Marvin fühlte sich verraten. Auch wenn es möglicherweise seine eigene Schuld war, weil er etwas als selbstverständlich angesehen hatte, was nicht selbstverständlich war.
Er war davon ausgegangen, dass er sich immer auf den Boden verlassen könnte. Dieser war, wie man so schön sagte, immer da, wenn man fiel.
Diesmal fiel er allerdings, und der Boden war nicht da. Das plötzliche Verschwinden des Bodens war, ganz im Gegenteil, sogar für diesen Sturz verantwortlich.
Das fand der Grauwolf ziemlich hinterhältig.
Gemeinsam mit 13 Bären purzelte er eine Art Steinrutsche entlang, was nicht halb so spaßig war, wie der Begriff 'Rutsche' möglicherweise nahelegt. Glücklicherweise war Marvin ein recht kleiner Grauwolf und damit leichter. So landete er am Ende der Purzelei glücklich oben auf einem Haufen stöhnender Bären.
Im nächsten Moment allerdings erhob sich schrilles Geschrei. Die Bären, die in einer Art großem Korb gelandet waren, hoben verwundert die Köpfe, als speerbewaffnete Menschen über eine Steinbrücke auf sie zu liefen und dabei kreischten, brüllten und allgemein ziemlichen Menschenlärm veranstalteten.
Mit Peitschenknallen und Stockschlägen wurden die Bären angetrieben. Durch ein Spalier aus wedelnden Zweibeinern mussten sie der Brücke tiefer in eine große Höhle hinein folgen. Nachdem sich alle aus dem Knäuel befreit hatten, landete Marvin ziemlich weit hinten in der Reihe der gereizt brummenden Bären. Während die Menschen ihre pelzigen, unfreiwilligen Gäste vorwärts jagten, beachtete niemand einen kleinen, grauen Wolf. Marvin überlegte kurz, ob er besser bei seinen Gefährten bleiben und ihnen helfen sollte. Dann fing ein leerstehendes Fass seinen Blick ein und im nächsten Moment saß er auch schon darin und spähte durch ein Loch hinter der Gruppe her.
Rasch wurde der Lärm der Menschen leiser, als sie sich mit der Bärengruppe entfernten.
An anderer Stelle im gleichen Berg robbte ein weiterer Grauwolf durch einen engen Gang, gefolgt von einer bunten Truppe quirliger Charaktere.
"Sicher, dass wir hier richtig sind?", murmelte Timofei nervös. Nur die Stielaugen lugten aus dem bunten Häuschen des Einsiedlerkrebses.
"Weltenreisender und Weltenwanderer waren sich absolut sicher, dass Nicks Portal hierher führt", murmelte Marv.
"Und dieses Vakuum mit den Charakteren, das funktioniert auch auf jeden Fall?"
Marv legte die Ohren an. "Natürlich. Todsicher. Absolut zweifelsfrei." Er hielt inne und lauschte. Dann leuchteten seine Augen auf. "Hört ihr das? Klingt nach Plot!"
"Das ist Zirkusmusik", stellte Xenon fest.
"Na, auf jeden Fall müssen wir einfach der Musik nach." Mit hocherhobenem Kopf trabte Marv schwungvoll los.
Der Rest der Pseudonyme tauschte besorgte Blicke, dann folgten sie dem Grauwolf.
Ihr Weg führte sie auf einen schmalen Sims am oberen Rand einer besonders hohen Höhle. Xenons Augen glänzten, als der kleine Otter den riesigen Flugbereich erblickte. Man könnte schwören, dass er ein wenig sabberte. Währenddessen sah Marv eher nervös in die schwindelerregende Tiefe.
Weiter unten zogen sich einige natürliche Steinbögen wie Brücken zu einem großen, mittleren Plateau, das auf allen Seiten von steilen Abhängen umringt war. Der Thron war geschmückt mit einem rotweißen Zirkuszelt und Tribünen, auf denen überall Menschen saßen. Ein besonders großer Mensch - vielleicht eher ein Troll, das ließ sich von oben nicht so gut sagen - turnte mit Zylinder und Peitsche herum und trieb eine Horde Bären zusammen, die in Ketten gelegt wurden und zur Musik tanzen mussten.
