"Umph."
Zwischen den Splittern des Fasses schlug Marvin auf dem Höhlenboden auf. Glücklicherweise wurde sein Sturz von mehreren großen Pilzen gebremst, sodass er unverletzt auf den Boden rollte.
Er sah nach oben zu der Schlucht, die er soeben herabgefallen war, und überdachte einige Lebensentscheidungen, die ihn zu diesem Nahtoderlebnis geführt hatten.
Nachdem er zu dem Entschluss gekommen war, dass er am liebsten neuladen würde, stand der Grauwolf auf und schüttelte Pilzbruchstückchen aus seinem Pelz. Er sah sich um und ein neuerlicher Schauer lief durch sein Fell.
Er wusste, wo er war. Mit einem hastigen Japsen hüpfte er in das dichte Pilzgesträuch und presste sich flach an den Boden. Mit gespitzten Ohren und angehaltenem Atem wartete er auf Gollums Auftritt.
Und wartete.
Und wartete.
Und ... wartete.
Schließlich hob der Grauwolf zögerlich den Kopf aus den Pilzen. "Hallooo?"
Kein Gollum antwortete ihm. Langsam kroch Marvin aus seiner Deckung. Er sah sich wachsam um. Besonders hell war es hier unten nicht, aber für die Wolfsaugen reichte es. Er konnte einen gewundenen Tunnel erkennen, der tiefer in den Berg führte. Nach oben kam er ohnehin nicht - das würde nur eine Gemse schaffen. Also zuckte Marvin ratlos mit dem Schwanz und tapste langsam los. Seine Ohren waren gespitzt und sein Fell knisterte leise vor Anspannung. Beim kleinsten Geräusch würde er in Deckung springen.
Allerdings gab es kein Geräusch, weder klein noch sonst wie. Unbehelligt wanderte Marvin in die Eingeweide des Menschenlands und kam schließlich an das Ufer eines unterirdischen Sees.
"Ich verstehe!", rief er aus. "Es läuft wie im Buch ab!" Da war Bilbo auch zu Gollum gelaufen statt andersherum.
Von neuem Mut erfüllt trat Marvin an das Seeufer und blickte auf die kalten, schwarzen Wellen. In der Mitte des Sees machte er eine schroffe Insel aus.
Auf dieser saß nichts.
Irritiert drehte Marvin die Ohren in alle Richtungen. Kaltes Wasser spülte gegen seine Pfoten und es war immer noch kein Gollum zu sehen.
Wie würde der Gollum dieser Welt auch aussehen? Smeagol war mal so was wie ein Hobbit gewesen ... Musste Marvin dann mit dem Auftritt eines Hundes rechnen? Das erschien ihm die logischste Möglichkeit. Er schnupperte und glaubte, tatsächlich eine gewisse Hundeduftspur wahrzunehmen. Gut erkennbar an dem Hauch von Halsband und Trockenfutter, der ihr folgte. Aber die Spur war alt.
Suchend sah sich der Grauwolf um. Vielleicht könnte er ja an den Rätseln vorbeischlüpfen und entkommen ... Doch als sein Blick über die Wände wanderte, sah er bestimmt drei Dutzend Höhleneingänge. Und diese verzweigten sich meist noch mehrfach. Das Gebirge war der reinste Schweizer Käse! Wie sollte man sich da denn zurechtfinden?
Marvin wusste, dass auf seinen Orientierungssinn nicht viel Verlass war. Er würde sich hoffnungslos verlaufen! Und ganz fernab von leckeren Brotchips und Tofutieren verhungern! Alleine, nicht einmal Lyssa an seiner Seite!
Vor Entsetzen ließ er sich auf das Hinterteil plumpsen und starrte die Gänge an. Irgendwo tropfte es von der Decke. Wellen plätscherten leise.
"Sag mal, wie lange willst du da noch herumsitzen?", fragte eine Stimme.
Marvin japste, machte einen Satz von mindestens einem Meter Höhe und wirbelte zum Wasser herum.
Noch immer war dort niemand zu sehen. "Häh?", erkundigte er sich eloquent bei der leeren Höhle.
"Hier unten", brummte dieselbe Stimme.
Im wahrsten Sinne dieselbe - es klang fast, als würde Marvins Echo zu ihm zurückgeworfen. Verwirrt trat er ans Wasser und sah auf sein Spiegelbild.
