"Sucht weiter!", brüllte Marv. "Ich will, dass dieses Buch gefunden wird!"
Marvin - der das gesuchte Arkenbuch entdeckt und rasch an einer Tanne vergraben hatte - zuckte zusammen.
Genau wie die restlichen Mitglieder der kleinen Unternehmung durchwühlte er den zurückgelassenen Drachenschatz, seit sie gesehen hatten, wie der Drache gestorben war. Das Arkenbuch war natürlich nicht aufgetaucht. Je länger es verschollen blieb, desto gereizter wurde Marv.
Marvin machte sich inzwischen ziemliche Sorgen. Sie hatten den Bücherstapel einmal durchkämmt und immer noch nichts gefunden. Langsam musste Marv Verdacht schöpfen. Marv kannte das Original fast auswendig!
Halbherzig schob Marvin Bücher durch die Gegend, während er sich umsah und verzweifelt nach einer Lösung suchte.
Um ihn her suchten die Pseudonyme und Bären ...
Moment mal! Marvin hob den Kopf und sah sich genauer um. Da waren gar keine Bären mehr! Er sah nur noch Pseudonyme.
Rasch zählte er durch. Er kam auf dreizehn andere Wesen, aber darunter war kein Bär, weder Braun- noch Lippen- noch Panda-.
Er sah genauer hin und entdeckte den Weltenwanderer und Todo. Rasch flitzte er zu den beiden herüber.
"Was macht ihr hier?"
"Das Buch suchen."
"Seit wann?"
"Ähh ... seit Herbert sagte ..."
"Nein, ihr beide. Wir müssen uns doch jetzt nicht mehr verstellen!" Marvin hüpfte aufgeregt. "Was unternehmen wir? Marv muss zur Vernunft gebracht werden. Ich habe das Arkenbuch versteckt, aber irgendwann wird es ..."
"Du hast was?", brüllte Todo.
Marvin stockte. Er starrte in die wütenden Gesichter der beiden Pseudonyme.
"Ich habe das Gefühl, es war keine so gute Idee, euch das zu sagen", murmelte er. "Können wir so tun, als wäre nichts passiert, und nochmal neu anfangen?"
Der Weltenreisende drehte sich um. "Marv!", rief er. "Wir haben das Buch!"
Wenig später buddelte Marvin unter den strengen Blicken seiner Gefährten am Fuß der Tanne. Das Buch kam zum Vorschein. Sein Einband leuchtete silbrig im Mondschein.
"Was hast du dir dabei gedacht?", knurrte Marv und schnappte sich das Buch.
"Ich wollte doch nur ..." Marvin ließ den Kopf hängen. Er schielte zu seinem Pseudonymen. Wieso unterstützten sie ihn denn nicht?
Marv schlug das Buch auf und starrte auf den Inhalt. Lyssa und Sylas schwebten witternd näher.
"Riecht ihr das? Kreativität!", flüsterte Lyssa.
Sogar Assyl wagte sich weiter vor. Der Weltenreisende und der Weltenwanderer hockten sich Seite an Seite über das Buch.
Nach einer Weile reckte Marvin schließlich den Hals. "Was ist denn? Was steht da?"
Seine Gefährten blinzelten, als hätten sie seine Anwesenheit vergessen.
"Warte, ich zeige es dir!", rief Marv und setzte die Pfote auf das Buch. "Dieser prächtige Band bewahrt die Geschichte dieser Welt und ihrer vielfältigen Lebensformen - den Arken."
"Ar...ken?" Ehe Marvin jedoch eine Frage formulieren konnte, erbebte der Boden. Es rumpelte. Vor den staunenden bis erstaunten Blicken der Pseudonyme brachen mit einem Mal spitze Dächer durch das Erdreich, schoben Steine beiseite und wuchsen in den Himmel. Dann folgte ein verwinkeltes Burggemäuer, mit Schießscharten, Fenstern, Wehrgängen, prächtigen Zinnen. Außen Festungsanlage, innen Palast. Die äußere Burgmauer schob sich unter Marvins Pfoten und die Pseudonyme und hob sie hinauf. Die Tannen auf dem verbrannten Land waren verschont worden, denn sie standen wie zufällig auf Innenhöfen und Gärten innerhalb der Burg. Nun erblühten sie von einem Moment auf den anderen, trugen kleine, blaue Blüten zwischen den Nadeln, während sich vor der Burg ein tiefer Graben durch das Land fraß.