Falls man von Musik sprechen konnte.
"Unter'm Berg, wo wir uns treffen,
woll'n wir unser'n Feind nachäffen,
woll'n wir uns're Scherze treiben,
und uns Speisen einverleiben.
In Menschstadt wird gefeiert heut',
kommt, von nah und fern, ihr Leut'."
So und noch grässlicher hallte es zum Klang von misstönenden Tröten, schräbbelnden Geigen und blechernen Schlagzeugen. Es gab auch noch eine Menge Zeilen über die Folter, die den Feinden der Menschen angedacht war. Vom Springen durch brennende Reifen über den bereits erwähnten Tanz zum Balancieren von Bällen auf der Nase. Die armen Bären sahen sich verzweifelt um, auf der Suche nach einem Ausweg.
Das Pseudonymkommando spähte nervös in die Tiefe. Nivram - Marvins Spiegelwelt-Doppelgänger - rutschte sogar ab und suchte mit kratzenden Pfoten nach Halt. Niemand beachtete ihn.
"Wo sind denn die Zwerge?", fragte Marv verdutzt. "Die leicht zu entführenden, nicht besonders gefährlichen Zwerge? Die uns nicht den geringsten Ärger machen werden?"
"Also, erstens, ich glaube, du hast die Filme nicht vernünftig geguckt", sagte der Weltenwanderer streng, der sich in Mittelerde ziemlich gut auskannte, "und zweitens haben wir es hier mit Nick zu tun, also hätten wir vielleicht gar nicht direkt von Zwergen ausgehen müssen. Marvin ist ja auch kein Hobbit, sondern ein Wolf."
"Du meinst, das da sind die Zwerge, die wir ersetzen müssen?", fragte Marv und schluckte. "Diese riesigen Bären?"
"Genau das glaube ich."
"Nein."
Die Pseudonyme starren Marv an.
"Mache ich nicht! Guckt euch die mal an, die bestehen nur aus Pelz und Muskeln! Da würde ich lieber gegen einen Drachen kämpfen."
"Was Marvin bevorsteht, wenn ich dich daran erinnern darf", murmelte der Weltenwanderer.
"Er hat da sicherlich Verständnis und so."
"Aber sicher doch."
Marv schnippte mit einem Ohr und beschloss, den sarkastischen Unterton zu ignorieren. Sarkasmus würde er überleben - einen Kampf gegen einen Bären nicht.
"Eben! Gehen wir besser, um nicht zu stören!" Er wandte sich zurück zu dem Tunnel, den sie hereingekrochen waren - bis auf die beiden Pferde, die sich draußen befanden.
Marv wollte gerade in den Gang kriechen, als ihm etwas auffiel. "Sagt mal, wo ist eigentlich Nivram?"
Marvs Spiegel-Ich blieb allerdings unauffindbar, was dem Grauwolf einiges an Kopfzerbrechen bereitete. Derweil entging ein nahezu identischer Grauwolf mit gelben Augen nur ziemlich knapp einem wortwörtlichen Kopfzerbrechen, als ein Mensch den Deckel auf das scheinbar leere Fass setzte.
Marvin kauerte noch immer in seinem Versteck. Er war so in Gedanken gewesen, dass er die Schritte gar nicht gehört hatte. Zum Glück war auch der Mensch nicht besonders aufmerksam, sodass ihm der Wolfskopf gar nicht auffiel, der aus der Tonne ragte.
Marvin entwich jedoch ein deutlich hörbarer Schrecklaut.
"Ist da wer?", fragte der Mensch verwundert.
Marvin in der Tonne hielt die Luft an und sah nach rechts, dann nach links. "Ähm ... nein?"
"Oh, na dann ..." Der Mensch kippte das Fass von der Steinbrücke.
Marvin schrie auf, als er plötzlich fiel, einer Art Müllkippe am tief unter ihm gelegenen Boden der Höhle entgegen. So schloss sich der Kreis zum Kapitelanfang.
"Wohl nur der Wind", urteilte der Mensch über das schreckerfüllte Heulen.