällt zu Boden, "ist?"
Marvin starrte den Troll ratlos an. "Ja ...?"
"Er ist ein Blitzdingser!", verkündete der Troll wütend.
"Ein was?", quiekte Marvin.
Die Trolle sahen überaus zornig aus. Wütend genug, um aus einem runden Wolf einen sehr flacherdenförmigen Bettvorleger zu machen.
Glücklicherweise nahte in diesem Moment die Rettung in Form einer Horde aus dreizehn wütend brüllenden Bären.
"Herbert!", rief Marvin erleichtert. "Da seid ihr ja!"
"Oh nein, die linksgrünversifften Gutmenschenkrieger!", rief der Sexistentroll, der offenbar nicht richtig hingeguckt hatte.
Ein epischer Kampf entbrannte. Fünf Minuten später lagen alle Bären gefesselt auf der Erde.
"Wie bitte? Wie konnte das denn passieren?", schimpfte Marvin.
"Das liegt an den Trollen", erklärte der weise Braunbär Zjerg. "Wenn man Trolle angreift, macht sie das nur noch stärker."
Marvin stöhnte und wünschte sich eine menschliche Hand für einen Facepalm.
"Wie sollen wir sie assimilieren?", fragte jetzt der Sexistentroll.
"Wir könnten ihnen YouTube-Videos von Experten zeigen", schlug der Verschwörungstroll vor.
"Oder sie in eine Telegram-Gruppe einladen." Das war der Sexistentroll.
"Oder wir verkaufen ihnen ein pdf!" Der Spoilertroll.
Marvin hatte eine Idee. "Wisst ihr, was auch immer sehr überzeugt? Wenn man mit Freunden redet. Ihr könntet unsere Freunde werden und uns dann überzeugen."
"Was machst du da?", zischte Herbert ihm entgeistert zu.
"Vertraut mir!", flüsterte Marvin und erklärte den Trollen lauter: "Wie wäre es, wenn wir ein paar Anekdoten aus unserer Vergangenheit austauschen?"
"Du willst unser Freund sein?", fragte der Spoilertroll verdattert. Tränen schimmerten in seinen Augen. "So richtig befreundet?"
"Aber ja." Marvin lächelte. "Ihr seid sicherlich keine üblen Kerle."
"Cancelt ihn!", zischte ein Bär in seinem Rücken giftig. "Er verbrüdert sich mit dem Feind!"
"Es ist ja bestimmt auch kein leichtes Leben, so als Troll", fuhr Marvin mitleidig fort und ignorierte, dass ihm das ganze Abenteuer langsam zu real vorkam.
Jetzt nickte der Sexistentroll. "Ich kriege einfach keine Trollin ab. Dabei sehne ich mich nur nach etwas Zärtlichkeit. Ich möchte eigentlich nur mit jemandem reden und vielleicht Händchen halten." Er schluchzte auf. "Aber alle sagen, ich bin hässlich!"
Marvin hüpfte mit gefesselten Pfoten zu ihm. "Lass ruhig alles raus."
"Danke!", heulte der Troll und schnäuzte sich in das graue Fell.
"Meine Mami hat mich nie geliebt", gestand der Verschwörungstroll mit bebender Unterlippe samt Hauern.
Während die Trolle sich weinend ansahen, erklang mit einem Mal eine laute Stimme: "Der Tag soll euch treffen!"
Im nächsten Moment flutete Sonnenlicht den Platz um das kleine Feuer. Die Trolle schrien auf und fuhren in die Höhe, doch noch in der Bewegung erstarrten sie zu Stein.
Marvin und die gefesselten Bären sahen sich verwirrt um, als Nick Calm zwischen die neuen und ausgesprochen hässlichen Statuen geschlendert kam.
"Du?", fragte Marvin.
"Oh, ihr müsst mir nicht danken." Nick grinste breit. "Trolle können nur in Heimlichkeit und Dunkelheit wirken, müsst ihr wissen. Im offenen Licht zerfällt ihr Selbstbewusstsein sofort. Du hast übrigens gut Zeit geschunden, Marv."
"Du hast sie einfach getötet!", entfuhr es dem Grauwolf entsetzt.
"Gern geschehen!"