Als der Lärm verhallte, stand die Gruppe auf dem äußersten Ring einer weitläufigen, prächtigen Anlage mit blühenden Kräutergärten. Hier und da lagen ein paar Bücher verstreut, Reste des Drachenschatzes, doch überall sonst glänzten blaue Dächer im Sternenschimmer. Fackeln waren entzündet, durch die Fenster fiel warmer Lichtschein nach draußen, und neben den Torbögen erkannte Marvin unglaublich detaillierte Steinstatuen von Bären in mächtigen Rüstungen, mit großen, heldenhaft aussehenden Waffen in den Pranken. Jedes Haar musste einzeln gemeißelt worden sein.
In den Steinaugen schien Feuer zu glühen. Die breiten Wege verliefen kreuz und quer, gepflastert mit hübschen Mosaiken. Die Mauern waren dick und schwer, aber keinesfalls klobig. Vorspringende Türme durchbrachen das Band der Wehranlage, und auf den Zinnen hockten Nachbildungen großer Raben wie Gargoyles.
Außerdem gab es eine kleinere Art Bärenstatue, die mit gesenktem Haupt eine flache Schale hielt, in der eine Flamme flackerte, ohne zu erlöschen. Der Duft von Honig lag schwer in der Luft. Marvin vermisste lediglich die Geräusche und Gerüche des großen Hofstaats, der hier eigentlich leben müsste.
"Was ... ist das?", fragte er nach einer Weile. "Wo kommt die Burg her?"
"Die Burg war schon immer da. Nun ist sie zurückgekehrt. Das, mein Freund, ist Sternenzinne, die Trutzburg im Finsterwald, und das Herzstück des Bärenreichs." Marv sah lächelnd von dem Buch auf. "Der Wohnsitz der mächtigsten Bärenfamilie, der Bienenspeers."
"Bienenspeer ... die Bienenkörbe ... Aber das heißt ja, die Bären hier sind anthropomorph! Wieso war Herbert dann nur ein gewöhnlicher Bär?"
"Es liegt an diesem Buch." Marv tippte wieder mit der Pfote darauf. "Der Drache hat dieser Welt ihre Seele gestohlen, das hat Herbert dir doch gesagt. Das hier ist, wie die Welt eigentlich überall aussah. Es ist ein Land voller Geschichte, mit Tiercharakteren, die Kleidung tragen, Waffen nutzen und Schmuck von berauschender Schönheit herstellen. Die ihre eigenen Konflikte und Kriege haben, ihre Familien und Geschichten, ihre Legenden, Träume, Wünsche ... Und eigene Namen, denn selbst diese hat Feitaerk, der Unheimliche, ihnen gestohlen. Oder dachtest du, die Bären würden wirklich alle Zwerg, Zwirg und Zwarg heißen?"
"Ich ... das ergibt Sinn."
"Dieses Buch enthält die Geschichte dieser Welt, wie ich bereits sagte. Es ist die Chronik der Arken, deren Ahnenstämme länger zurückreichen als Menschen existieren. Aus Zeiten, als die Welt noch jung und unschuldig war, durch mehr als eine Dunkelheit hindurch hat dieses Buch überdauert, denn es ist getränkt im Licht der ältesten Mondquelle und kann weder verbrannt noch zerrissen werden. Mit der Macht des Arkenbuches kann die Welt zurückkehren, können die Elche und Biber, Trolle und Menschen wieder das werden, was sie sein müssen."
Ein fernes Brüllen erklang. Verwirrt wirbelten die Pseudonyme herum und erblickten auf dem Pfad zu den Toren der zurückgerufenen Burg eine Horde aus Pelz und Schultern. Aus dem Zwielicht des Finsterwaldes traten sie: Bären aller Farben und Größen, zwar ungerüstet und waffenlos, aber eindeutig kampfbereit. Als ihre Schritte im Gleichmarsch den Wall heraufdrangen, konnte sich Marvin mit einem Mal lebhaft vorstellen, wie so eine Armee der alten Zeit ausgesehen haben musste: Unvorstellbar schön, schrecklich und gefährlich! Eine Macht, die ganze Länder überrollen konnte.
"Wo kommen sie her?"
"Sie folgten dem Ruf ihres Königs", antwortete Marv. "Herbert Bienenspeer rief sie zurück ins Königreich der Bären!"
Banner entfalteten sich auf der Sternenzinne, silbrige Banner mit einer blauen Tanne unter einem blauen, großen Stern. Ein Schauer kroch durch Marvins Fell.
"Mit dem Arkenbuch kann die Welt zurückkehren", wiederholte er flüsternd.
"Genau", sagte Marv und klappte das Buch zu. "Und diese Macht gehört nun allein mir!"