Sein Spiegelbild auf den Wellen zwinkerte ihm zu.
"Nivram!" Der Grauwolf atmete erleichtert aus. "Ich dachte schon, ich werde verrückt!"
"Du bist verrückt." Der Spiegelwolf lachte gutmütig. "Oder was genau machst du hier?"
Das hatte Marvin sich gerade eben noch selbst gefragt, beim Anblick eines gewissen, steilen Abfalls ... "Ich tue Nick einen Gefallen", murmelte er.
Nivram hob spöttisch eine Augenbraue.
"Was machst du überhaupt hier?", lenkte Marvin ab. "Wo ist Gollum?"
"Ich rette dich."
"Aber ... wie?"
"Die beiden Weltis haben uns eingeschleust. Marv hat es erklärt, aber ich habe nicht zugehört. Irgendwie schaffen wir ein Vakuum, indem wir die Originalfiguren entführen und ihren Platz einnehmen. Geschichten sind ja so eine Art Naturkatastrophe. Sie wollen um jeden Preis ablaufen. Aber wer genau jetzt eine Rolle ausfüllt, ist ihnen ziemlich egal."
"Ähh ..." Marvin war nicht sicher, ob er alles verstanden hatte. "Ich kenne die Worte, die du sprichst, aber ..."
"Also, hier braucht es ja einen Gollum, der dir nach draußen hilft, richtig? So läuft die Geschichte."
Marvin nickte.
"Aber wenn kein Gollum da ist ... reicht eine andere komische Gestalt, die dir nach draußen hilft."
"Und das bist du?"
Nivram nickte stolz.
Marvin überlegte einen Moment. "Habt ihr Gollum wehgetan?"
"Oh, nein. Ich habe den ältesten Trick im Buch genutzt. Ein leckerer Schinkenknochen an einer Schnur, der durch einen Gang davonhuscht. Der Idiot ist direkt hinterher. Richtiges Hundehirn."
"Und jetzt ist Gollum irgendwo in den Gängen?"
Nivram nickte erneut. "Was bedeutet, dass wir nicht besonders viel Zeit haben. Das ist so ein Kampfhund, dem willst du sicherlich nicht begegnen. Ist aber zum Glück kurzatmig. So ein Boxer ..."
Marvin blendete den Monolog des Spiegelwolfs aus und schnupperte. Ja, es lag ein Hauch Bacon in der Luft. Dem hätte selbst er nicht widerstehen können.
Er sah wieder auf das Wasser. "Also, wo lang?"
"Ähh." Nivram hatte noch über Hunderassen philosophiert und war überrumpelt. "Was?"
"Du bist doch jetzt mein Gollum. Also, wie komme ich hier raus?"
"Achso, ja, rauskommen ..." Nivrams Gesicht war merkwürdig ausdruckslos. "So weit hatte ich nicht geplant. Weißt du, das Ganze war mehr eine spontane Aktion, weil Marv alles abblasen wollte. Ich dachte ..."
"Du kennst den Weg nicht?", brüllte Marvin. Er sah sich bereits wieder in einer brotchips- und bücherfreien Höhle verhungern. "Und du hast den Einzigen fortgelockt, der es mir hätte sagen könnten?!"
"Also, wenn man es so ausdrückt, ist das jetzt etwas suboptimal gelaufen, aber ..."
"Willst du mir eigentlich helfen oder mich nur in noch mehr Schwierigkeiten bringen?" Dem Grauwolf entwich ein gereiztes Knurren.
Nivram zog den Kopf ein. "Ich kann dir Assyl anbieten, als Licht." Das rote Kreaich schwebte auch direkt aus dem Wasser neben Marvin. Der atmete tief durch und versuchte, sich zu besänftigen. "Dann ... danke für deine Hilfe!" Er machte kehrt und lief auf die Höhle zu.
"Hey! Ich sitze noch im See fest!", rief Nivram aus dem Spiegelbild. "Hallo? Marvin? ... Hallo?!" Mit wachsender Panik versuchte er, die Wasseroberfläche zu durchbrechen. "MAAARVIN! Komm zurück!"
In der Höhle des Sees war es still und dunkel. Assyls roter Lichtschein war verblasst.