Eine längere, von einem unguten Gefühl begleitete Suche später hatten Marv und die Pseudonyme noch immer keine Spur von Nivram. Der graue Graf machte sich zwar ein wenig Sorgen um Nivram, aber viel mehr Sorgen wegen Nivram. Der Spiegelwolf war nun mal das durchtriebenste Pseudonym und es war gut denkbar, dass Vram sich absichtlich davongeschlichen hatte, um Unsinn anzustellen und Chaos zu verbreiten.
Assyl, sein Kreaich und Spiegelbild Lyssas, hatte er mitgenommen. Was bedeutete, dass sich Nivram in Begleitung einer ziemlich mächtigen Waffe befand.
Ratlos hatten sich die Pseudonyme wieder auf dem kleinen Sims in der großen Höhle eingefunden und diskutierten über der Arena, wo die Bären zur Belustigung der Menschen herumhopsen mussten. Ihr Fell war inzwischen sämtlich schweißverklebt - der Vorteil war, dass sie dann nicht mehr so leicht in Brand geraten konnten, wenn man sie durch die Feuerreifen trieb. Besonders ein älterer Bär taumelte vor Erschöpfung.
Marv betrachtete die Szene unten nachdenklich. Marvin befand sich nicht bei den Bären, aber die Szene erkannte er trotzdem. Die Zwerge, vom König der Goblins gefangen genommen. Der Mensch auf dem Thron hatte sogar ein bisschen Ähnlichkeit mit dem Goblinkönig, war aber nicht ganz so groß. Und schien ein paar Tage mehr Sport gemacht zu haben.
"Wandi!", rief er, worauf der Weltenwanderer die angespannte und fruchtlose Diskussion verließ und neben ihn trat. "Was gibt's?"
"Guck mal. Ist es da unten nicht langsam Zeit für einen 'Gandalf ex machina'?"
Der Weltenwanderer sah in die Tiefe und rieb sich das Kinn, was als einziges unter der Hutkrempe zu sehen war. "Meinen Kalkulationen zufolge ist die Szene sogar schon überfällig. Das sieht deutlich dramatischer aus, als es sollte."
Unten rutschte der alte Braunbär von dem großen Ball, auf dem er balancierte.
"Zjerg!", brüllten mehrere der anderen Bären, bevor Peitschenschläge den erschöpften Bären wieder auf die Pranken prügelten. Er hatte eine Art kupfernes Hörrohr verloren. Am Rande der Erschöpfung versuchte er, den Menschen zu entgehen.
"Okay, das erinnert mich jetzt an eine Szene aus 'Harry Potter'", murmelte Marv.
"Wir vermischen hier keine Franchieses", warnte der Weltenwanderer, allerdings vergeblich. Dafür war es schon lange zu spät. "Welche Szene denn?"
"Also, ich sag mal ... Harry wartet die ganze Zeit auf eine bestimmte Rettung, aber die kommt und kommt nicht, und Sirius' Leben ist in Gefahr, und da begreift er ..."
"Was? Marv, was begreift er?"
Marv hüpfte jedoch bereits eine Art natürliche Wendeltreppe hinunter. "Lyssa!", rief er.
Der Weltenwanderer stieß einen zensierten Fluch aus und folgte dem Wolf.
Unten stürzte Zjerg erneut von seinem Ball. Diesmal blieb der betagte Braunbär zum Entsetzen seiner Gefährten liegen. Seine Flanke hob und senkte sich mühsam.
Die Schreie der Menschen klangen in den Bärenohren wie Orkgekreisch. Mehr und mehr rannten auf Zjerg zu. Herbert Bienenspeer zögerte nicht, sondern sprang vor und versuchte, die Gegner mit Prankenhieben aus dem Weg zu schaffen. Doch es waren zu viele Menschen und die Bären bereits zu erschöpft. Die Masse der Gegner erdrückte sie schier. Peitschenhiebe prasselten auf sie nieder. Zjerg mühte sich ab, kam aber nicht auf die Pfoten.
"Expecto Lyssonum!"
Dann explodierte mit einem Mal ein helles, fast weißes Licht mit einem markanten, bläulichen Schimmer. Das Strahlen flutete jeden Winkel der Höhle. Die Menschen heulten erschrocken auf, als Licht auf die Augen dieser finsternisliebenden Kreaturen traf. Entsetzt taumelten sie zurück und fielen.
Einen Moment war es still. Absolut still. Das Licht zog sich nur langsam zurück. Aus dem blauen Nebel schnitt sich eine Gestalt auf zwei Beinen, mit einem Hut.
"Auf!", rief der Fremde in der Sprache der Bären. "Zu den Waffen! Lauft! LAUFT!"
Herbert sah den Mann verwirrt an. Er blinzelte ein paar Mal. Etwas kam ihm merkwürdig vor, aber das dort war ja eindeutig ... "Zjerg?"
"Rasch!", rief Herberts alter Freund. Es blieb dem Anführer der Bären keine Zeit, diesem merkwürdigen Gedanken nachzuhängen, der flüchtig wie ein Déjà-vu verflogen war. Zjerg lief los und die Bären folgten ihrem weisen Anführer, der aus irgendeinem Grund, über den sie sich nicht wunderten, auf zwei Beinen lief.
Das Licht hatte so weit abgenommen, dass die Menschen die Flucht ihrer Gefangenen bemerkten. Mit wildem Geheul setzten sie sich auf die Fersen der Bärentruppe.
Das Geheul drang bis in die Tiefe, wo Marvin im roten Schein von Assyl herumwanderte, sich ab und zu den Kopf stieß und den Eindruck gewann, dass er seinen Orientierungssinn bisher überschätzt hatte. Zwar brachte dieser ihn zuverlässig immer wieder zu dem Teich zurück, aber einen Ausweg aus dem Gewirr an Gängen bot er ihm nicht.
Jedenfalls, bis das Echo von vielstimmigem Geheul und einigen panischen Schreien herunterdrang. Mit herausragendem Gespür erriet Marvin, dass er lediglich dem Tunnel folgen musste, in dem der Lärm am lautesten war, um zu seinen Freunden zu finden. Assyl dicht über seinen Schultern wetzte der Grauwolf los, ab nach oben, wo er die Bären gerade vor sich herausstürmen sah und sich geschickt unter die Gruppe mischte.
"Wo kommst du denn jetzt her?", fragte Herbert Bienenspeer unfreundlich. "Ich dachte, du wolltest uns verlassen. Und wie hast du dich vor der Zirkusshow gedrückt?"
"Ähh ..." Marvin legte die Ohren an. "Lass uns erst mal rennen, ja? Ich erkläre dir das später. Und stelle dir Assyl vor."
"Wen?" Herbert starrte ihn an. Das auffällige, rote Leuchten über Marvin spiegelte sich nicht in seinen Augen - er konnte das Kreaich nicht sehen!
Marvin täuschte einen Hustenanfall vor und lief dann schneller. Er musste sich rasch eine gute Erklärung einfallen lassen.
In der großen Höhle war es still geworden, da sich sämtliche Menschen an die Verfolgung der Bären gemacht hatten. Die Pseudonyme wagten sich langsam nach unten in den leeren Zirkus, wo Zjerg - der echte Zjerg - schnarchend zwischen den verlassenen Tribünen lag.
Marv betrachtete den Braunbären nervös.
"Es hat geklappt, oder?", fragte der Weltenreisende. "Mein Bruder ist jetzt bei den Bären?"
"Sie haben ihn für einen der ihren gehalten." Marv nickte. "Wie genau das geklappt hat, weiß ich allerdings nicht. Es ist halt ... einfach so passiert." Er sah auf und legte entschuldigend ein Ohr an. "Immerhin, der Bär ist gerade keine besonders große Gefahr. Und jetzt ist schon mal einer von uns bei Marvin, um ihm zu helfen."
Die Blicke richteten sich auf Zjerg.
"Was ... machen wir jetzt mit ihm?", sprach Xenon schließlich die offensichtliche Frage aus.
Ebenso offensichtlich wusste keiner eine Antwort.